Nach dem Wahlsieg der Linken in Griechenland geistert das Wort von der „Schuldenkonferenz“ durch die Politik. Vorbild ist die Londoner Schuldenkonferenz, in der Deutschland ein Teil seiner Schulden aus der Vorkriegszeit erlassen wurden – dabei ging es um die Schulden der Zwischenkriegszeit, in denen Kredite aus den USA und Großbritannien den Boom der 20er Jahre finanziert hatten und um die Nachkriegsschulden – etwa um die Hilfen aus dem Marschallplan. Der Schuldenerlass gilt als eine der Voraussetzungen für das Wirtschaftswunder. Könnte es ein Vorbild für Griechenland sein? Dieter Spethmann, Jahrgang 1926 und als Chef des Thyssenkonzerns einer der großen Männer der Nachkriegswirtschaft, ist einer der letzten überlebenden Teilnehmer der Konferenz. Lesen Sie hier exklusiv seine „Bemerkungen zum Londoner Schuldenabkommen“.
Spethmann schreibt: „Im Februar 1953 unterschrieb der Bankier Hermann Josef Abs in London im Auftrag von Bundeskanzler Adenauer ein Abkommen zur Regelung der Währungsschulden, die aus der Vergangenheit des Dritten Reiches verblieben waren. Der Bundesfinanzminister Schaeffer hätte diese Verhandlungen gerne selbst geführt. Aber Adenauers Freund Pferdmenges hatte diesem empfohlen, der Sachkompetenz Vorrang vor politischen Ansprüchen zu geben.
Geregelt wurden eine Vielzahl von Schulden, aufgeteilt in fünf „Anlagen,“ jede dieser Anlagen mit besonderen Bedingungen versehen. Ich hatte als junger Anwalt das Mandat der Liquidatoren der Vereinigte Stahlwerke AG iL (nachstehend VSt genannt) zur Regelung deren Schulden aus den zwanziger Jahren. VSt war der führende Schuldner nach Anlage II (Industrie).
Entstanden waren diese Schulden durch die Begebung von Dollar-Anleihen in den Jahren 1925 – 1927 am Platz New York. Das war damals in der Weimarer Zeit die einzige Möglichkeit gewesen, an Kapital für die Finanzierung langfristiger Investitionen in Deutschland zu kommen. Die vom Ersten Weltkrieg ausgeblutete deutsche Volkswirtschaft konnte solches Kapital nicht aufbringen.
Die Laufzeit dieser Anleihen ging bis zu 30 Jahren, aber die Bedingungen waren hart: umfassende hypothekarische Sicherungen auf deutschem Industrievermögen und Zinsen bis zu 8% pa. Im Verlaufe der Londoner Verhandlungen zeigte sich, dass das dort vertretene amerikanische Gläubigerkomitee im Namen von Individualgläubigern sprach. Die Emissionsbanken hatten die Papier nach Zeichnung am Markt platziert, und man sagte uns, dass deutsche Auswanderer viele dieser Papiere gekauft hatten.
Alle Anleihen, die in New York geregelt wurden, hatten ab Mitte 1931 keinen Kapitaldienst mehr erlebt. Denn damals hatte die deutsche Reichsbank ihren Devisenschalter geschlossen, weil als Folge der Weltwirtschaftskrise nicht mehr genügend Währungserlöse aus Exporten der deutschen Unternehmen zur Verfügung standen, um diese Anleihen zu bedienen. Zu regeln waren in London also die ausstehenden Kapitalerträge und die seit 1931 nicht gezahlten Zinsen.
Das Ergebnis: Devisen, Devisen, Devisen
VSt hatte Glück. Natürlich muss die ausstehenden Kapitalerträge in vollem Umfang geleistet werden. Wir konnten aber herausverhandeln, dass von den zwischen 1931 und 1952 aufgelaufenen Zinsen ein Drittel erlassen wurde, weiter, dass der ab 1. Januar 1953 zu bildende neue Kapitalbetrag nicht mehr mit den alten Zinsen zu bedienen war, sondern mit einem um ein Viertel niedrigeren Zinssatz, was rund 6 % ausmachte. Die neue Laufzeit wurde von den maßgeblichen Leuten bei VSt für ausreichend gehalten. Tatsächlich wurden die Schulden vorzeitig getilgt.
Mein Schlüsselerlebnis in diesem Vorgang war eine Erklärung von Abs, den ich gefragt hatte, welche Beiträge er von VSt erwartete: „Devisen, Devisen, Devisen. Denn nur die deutsche Industrie kann die Devisen hereinholen, die der Staat braucht, um seinen Kapitaldienst in Fremdwährung zu leisten.“ Damit waren die Schuldner der vier anderen Anlagen-Kapitel gemeint. Die deutsche Industrie erfüllte in den kommenden Jahren sämtliche Erwartungen, die Abs und die maßgeblichen Politiker der jungen Bundesrepublik Deutschland jemals hatten haben können.
Wofür die Steuergelder?
In diesen Tagen taucht das Londoner Schuldenabkommen im öffentlichen Diskurs in Berlin und anderswo auf, insbesondere natürlich in Zusammenhang mit der Euro Krise und dem Sonderfall Griechenland. Solches ist verständlich, aber gänzlich abwegig. Denn Griechenland hat nicht, wie Deutschland damals, eine leistungsfähige Exportindustrie, die Währungsüberschüsse erwirtschaften könnte. Immerhin handelt es sich um den Kapitaldienst auf 320 Milliarden Euro, die für alle möglichen Zwecke verwandt worden sind, nur nicht vorrangig zur Finanzierung langfristiger Inlandsinvestitionen. Natürlich sind griechische Schulden, die in Euro eingegangen wurden, keine Fremdwährungsschulden, aber im Falle eines Austritts Griechenlands aus dem Euro würden sie das doch.
Ich möchte nicht missverstanden werden. Selbstverständlich braucht Griechenland eine Gläubigerkonferenz. Denn die griechische Volkswirtschaft ist nicht dazu in der Lage, den Kapitaldienst auf die genannte existente Schuld von 320 Milliarden Euro zu leisten. Doch Berlin scheint eine solche Gläubigerkonferenz nicht zu wollen. Man müsste dann nämlich die Karten auf den Tisch legen und dem deutschen Bürger offenbaren, für was er mit seinen Steuergeldern anzutreten hat. Diesen Gedanken scheint man weder im Bundeskanzleramt zu schätzen noch im Bundesfinanzministerium. Doch das wird die Stunde der Wahrheit allenfalls hinausschieben. Kommen wird sie auf jeden Fall. Und dann wird der deutsche Michel große Einbußen hinnehmen müssen, und er wird seine Politiker an die Grundsätze des Londoner Schuldenabkommens erinnern, in denen strikt nach Heimatwährung und Fremdwährung unterschieden wurde.
Denn das fehlt der Welt von heute in Wirklichkeit: Solidität der Finanzen. Wollen die Deutschen ihr internationales credit standing erhalten, müssen sie zahlen. Niemand weiß das besser als der neue griechische Ministerpräsident Tsipras, der bereits mit Moskau verhandelt.“
Soweit Dieter Spethmann
Hintergrund: Fakten zum Schuldenabkommen
Spethmanns Bemerkungen illustrieren den dramatischen Unterschied zu heute: Im Wesentlichen ging es um Zinssenkungen und Verlängerung der Rückzahlungsverpflichtungen – nicht um das generelle „Streichen“.
Insgesamt reden wir von mehr als 30 Milliarden Mark. Das sieht aus heutiger Sicht zwar nach recht wenig aus – gerade vor dem Hintergrund der Summen, die in der gegenwärtigen Schuldenkrise genannt werden. Doch der Bundeshaushalt 1952/53 umfasste insgesamt 23 Milliarden Mark. Für damalige Verhältnisse waren die Schulden also außerordentlich hoch. Die verbleibenden Schulden trug Deutschland zügig ab:
„Dank Marshall-Plan und der Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard (»Wirtschaftswunder«) beim Wiederaufbau nach den katastrophalen Kriegszerstörungen, gelang es der BRD entgegen aller pessimistischen Prognosen relativ problemlos, die in London festgesetzten Zahlungen zu leisten – bis auf einen als »Schattenquote« geführten Rest von etwa 250 Millionen DM. Begünstigend war, dass die Sätze der rückständigen Zinsen im Abkommen von sieben auf fünf Prozent (Dawes-Anleihe) und von 5,5 auf 4,5 Prozent (Young-Anleihe) bzw. von sechs auf vier Prozent (Zündholz- oder Kreuger-Anleihe genannt) gesenkt worden waren. Die vorrangig zu bedienenden Nachkriegsschulden waren bis 1961 (Großbritannien und Frankreich) bzw. 1966 (USA) abbezahlt. Die durch die früheren Stillhalteabkommen gestundeten Beträge wurden schon bis Ende 1954 gezahlt. Bis Ende 1960 war mehr als ein Drittel der Vorkriegsschulden abgegolten. Bis 1980 waren alle festgelegten Zahlungspflichten erfüllt (1969 war die Dawes-Anleihe, 1980 die Young-Anleihe fällig geworden). Offen war noch die »Schattenquote«. Das waren die Zinsforderungen aus den bereits zurückbezahlten Anleihen für die Zeit vom 8. Mai 1945 bis 1952, insgesamt etwa 250 Millionen DM.„, konstatiert eine Linke Gruppe von Wissenschaftlern.
Aber genau das wird im Fall Griechenlands nicht möglich sein: Schließlich gibt es keine griechische Exportindustrie, die mit Krediten aufgebaut wird. Die alte und neue griechische Regierung steckt geliehenes Kapital in Staatskonsum (höher bezahlte und zahlreichere Beamte) sowie Sozialleistungen. Die neue Regierung will diese beschleunigen; Privatisierungen werden gestoppt, wichtige Industrien sollen verstaatlicht werden. Damit kommt es also nicht zu einem Wirtschaftsabschwung, sondern zu einer Kubanisierung Griechenlands.
Das Land hat bereits seit 2010 über 234 Milliarden an Finanzhilfen erhalten – das ist in der Dimension das Dreifache des griechischen Haushaltsvolumens. Noch einmal: Hier geht es nicht um absolute Beträge – Mark im Jahre 1953 lassen sich nicht mit Euros 2014 vergleichen. Sondern es geht um Relationen. Danach beträgt der bisherige Schuldenhilfe für Griechenland schon das etwa dreifache seines Haushalts, während Deutschland nur die Hälfte erhielt. So gerechnet ist schon heute die Hilfe für Griechenland rund sechsmal so groß wie die Hilfe, die Deutschland erhalten hat.
Oder um es plaktiv auszudrücken: Griechenland hat das Londoner Schuldenabkommen schon sechs mal erhalten – und will es jetzt noch ein paar mal mehr.
Wird das wirklich helfen?
Die Antwort ist natürlich nein. Auch mit weniger Schulden, so die Prognose, ist Griechenland nicht zu retten, weil seine Wirtschaft einfach nicht leistungsfähig genug ist. Der Schuldenschnitt, mag er auch noch so gewaltig sein, kann Griechenland nicht retten. Das Land wird vom vergleichsweise noch „harten“ Euro erdrückt. Griechenland braucht also zweierlei: Einen Schuldenschnitt und die Rückkehr zu eigenen Währung, die es dann gemäß seiner reduzierten Leistungsfähigkeit abwerten kann. Ein Wegfall der Schulden hilft nur in Verbindung mit dem Grexit – dem Ausscheiden aus der Währungsunion.
Allerdings sind solche Entscheidungen nicht nur ökonomisch zu betrachten. Klar ist: Der Schuldenerlaß, der damals in Deutschland heftig kritisiert wurde, weil nach Ansicht der Kritiker zu viele Schulden verblieben, war ein Schritt zur politischer Anerkennung und zur Einbindung in die Politik der Westmächte.
Auch die neue griechische Regierung pokert mit der Weltpolitik: Sie sucht die Anlehnung an Russland, spricht von einem Veto gegen die gemeinsam verabschiedeten Sanktionen der EU-Länder, pokert mit der Putin-Karte.
Es ist nicht der Versuch, die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen und damit Schulden später zurückzuzahlen wie Deutschland – es geht um die Ausbeutung der europäischen Partner und ein Ausscheren Richtung Russland. Mit anderen Worten: Wirtschaftlich und politisch hat Europa mit der neuen griechischen Regierung einen Feind im eigenen Haus, der sich nicht konstruktiv beteiligen, sondern sich auf Kosten der Nachbarn bereichern und ein anderes Europa will.