Spekulation mit Nahrungsmitteln gilt als unanständig. Aber ohne Trennung von Realwirtschaft und Spekulation wäre die Welt ärmer.
Im Frühjahr 1868 kauft Thomas Buddenbrook das Getreide eines wegen Spielschulden verarmten Gutsherrn “auf dem Halm” – also noch vor der Ernte. Das Gottesgericht folgt auf dem Fuß: Ein Hagelsturm vernichtet die Ernte, und der Ruin der Buddenbrooks ist unaufhaltsam. Thomas Manns Botschaft, 1901 als Roman vorgelegt und zuletzt 2008 zum vierten Mal verfilmt, hat sich tief eingebrannt in das deutsche Bewusstsein: Spekulation ist ein so massives religiös-moralisches Fehlverhalten, dass Thomas Buddenbrook nicht nur wirtschaftlich, sondern gerechterweise auch gesundheitlich zugrunde gehen muss.
Heute wie schon damals würde das den Buddenbrooks nicht wirklich passieren. Mit Wetter-Derivaten und anderen Hedgefondsinstrumenten könnten sie sich gegen Sturm, Hagel und Preisverfall absichern. Kein größerer Bauer sät heute noch Getreide, ohne es nicht schon vorher verkauft zu haben; und keine Kakaobohne in Guatemala, die nicht vor der Blüte des Kakaobaums schon längst auf der Warenterminbörse in Chicago 100 Mal umgeschlagen worden wäre. Jedes Schokoladeneis und jede Tiefkühlpizza ist eingewoben in unzählige Spekulationsgeschäfte, ehe sie ins Kühlhaus kommen. Landwirte versichern sich mit Spekulation gegen sinkende Preise; Lebensmittelhersteller brauchen stabile Preise, denn die Unbill des Wetters ist Gift für Kalkulation und Produktion. An den Warenterminbörsen kann sich so die Realwirtschaft absichern, während Banken und Spekulanten mit den aus Getreide und Kakaobohnen abgeleiteten Derivaten gegeneinander wetten – und der Profit des einen Zockers ist der Verlust des anderen. Die oft beklagte Abkopplung der Realwirtschaft von den Spekulationsmärkten ist nicht gefährlich – sondern sogar erwünscht: Bauern und Produzenten können die Risiken an die Spekulanten abwälzen. Und die oft als Zockermentalität gescholtene Risikobereitschaft der Finanzmärkte ist das notwendige Gegenstück zur Risikoscheu anderer Teilnehmer. Je größer das Rad ist, das die Zocker drehen, umso geringer ist die Gefahr der Marktmanipulation – einfach, weil sie zu aufwendig würde. Auch der Vorwurf der Preistreiberei zulasten der Hungernden fällt in sich zusammen: Weil Spekulanten immer verdienen – ganz egal, ob Preise steigen oder fallen. Spekulanten verstärken Trends, nehmen sie voraus – aber verändern weder Richtung noch langfristige Höhe. Und: Nachdem jahrzehntelang zum Kummer der Entwicklungshilfe die Preise für agrarische Rohstoffe der Dritten Welt gefallen sind, steigen sie nun wieder. Wachstum der Weltbevölkerung, Getreide, das in den Tank wandert, und Landverbrauch sind dafür verantwortlich.
Proletarier zahlen für Junker
Nun mag man den Spekulationsmarkt regulieren, um Übertreibungen zu verhindern und Transparenz herzustellen. Aber mit einem Verbot hat Deutschland schlechte Erfahrung gemacht: Weil infolge der ersten Globalisierungswelle im 19. Jahrhundert in Deutschland die Getreidepreise sanken, erzwangen die ostelbischen Junker ein Verbot des Terminhandels auf Getreide. Die Lobby der Großagrarier setzte auf staatlich garantierte Festpreise – die Zeche zahlte das hungernde Proletariat mit überhöhten Brotpreisen. Der Spekulant als Feindbild war geboren, Freihandel und Börsen gerieten in einen Zangengriff: Die Linken konnten wegen des nur schwer nachvollziehbaren Börsengeschehens den gesamten Kapitalismus als eine sittlich verwerfliche Wirtschaftsorganisation entlarven. Im Bürgertum verbündeten sich Ideen wie das altchristliche Zinsverbot, das Ethos von “saurer Arbeit im Schweiße des Angesichts” bald mit Imaginationen einer jüdischen Weltverschwörung zu einer mörderischen Mischung.
Nun war es ja eine Zeit noch vor dem Computerhandel. Aber es ist doch erstaunlich, wie gedankenlos auch heute noch auf vermeintliche Fehlentwicklungen eingedroschen wird, obwohl es sich um die Konstruktionsprinzipien einer segensreichen Erfindung handelt.
(Erschienen auf Wiwo.de am 26.11.2011)