Wut, Zorn, Frust: Die Abhöraffäre ist ein hoch emotionales Thema. Hilfreicher wäre es, sich um unsere Selbstbehauptung zu kümmern.
Irgendwie sind die Europäer, die Deutschen allen voran, wegen des Abhörens der USA ein- bis übergeschnappt. Aber immer wenn Emotionen überkochen, werden sie durch verdrängte Erkenntnis eigener Schwächen erst so richtig heiß: Und die Europäer spüren, dass sie sich zu wenig um Selbstbehauptung gekümmert und zu naiv an eine gute, allzeit friedvolle Welt geglaubt haben. Jetzt platzt die Illusion. Die Europäer haben sich gemäß dem Sprachbild des US-Politologen Robert Kagan gut eingerichtet. So glauben die Amerikaner an den Gott des Krieges, während die Europäer an die Göttin der Liebe, an Institutionen, Recht und Sozialpolitik ihr Herz hängen. Während die Kontinentaleuropäer sich von Gewalt und Macht befreien wollen, setzen die Amerikaner beide Instrumente bereitwillig ein. So hat sich eine bequeme Arbeitsteilung etabliert. An der europäischen Friedens- und Sozialpolitik soll die Welt genesen, während die USA die Verteidigung des selbstverliebten Europas übernehmen. Europa und insbesondere Deutschland fühlen sich als moralisch überlegene pazifistische Zivilgesellschaft, deren Normen und Werte sich kraft Überlegenheit quasi automatisch durchsetzen werden. Wenn nur andere gut Wacht halten.
Deutschland gibt 1,4 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung aus, die USA 4,4 Prozent, polemisch formuliert: Deutschland investiert in Sozialpolitik, die USA ins Militär, in Geheimdienste und einen weltumspannenden Sicherheitsapparat. Europa ist nicht mehr verteidigungsfähig; es ist zu schwach, seine Interessen auch nur vor der Haustür wahrzunehmen: Der südliche Rand des Mittelmeers brennt, aber Europa kann nur die abgewrackten Flüchtlingsboote aufbringen und aufgefischte Leichen auf Lampedusa begraben. Europa bringt keine gemeinsame Außenpolitik zustande. In der Sicherheitspolitik, die alle diese Anstrengungen bündelt, sind deutsche Geheimdienste und die Polizei darauf angewiesen, von der NSA Daten über geplante islamistische Attentate in Deutschland zu erhalten. Da sind wir dann doch froh, dass andere die geheimdienstliche Drecksarbeit machen. Es ist ziemlich lächerlich, sich einerseits einem großen Bruder in die Arme zu werfen, der uns vor dem Wüten der Welt schützen soll, und dann beleidigt zu reagieren, wenn er das mit aller Konsequenz auch perfektioniert und den ebenso greinenden wie launischen kleinen Bruder auch gleich mit überwacht: Es ist ja nicht so, dass wir im Kampf gegen den Terror nach dem Anschlag auf das World Trade Center besonders tapfer an der Seite des angegriffenen großen Bruders gestanden hätten.
In dieses Bild passt, dass wir zwar unsere Kinder vor den Gefahren von Facebook und Google warnen – die Regierungschefin, für die das Internet erklärtermaßen Neuland ist, aber mit einem flohmarktfähigen Handy telefoniert, das von jedem modernen Eierdieb abgehört werden kann. Und es ist jämmerlich, einem Innenminister zuschauen zu müssen, der händeringend einen ausländischen Geheimdienst um Auskunft bitten muss, ob, wann und wie oft die deutsche Regierung abgehört wurde. Das ist so komisch wie ein Plakat am Eingang zum Supermarkt „Bitte bringen Sie gestohlene Waren vollständig zurück“. Auch ein „No-Spy“-Abkommen ist kindisches Getue: Wir können ja nicht einmal kontrollieren, ob wir, die Industrie oder die Forschungseinrichtungen bestohlen werden.
Die Abhöraktion und die aufwallenden Emotionen haben dann etwas Produktives, wenn sie in Europa und Deutschland die Bereitschaft zur Selbstbehauptung aufwecken. Es wird nicht gehen ohne eigene, handlungsfähige Verteidigungs-, Sicherheits- und Außenpolitik – und wir brauchen eine IT-Industrie, die es mit dem Silicon Valley aufnimmt. Das wird teuer. Der Friede ist nicht umsonst. Oder wir bleiben an der virtuellen Klagemauer hocken. Ganz ohne Mars wird Venus nicht überleben.
(Erschienen auf Wiwo.de am 02.11.2013)