In jener legendären Debatte im Bayerischen Landtag im Mai 1949, in der Bayerns Landtag mit 101 zu 63 Stimmen bei neun Enthaltungen das Grundgesetz ablehnte und seine Unabhängigkeit trotzdem verlor, versuchte Landtagspräsident Michael Horlacher zu trösten: „Man darf die Dinge nicht so tragisch nehmen, wie sie sind“. Und so stoßen die unvermeidliche Kanzlerkandidatin und ein Herausforderer aufeinander, der deshalb zum unvermeidlichen Gewinner werden könnte.
Die Wiederkehr des Dialekts
Irgendwie erinnert mich die Lage der CDU an diese Spruchweisheit. Sie nimmt Martin Schulz nicht so tragisch, wie er ist. Was eingefallen ist ihr aber noch nicht. Dass VW Sozialdemokraten fürstlich entlohnt, ist auch nicht neu. Aber Schulz, der auch ohne Sitzungstage Sitzungsgelder kassierte, wird nicht angefasst. Im Europäischen Parlament gelten Sitten, die will man lieber nicht auffliegen lassen.
Ist Schulz nur das Strohfeuer, wie CDU-Granden ständig verbreiten? Sein seltsames Platt, in der noch jede Kirche zur Kirsche wird, wirkt verharmlosend: Dialekt ist was für Dumme. Meint man. Dabei ist Dialekt eine Art Tarnanzug, denn meistens steckt dahinter ein kluger Kopf, der nur seine Sprüche sortiert. Killerinstinkt ist nicht an preussisiertes Leutnantsgeschnarre geknüpft. Das sollte die CDU eigentlich von der CSU gelernt haben, aber so viel Dialektik wäre zu viel verlangt, nicht nur in der Dialektfrage.
Aber Martin Schulz ist nicht wegen Martin Schulz gefährlich.
Die Schwäche von Angela Merkel ist Angela Merkel.
Die Stärke von Schulz ist Merkel.
Das wurde so lange nicht deutlich, wie Sigmar Gabriel die SPD führte: Als Vizekanzler war er der kleine Merkel. Er konnte in Interviews poltern, wie er wollte – er hat ihre Politik mitgetragen. Aus dieser Falle, dem Käse-Knabbern am Kabinettstisch, hat die Maus ihre Pfoten nicht mehr herausgebracht.
Schulz ist da freier. Brüssel ist weit weg, und sein dort verbreiteter Unsinn hat nur gelegentlich ein paar besonders Interessierte zuhause erreicht.
In Deutschland kann er in Opposition machen.
Und die ist zunächst nicht inhaltlich beschrieben. Es geht um den Überdruss, der sich an Merkel festmacht. Überdruss ist das vorherrschende Gefühl im beginnenden Wahlkampf.
Überdruss, denn Merkel erleidet das Schicksal von Kohl 1998: Die Wähler hatten ihn satt, seinen Saumagen, sein breites Pfälzisch, sein zermümmeln von Wörtern, seine Gesicht, das jede Tagesschau zur permanenten Wiederholungssendung machte. Irgendwann fiel dann gar nicht mehr auf, dass die Neujahrsansprache vom Vorjahr gesendet wurde. Rückblickend klingt es wie ein Witz. Jetzt erleben wir es wieder:
Jeden Tag Kohl. Jetzt Merkel. Gestern, heute, morgen. Täglich grüßt das Murmeltier.
Jeden Tag. Merkels Raute war zunächst amüsant. Heute wirkt sie wie ein Warnschild – zum Davonlaufen.
Politik ist nicht nur politisch
Politik ist leider nicht nur Politik, sondern Unterhaltung. Kohl und Merkel haben uns bis zum Überdruss amüsiert. Das ist kein politisches Statement, keine Inhaltsanalyse.
Es wird nur einfach Zeit für etwas Neues. Die Kunst loszulassen, ist keine, die Politiker beherrschen; schließlich gehört Selbstverliebtheit zur Grundausstattung, und ständig bestätigte Wichtigkeit füllt die Leere, die Personen erleben, die immer getrieben wurden. Ohne Amt versinken sie im Stillen Ozean.
Aber bis es so weit ist, wird das Gefühl der eigenen Wichtigkeit, der Unentbehrlichkeit, die Weltenrettungs-Mission, zur Sackgasse mit Straßenschild Überdruss. Wähler kennen keine Dankbarkeit; vielleicht später dann, wenn Denkmäler gesetzt und Schulen oder Flughäfen benannt werden müssen.
Reicht Überdruss für Schulz?
Aber reicht das für Martin Schulz? Schließlich ist er nicht jünger, nicht frischer, nicht orgineller, in Brüssel gescheitert und in Deutschland ohne Programm.
Genau darin liegt eine Stärke. Der Vorteil für SPD-Wahlkämpfer liegt darin, dass sie ihm eine Programm-Weste schneidern können, ganz nach ihrem Gusto, und der ist von Umfragen bestimmt.
Des neuen Kanzlers Kleider und ihr Karo müssen etwas anders sein, aber nicht ganz; zu vorsichtig sind die Deutschen. Bitte kein großes Karo.
„Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen.“ Mit diesem Slogan hatte Gerhard Schröder 1998 Wahlkampf gemacht und gewonnen. Wenn man so will: Eine Art frischer Kohl; garantiert keine Überraschung.
Mit dem bei Tony Blair abgeschauten Konzept der „Neuen Mitte“, das sich an jüngere Berufstätige richtete, an die Aktiven in der Gesellschaft, war es auch eine Aufforderung zum demographischen Wechsel: die alten Gesichter der Kohl-Ära sollten durch neuere ersetzt werden; Joschka Fischer und selbst Otto Schily, der als Revolutionär unter einer Art Frischhaltefolie zum Erzkonservativen gereift war.
Ein Konzept war das nicht; nur die Fortsetzung zunächst mit anderen Gesichtern, inszeniert von guten Visagisten.
Mit einer solchen inhaltlichen Vision muss Schulz jetzt noch ausstaffiert werden.
Ansonsten ist sein Job gar nicht so schwer. Denn in der neuen Lage steckt plötzlich Merkel in der Zwickmühle:
Sie versucht eine Neuauflage des Lagerwahlkampfs – Licht gegen Finsternis, Freiheit statt Sozialismus, Fortschritt statt R2G.
Aber glaubwürdig ist das nicht. Am Ende, das pfeifen darüber alt gewordene Spatzen vom Schindeldach, am Ende landen sie doch wieder gemeinsam im Groko-Bett.
Vielleicht zeigen sie jetzt etwas Diskurs, aber nur so viel, damit der nächste Koalitionsvertrag nicht zu mühselig wird.
Die CDU ist erstmals in einer blöden Lage.
„Rechts“ kann die CDU nichts mehr gewinnen. Die Anhänger der AfD, vermutlich deutlich über 10 Prozent, lieben die AfD bei weitem nicht alle. Sie wurden aber von den anderen Parteien so gründlich beschimpft, dass sie vorerst nicht mehr zurückholbar sind. Die Frustration und Verletzung sitzt zu tief – wer einmal „Nazi“ genannt wurde, richtet sich dort nach einiger Zeit gemütlich ein und stellt plötzlich fest: Der nette Nachbar war auch gemeint. Und die im Sportverein auch. Die AfD wird nicht aus Lust, sondern aus Verdruss gewählt, und der wächst jeden Tag.
Mit dem Verschwinden von Bosbach und Steinbach sind die letzten Anker der CDU für Wertkonservative verschwunden. Die schnittigen Windhunde der späten Merkelzeit und ihr sichtbarer Zeitgeist-Opportunismus stoßen diese Wähler restlos ab. Sie sind es überdrüssig, dass man ihnen von der CDU lange gesagt hat, dass man mit ihnen nichts mehr zu tun haben will, dass es nur darum geht, als Partei ihr biologisches Absterben zu überleben. So etwas vergessen Menschen nicht.
Auch die Liberalen sind keine Verfügungsmasse
Eine andere Gruppe ist längst reumütig zur FDP zurückgekehrt und wird sie über die Fünf-Prozent-Hürde hieven. Sie haben gelernt: Ohne FDP ist die CDU nur eine eher wehleidige Kopie der SPD. In Nordrhein-Westfalen hat sie bei der Feier des Ahlener Programms bewiesen: Mit Ludwig Erhard mag sie sich etikettieren; aber er hat´s schwer gehabt und hätte es heute noch schwerer mit den Herz-Jesu-Marxisten, den Etatisten, Staatswirtschaftlern und Sozialausschüssen. Der kleine, aber feine Kreis der Wirtschaftsliberalen ist mit weiteren Steuererhöhungen, Mindestlöhnen und Rentenruinprogrammen nicht zurückzuholen. Dumm, dass da die ergiebigen Spender herkamen, die Mittelständler und Freiberufler. Die schütten gerade die FDP zu mit Geld.
Wenn also für die CDU „Rechts“ der Zustrom verschüttet ist – ist dann „Links“ was zu holen? Gelingt es endlich, die Metropolen-Hipster und jungen, urbanen Frauen zur CDU zu locken, die leider gerade ihre Miete nicht mehr bezahlen können und beginnen, um ihre Jobs zu fürchten?
Genau da steht Martin Schulz. Er steht nicht für die Agenda 2010 wie Sigmar Gabriel, der letzte der Niedersachsen. Eines hat Schulz gelernt: Versprechen kann man viel, zahlen werden dann schon andere. Und die haben sich immer noch gefunden.
Seine Ausgangslage ist hundsmiserabel; die SPD ruht still bei 20 Prozent. Aus dem Reservoir der schon zur Nichtwahl entschlossen gewesenen SPD-Stammwähler mobilisiert Schulz. Gelingt es ihm, Wähler, die zu Merkel abgewandert waren, zurückzuholen, und welche von den Grünen, die sich dort im Irrlichternden verloren haben – dann wird es schon für 25, oder gar bis zu 28 Prozent reichen. Umgekehrt: Merkel kommt vom 41,5 Prozent-Gipfel und ihre CDU bewegt sich um die 30-Prozent. Aber jeder Punkt mehr SPD bedeutet einer weniger CDU.
Und dann sind da die Landtagswahlen in NRW (Vorprogramm Schleswig-Holstein). Da steht Armin Laschet, die Aachener Ausgabe von Merkel, gegen seinen Aachener Herausforderer. Wie will Laschet da deutlich machen, dass er vieles besser machen will, wo er doch der Landes-Merkel ist?
Wenn es so weitergeht, ist Schulz der fast unvermeidliche Sieger nach Punkten. Selbst, wenn die Union die Nase knapp vorn hat: Dann ist Schulz der strahlende Sieger und Merkel die griesgrämige Verliererin. Die CDU nimmt dann die Dinge doch schnell ziemlich tragisch.