Altersarmut? Gibt es gar nicht. Der Sachverständigenrat schreibt beispielsweise mit Verweis auf den Rentenbericht der Bundesregierung:„Altersarmut ist heute nicht weit verbreitet. Liegt der Zahlbetrag der GRV aktuell unterhalb von etwa 775 Euro und wird dieser nicht durch zusätzliche Einkommen oder Vermögen, etwa von anderen Familienmitgliedern, erhöht, besteht ein Anspruch auf Grundsicherung im Alter. Bei dieser handelt es sich um eine bedarfsorientierte Leistung des Staates, die existenzielle Armut verhindern soll.“ Derzeit beziehen nur 3 Prozent der Rentner diese Grundsicherung, meist Frauen.
Ist also Marion Zeuge, mit der Peter Hahne und ich in der Sendung diskutieren, doch nicht arm? Bildet sie sich das nur ein und jammert frech herum? Dazu einige Thesen:
1. Statistik erledigt Problem – nicht
Statistisch ist das Problem mit 3 Prozent Beziehern von Grundsicherung erledigt, Klappe zu, Affe tot. So einfach definiert man Probleme weg. Schaut man sich die Lebensläufe der Menschen an, wird´s schwieriger. Beispielsweise den Fall Marion Zeuge, 71, Rentnerin aus Berlin-Charlottenburg. 778 € Rente, also nicht arm und nicht berechtigt zur Grundsicherung nach Sachverständigenrat. Die Miete für die 40-Quadratmeter-Wohnung beträgt 250 €, nicht überhöht. Leider kommen über 200 € Nebenkosten dazu. Bleiben also rund 350 € zum kargen Leben, das ist weniger als der Hartz-IV-Regelsatz von 409 €. Also doch arm? Außerdem: Bei Hartz gibt es bedarfsorientierte Zuschläge – etwas bei Krankheit, Diät, besonderen Notwendigkeiten. Hier zeigt sich: Leistung lohnt sich nicht mehr. Die aus eigenen Beiträgen finanzierte Rente liegt nicht mehr deutlich über Sozialleistungen, die als faktisch bedingungsloses Grundeinkommen jeder und jede erhält, auch wenn nie gearbeitet wurde oder wenn man als Flüchtling nach Deutschland kommt.
2. Die neue soziale Lage ist schon ziemlich alt
Die neue soziale Frage wurde in den 70er-Jahren von Heiner Geißler, damals Generalsekretär der CDU, thematisiert, schon damals mit Blick auf Rentnerinnen und alleinstehende Frauen. Seither hat sich das Problem verschärft, statt gelöst. Die pauschalierten Lösungen der Rentenpolitik passen nicht zu den immer indivudualisierteren Lebensstilen und Problemlagen, das Zerbrechen der Familien verschärft die Lage. Statt individueller Lösungen werden aber immer kollektive Systeme gebastelt. Sie helfen nur den Betroffenen nicht, die häufig im Alter an Problemen leiden, die in der Vergangenheit liegen. Die kollektiven Systeme geraten an ihre Möglichkeitsgrenzen. Individuelle Vorsorge wird immer mehr erschwert und besteuert, am Ende angerechnet und damit bestraft. Ein Beispiel ist die aktuelle Nullzins-Politik. Sie zerstört Lebensversicherungen und Riesterrente, die berufsständigen Vesorgungswerke wie direkte private Anlage. Die Zinspolitik der EU ist brutalst-mögliche Anti-Sozialpolitik. Ihre Auswirkungen, das macht es für die Politik so charmant, spürt man erst in Jahrzehnten. Dann, wenn die gesetzliche Rente ohnehin noch niedriger ausfallen wird.
3. Armut im Alter ist ein Frauenproblem
Armut im Alter ist ein Frauenproblem. Bei der „Grundsicherung“ sprechen die meisten Frauen trotzdem nicht vor – aus Angst, ihre Angehörigen würden dann zur Kasse gebeten. Außerdem wird auf die Grenze von 775 € jedes sonstige Einkommen angerechnet, jede Lebensversicherung, jeder Kontostand. Wer vorsorgt, ist der Dumme. Nun ist klar, dass ein kleiner Rentenzahlbetrag nicht automatisch Armut bedeutet; viele Menschen verfügen auch über andere Einkommen, über Witwenrenten, Beamtenpensionen, aus eigenem Vermögen. Ein breiter und aktueller Überblick auf die konkrete Lage der materiellen Absicherung im Alter über alle Einkommensquellen fehlt. Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen von älteren Ehepaaren liegt bei 2.543 Euro, das von alleinstehenden Männern bei 1.614 Euro. Alleinstehende Frauen haben mit 1.420 Euro ein im Durchschnitt geringeres Einkommen. Es sind Durchschnittswerte, die insbesondere von hohen Pensionen verzerrt werden. Aber wehe, Frau ist geschieden oder Witwe, was aus demographischen Gründen häufig ein Dutzend Jahre der Fall ist, weil Frauen längere Lebenserwartungen haben und in der Regel die Ehemänner etwas älter sind. Dann ist die Armut im Alter da. Denn umziehen in eine kleinere Wohnung ist ebenfalls teuer, zerstört die Reste der sozialen Bindungen. Betriebliche Altersversorgung haben ebenfalls deutlich mehr Männer als Frauen, weil die Männer statistisch gesehen häufiger in größeren Betrieben und besser organisierten und durchsetzungsstarken Berufen arbeiten.
4. Armut im Alter ist regional unterschiedlich
Am ärmsten dran sind Frauen im Saarland – die durchschnittliche Rente liegt bei 491 €. In Ostdeutschland bekommen Frauen deutlich mehr Rente als Frauen in Westdeutschland. In Thüringen, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Ost erreichen Frauen rund 70 bis 80 Prozent des Männer-Niveaus bei der Durchschnittsrente.
Im Schnitt liegen die Renten für Frauen in diesen Bundesländern zwischen 821 Euro (Sachsen-Anhalt) und 940 Euro (Ost-Berlin). In Baden-Württemberg, wie mit geringen Variationen in allen westlichen Bundesländern, erhalten Männer 1155,40 € Rente und Frauen 636 €. Im Niedersachsen sind die Zahlbeträge für Männer 1105,30 € und bei Frauen.
Allerdings fehlen im Osten meist private Vermögen wie etwa Lebensversicherungen. Gegenrechnen muss man die höheren Lebenshaltungskosten insbesondere in den westlichen Metropolen: In Bayern bekommen Männer eine Rente von 1078 €, Frauen hingegen nur 610 €. Davon zu leben ist im München glatterdings unmöglich.
5. Der Osten holt auch in der Armut auf
Die höheren Renten im Osten gegenwärtig sind ein Reflex der Vergangenheit – die „Vollbeschäftigung“ der DDR wird mit westdeutschen Renten vergolten. Im Westen gibt es mehr gebrochene Lebensläufe – längere Arbeitslosigkeit, längere Zeiten von Hausfrauentätigkeit und Kindererziehung. Die jüngsten Anhebungen von Zeiten der Kindererziehung in der Rentenberechnung haben schon ihre Berechtigung. Aber auch sie treffen gleichermaßen gutversorgte (die sie nicht brauchen) und echte Armutsfälle. Arbeitslosigkeit ist zukünftig auch für die Menschen in den gar nicht mehr so neuen Bundesländern das Armutsproblem im Alter. Die jüngsten Rentenerhöhungen für Ostrentner heute verschärfen das Problem in Zukunft, also für die heutigen Beitragszahler. Armut im Alter wird also auch gemacht.
6. Die aktuelle Wirtschaftspolitik ist rücksichtslos
Verfolgt man die Wirtschaftspolitik der letzten Jahre, dann läuft es für die Bezieher kleiner Einkommen wie Rentner und Geringverdiener außerordentlich schlecht. Alle reden von sozialem Ausgleich – aber handeln dagegen. Schauen wir uns das für die Bezieher kleiner Einkommen an: Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht – verfügbares Einkommen buchstäblich weggesteuert. Das mag ja für Bundestagsabgeordnete verkraftbar sein – für die Problemgruppen nicht. Oder Energiepolitik: Verdoppelung der Strompreise für Merkels Energiewende treibt die Nebenkosten. Frau Zeuge schraubt die Birne aus der Deckenbeleuchtung heraus um Strom zu sparen. Stromarmut führt dazu, dass über 300.000 Haushalte die Energie abgedreht wird. Natürlich, für Jürgen Trittin ist es nur „eine Kugel Eis“, wie er mal erklärt hat. Für kleine Einkommensbezieher wird die Kugel Eis zum Aus für Heizung, warmes Wasser, Licht, Fernsehen. Auch der Kampf gegen billige Lebensmittel, der Wahlkampfschlager der Grünen derzeit, ist ein Kampf gegen die einkommensschwachen Gruppen. Die Armut erreicht dann buchstäblich den Teller.
Für die Schickis in den aufgemotzten Vierteln ist das alles eine Frage des Lebensstils – für normale Rentner wird es der Zwang zum Flaschensammeln. Der Hohn ist der Wegfall des Antennenempfangs: Eine neue Empfangsbox kostet ca. 90 € – kein großes Geld, eine immense Summe für Marion Zeuge. Der Fernseher ist für sie das Fenster in die Welt. Private Sender noch mal jährlich jetzt obendrauf. Marion Zeuges Fenster schließt sich.
Bild: © ZDF/Kramers