Tichys Einblick
Kandidaten für morgen und von gestern

Merkel: Ein Abschied, der keiner ist

Alle Medien sind voller Nachrufe auf Merkel. Aber es ist einer ihrer Tricks, vielleicht der letzte große: Sie bleibt Kanzlerin.

Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Nichts ist so schwer wie Abschied von der Macht. In der Nacht, in der er die Wahl verlor, trat Helmut Kohl auf die Bühne des Konrad-Adenauer-Hauses und gratulierte Gerhard Schröder zum Erfolg: „So ist Demokratie“.

König ohne Land

In den Wochen danach bis zur endgültigen Amtsübergabe, irrte Kohl wie verstört durch das Land; wie ein Feldherr ohne Heer oder ein König, dessen Land untergegangen war. Vorgänger Helmut Schmidt versank monatelang in Schweigen, ehe er als Herausgeber der ZEIT begann, auf deren Redaktionsveranstaltungen stundenlang zu monologisieren, als säße er noch am Kabinettstisch und zum ganz großen Welterklärer und Autobiographen aufstieg, der das Versagen seiner Regierung vergessen machte.

Konrad Adenauer und Ludwig Erhard zogen sich verbittert zurück. Willy Brandt, der große Kommunikator, fast gelähmt und wie versteinert nach dem Amtsverlust, von einer späten Liebe von Partei und Macht abgeschirmt und einsam beerdigt: „Wer viele Frauen hat, hat keine Witwe“, schrieb ihm Franz-Josef Wagner damals nach.

Den Abschied am besten hat Gerhard Schröder bewältigt: Viel Geld und schöne Frauen – diese einfache Formel tröstet ihn über den Verlust an Macht hinweg.

Aber was bleibt für Merkel?

Die Unersetzlichen

Was bleibt für einen Menschen, für den der 20-Stundentag, die ständige persönliche Nähe zu Präsidenten, Diktatoren und Konzernchefs ebenso selbstverständlich ist wie das Gefühl, ganz oben zu stehen und oben stehen zu müssen? Wer das Spiel mit der Macht auf globaler Ebene beherrscht, die Akteure von Putin bis Trump so intim und deren Weißes in den Augen sieht, die Finten eines Erdogan vorausahnt, die Fallen der Opposition kennt und sie ihnen daher selber stellt und Menschen wie Medien lenkt und manipuliert – so jemand hält sich für unersetzlich, es geht gar nicht anders. Er oder sie muss sich für unersetzlich halten.

Das ist nicht nur Selbstüberschätzung: Es gibt keinen Nachfolger, der diese intimen Einsichten und Kenntnisse hat – und am Ende geht es immer um die Zukunft des so verletzlichen blauen Planeten, der durch Krieg oder Katastrophen gefährdet ist. Helmut Schmidt hielt seinen Nachfolger Kohl für einen unfähigen Trottel, und tatsächlich musste der erst üben, wo am Ende des roten Teppichs „rechts kehrt“ gemacht und gegrüßt wird und dass es sich nicht gehört, einen Finanzminister per Wangenkuss zu begrüßen. Der ist Staatsoberhäuptern vorbehalten. Aber am Ende wusste er es und hat es Schäuble nicht zugetraut und diesem Schröder-Lümmel schon gar nicht. Was ja auch stimmte, den Schröders erste Legislaturperiode war eine üble Lernzeit für Deutschland.

Merkel weiß das alles. Sie ist nicht so leicht mit Ersatzdrogen zu befriedigen wie Schröder. Sie hat selbst dazu beigetragen, Helmut Kohl nach dem Sturz als Kanzler auch noch aus dem CDU-Vorsitz zu verjagen und in die bedrückende Enge des Eigenheims zu Oggersheim, wo eine viel jüngere Verehrerin ihn als großen Helden pflegte und das Leben nach dem Amt unterstützte. Und seither als Rächerin auftritt. Wen hätte Merkel? Wer tröstete sie?

Deswegen geht Merkel in die Verlängerung.

Teflon gehört zur Dienstkleidung

Die Nachrufe, die Zeitungen drucken und elektronische Medien rund um die Uhr verspritzen, prallen an ihr ab. Auch das lernt ein Bundeskanzler: Vieles einfach zu ignorieren, das Otto Normalverbraucher in den Wahn bis hin zum Suizid treiben würde, müsste er ihn über sich lesen und hören oder sehen, pausenlos und dann wieder von vorne. Teflon gehört zur Dienstkleidung.

Deswegen ist es ihr schnurzegal, wer unter ihr Parteivorsitzender werden will oder auch wird. Wochenlang beschäftigen sich alle damit, als ob das Land regiert würde wie ihre alte DDR, von der Partei. Noch sind Partei und Staat getrennt und sie ist der Staat. Von der SPD droht ohnehin keine Gefahr, die klammert sich an die Regierung und Ämter, weil sie weiß: Nach der nächsten Wahl geht der Stimmenschnitter durch ihre Reihen und mäht sie hin. Also wird die Kanzlerin gestützt, machtvolle Opposition fällt aus.

Deswegen wird Merkel Kanzlerin bleiben. Wenigstens noch etwas länger. Das war ja immer ihr Trick: Stoisch erst mal in die Verlängerung gehen. Vielleicht stolpert dann einer und sie bleibt doch wieder die Siegerin. Die Spieler auf dem Feld sehen ja nicht schlecht aus – für Merkels Pläne der Dauerregentschaft:

Kandidaten, Kandidaten, wer fürchtet schon Kandidaten?

Annegret Kramp-Karrenbauer, die Merkel zur Generalsekretärin gemacht hat, hat sie wohl mit dem Versprechen geködert, das sei nur der erste Schritt zur wirklichen Macht: Nun ja, was Loyalität bedeutet in der Politik, hat Merkel selbst vorgeführt und als „Kohls Mädchen“ dann dafür gesorgt, dass sie als Kohls politischer Killer in die Geschichte eingehen konnte. Draußen gilt Annegret Kramp-Karrenbauer jetzt als Merkels Mädchen. Aber unter Mädchen wird bei Bedarf genau so kaltblütig gemordet wie unter Männern, vielleicht sogar noch kaltblütiger: Es entfällt der sentimentale Kitt der bierseligen Kumpanei. Und weil nicht sichtbar ist, was Annegret Kramp-Karrenbauer anders machen würde, so das Kalkül, kann das Geschäft gleich bei der bleiben, die wenigstens Erfahrung hat und geübte Meisterschaft darin hat: bei Merkel. Die Damen sind sich zu ähnlich für eine Welt, die auch mal Neues sehen will.

Am Ende ist es die Hoffnung, die auch Kohl noch einmal zu seinem letzten Bundestagswahlkampf geführt hat: die kann es nicht, die Neue, so wie Kohl es seinem Nachfolger Wolfgang Schäuble einfach nicht zugetraut hat und selbst noch einmal meinte, in die letzte Schlacht ziehen zu müssen, die er so bitter verlor.

Die Schlacht von gestern

Und geradezu mit Freude kann sie beobachten, wie Friedrich Merz, ihr schon einmal unterlegen, ein Comeback versucht und sich, scheinbar unbeteiligt, von der BILD zum Kandidaten ausrufen lässt, statt sich von Beginn an selbst zu erklären wie die anderen Kandidaten. Offen liegen seine Schwächen zu Tage: Er ist ein Mann von gestern, und gestern ist nicht der Morgen des dringend notwendigen Generationswechsels. In den 12 Jahren, in der er darauf konzentriert war, Geld als Ersatz für Macht zu maximieren wie sonst nur Schröder, hat eine Finanzkrise die Welt erschüttert und den Glauben an die totale Deregulierung als Heilmittel für Alles unwiderruflich zerstört.

Ja, er kennt die Gedärme der größten Heuschrecke der Welt von Innen. Aber die Formel vom bekehrten Sünder glaubt man ihm nicht; er steht als Gesicht für den Raubtierkapitalismus, der knurrend die soziale Marktwirtschaft umschleicht. Wer ist Merz? Wir wissen es nicht, er war ja nur 12 Jahre der Merz, den viele zu Recht als Marktwirtschaftler und Reformer bewunderten. Von Helmut Kohl stammt der Satz über CDU-Beamte, die nach den Jahren der Opposition und inneren Emigration ans Licht mit ihm strebten und allesamt nicht dort ankamen: „Wer 12 Jahre im Untergrund lebt, wird auch nicht schlauer.“ Merz ist der Lieblingskandidat der SPD. An seiner Person lässt sich ein Klassenkampf entfesseln, wie man ihn vergessen und überholt glaubte. Die SPD krankt am Mangel neuer Einsichten. Aber die alten Sprüche, Fahnen und Totschlagargumente, die liegen noch herum. Dann wird der Mann von gestern mit den Waffen aus dem Museum von vorgestern bekämpft und die Zukunft bleibt als Opfer zurück. Historische Verdienste sind dem Wähler egal, und große Namen allein beeindrucken nicht mehr.

Generationswechsel?

Bleibt also Jens Spahn. Der ist so jung wie kess, so modern im Lebensstil mit seinem Ehemann, dass angestammte CDUler ins Stammeln kommen und genau deshalb kann er dann so reaktionär auftreten wie sonst keiner: Das ist sein Schutzschild, das ihn vor Angriffen schützt und ihm die Attacke erleichtert. In Spahn trifft sich die neue Zeit der Unvereinbarkeiten, die unter einen Hut gebracht werden wollen: Alle ganz frei und easy und doch rundumversorgt für die neuen Lebenskonzepte. Spahn trifft noch am ehesten den Sound der Jungen, die gut verdienen, aber für die trotzdem Ökonomisierung nicht alles ist, Ökologie unbedingte Voraussetzung und Großzügigkeit mit Blick auf die Steuerlast erlernt.

Nicht zu vergessen: Spahn kann als einziger der Kandidaten das ramponierte Verhältnis zur CSU wieder in ordentliche Bahnen bringen. Da gibt es genug Gemeinsamkeiten im Inhalt, aber auch im Stil. Die CDU braucht die Union mit der CSU, soll sie bundespolitisch nicht weiter absacken. Komisch, dass die Medien das nicht sehen.

Jens Spahns Konzept könnte eine einladende Freundlichkeit sein, gelebte Zuversicht und Eigenwilligkeit mit Schwung und der Bereitschaft, auch denen zu helfen, die nicht zu den Beglückten der Globalisierung gehören. Und er hat Zeit. Unter ihm kann Merkel gerne Kanzlerin bleiben bis zur nächsten Krise. Dann zieht er um.

Bis dahin bleibt Merkel Kanzlerin. Und die Krise verschärft sich, die Spaltung des Landes vertieft sich. Aber davon spürt man im Kanzleramt nichts. Es ist ja weit weg von den Menschen, und die Wirklichkeit teilt sich liebedienerisch mit. So bleibt es also, noch ein Weilchen, und der Wechsel täuscht.

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