Am Anfang steht ein Kanzlerinnenwort, unbestimmt, verschwiemelt, wie es so ihre Art ist. Bei einer Veranstaltung in Berlin sagt Merkel, sie wolle in Bezug auf die Ehe für alle eine Diskussion „eher in Richtung einer Gewissenentscheidung“. Eigentlich könnte man es so stehen lassen. Aber die Reaktionen darauf zeigen den Zustand des politischen Lebens in Deutschland.
Sofort wurde das so verstanden, dass die Bundeskanzlerin die Abstimmung „frei“ gibt. SPD und Grüne organisierten daraufhin eine Bundestagsabstimmung, um diese Gelegenheit zu nutzen. Endlich konnte ja im Bundestag „frei“ abgestimmt werden. Was im Umkehrschluß heißt: Sonst nicht. Sonst wird so abgestimmt, jedenfalls in der Unionsfraktion, wie es die Kanzlerin vorschreibt.
Die erste Feststellung also ist: Die Regel des Grundgesetzes ist längst in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die Regel-Wirklichkeit ist, dass Abgeordnete NICHT IHREM GEWISSEN folgen dürfen, sondern der Bundesregierung folgen müssen. Die Ausnahme ist so selten, die Regelabweichung so besonders, dass sie gesondert erklärt wird und Folgen hat.
Angela Merkel lässt somit nur geschehen, was nach dem klaren Willen der Verfassung nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein sollte. Tatsächlich, und das zeigt die „Freigabe“ der Abstimmung, ist das vom Grundgesetz vorgesehene „freie“ Mandat im Laufe der Jahrzehnte ganz schön unter die Räder oder niemals darunter hervorgekommen. Darauf hat nun Erika Steinbach hingewiesen – wenn auch nur in abgeschwächter Form: „Es war die Bundeskanzlerin und nicht die SPD-Fraktion, die mit ihrer wohlkalkulierten Einlassung, dass dies allein eine Frage des Gewissens sei, die Türen für die heutige überstürzte Entscheidung sperrangelweit geöffnet hat – und sich auch noch als quasi neue Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion dazu hat hinreißen lassen, generös die Abstimmung freizugeben.“ Was Steinbach kritisiert, ist also, dass die Kanzlerin die Arbeit des Fraktionsvorsitzenden Kauder übernommen hätte. Deutschland, so Steinbach weiter, sei aber keine „Kanzlerdemokratie“.
Man könnte das so verstehen: Wenn Kauder den Gewissenszwang ausübt, darf er das qua Amt, nur nicht die Kanzlerin. Der Fraktionsvorsitzende, nicht die Kanzlerin, darf Fraktionszwang ausüben. Auch das ist falsch. Es darf – formal – keinen Fraktionszwang geben, auch wenn es ihn in der Praxis längst gibt. Steinbach ist eben eine langgediente Abgeordnete. Der Fraktionszwang ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen: „Dieser Fraktionszwang dient vornehmlich dem Machterhalt der eigenen Partei. Die Begriffe Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin werden teilweise synonym verwendet, eine (wenn auch fließende) Grenze gibt es jedoch.“
Gegen den Fraktionszwang können Abgeordnete verstoßen – aber meistens nicht sehr lange. Stimmt ein Abgeordneter öfter einmal nicht mit seiner Fraktion, dann sind seine Karriereoptionen begrenzt. In der Praxis kommt das alleine schon deshalb selten vor, weil die Abgeordneten über eine „Ochsentour“ in den Parteigliederungen bewiesen haben, dass sie sich auch ohne Rechtspflicht informell an Hierarchien halten und gehorchen.
Und nun also Bundestagspräsident Lammert. Unmittelbar nach der Rede Steinbachs wandte er sich an sie und dozierte von seinem erhöhten Platz an die Abgeordnete, die sich währenddessen auf den langen Weg zu dem Stuhl machte, den man ihr nach ihrem Ausscheiden aus der CDU/CSU-Bundestagsfrakton im hintersten Eckchen wie gnadenhalber eingeräumt hatte: Lammert sagt, zur Stimmabgabe bedarf es „keiner Freigabe, weder durch Fraktionen, noch durch Parteien“. Jeder Abgeordnete entscheide bei einer Gewissenfrage selbst, wie er sich entscheide. Lammert: „Es wäre schön, wenn das für die Zukunft unmissverständlich deutlich wäre.“
Das wurde als Kritik an Steinbach interpretiert, und seine unmißverständliche Haltung, die als arrogant verstanden wird, lässt das zu. Aber man kann es auch anders sehen: Lammert, der selbst nicht mehr zur Wahl antritt, hat die Bundeskanzlerin kritisiert. So weit ist es allerdings schon gekommen, dass auch der Bundestagspräsident, der in der üblichen Rangfolge der Staatshierarchie nach dem Bundespräsidenten an zweiter Stelle steht, die Kanzlerin (auf Platz drei) nicht mehr offen zu kritisieren wagt. Er muss sich das schwächste Mitglied des Deutschen Bundestags als Tarnung suchen, um eine Weisheit loszulassen, die sich gegen die Kanzlerin und eine feixende, johlende und klatschende Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestags richtet.
In der Mehrheit der Medien wiederholt sich das. Fast alle Medien, blättern Sie mal durch, freuen sich, dass Lammert Steinbach korrigiert, abgewatscht, zu Recht gewiesen habe, dass er das letzte Wort habe. So lauten die Kommentare, nur notdürftig als „Nachricht“ getarnt. Auch die Journalisten merken gar nicht mehr, dass ihnen Lammert – absichtlich oder unabsichtlich – den Spiegel vorgehalten hat: Das Nicht-Verständnis von Demokratie. In der gehört der Respekt der abweichenden Meinung. Deutsche Politiker und Journalisten grölen lieber mit der Mehrheit – und nennen das demokratisch.