Tradition ist ein Rucksack. Darin befindet sich Überlebensnotwendiges, aber bergauf wird er schwer. Was lässt man zurück, was braucht man doch, was gibt es unverzichtbar Neues im Outdoor-Angebot? Das ist die Frage auch nach den Regeln, die man in so einem traditionsreichen Blatt wie der Neuen Zürcher Zeitung befolgen sollte und welche nicht. Das ehrwürdige Alter der Zeitung, und wer hat schon 243 Jahre gedruckte Geschichte oder ein Archiv von circa zwei Millionen Seiten vorzuweisen, mit Dateien im Umfang von 70 Terabyte, die Pflege dieses ehrwürdigen Alters der Institution ist das, was Friedrich August von Hayek eine „kulturelle Evolution“ nannte. Derart gewachsene Regeln seien kein Produkt der Vernunft, sondern hätten sich parallel zur Vernunft entwickelt und sich über Generationen bewährt und beziehen daraus ihre Stärke. Man kann sie nicht erfinden. Man kann sie nur leben, er-leben.
Aber was muss man trotzdem ändern?
Welche Regeln stellt die Revolution des Internets an die Stelle jener, die wir seit Gutenbergs beweglichen Lettern und dem darauf basierenden Schriftgut uns kollektiv erarbeitet haben und die guten Journalismus und seine Kehrseite, den verlegerischen Erfolg ausmachen?
Viele Zeitungsleute fügen heimlich in ihr Nachtgebet den Satz ein: „Lieber Gott mach, dass wir morgen aufwachen und das Internet ist weg“. Nicht nur Zeitungsleute, die einst reich und mächtig waren und langsam in die Bedeutungslosigkeit verschwinden, beten das; auch die Europäische Union, die bekanntlich in diesen Tagen wieder mit dem Digital Service Act einen Vorstoß unternimmt, um elektronische Publizistik einem Zensor zu unterstellen. Sie wissen, offiziell gibt es Hass und Hetze nur im Internet, niemals aber auf bedrucktem Papier. Aber die Zeiten haben sich geändert, die Wut der Zensoren auf Journalisten nicht.
Öffentlichkeit war früher das Produkt einiger weniger Medien. Jeder Sender hatte viele Empfänger. Das erklärt den Ärger der Zensoren, deren Arbeit zunimmt.
Heute haben wir viele Sender, jeder von uns ist das Medium, um den Satz von Herbert Marshall McLuhan zu paraphrasieren, wonach das Medium die Message ist. Heute sind wir die Message, und wir sind viele.
Was bleibt da noch über für die einst regionalen Platzhirsche und ihren Kirchturmsprengel von Lesern im globalen Maßstab betrachtet, ständig angegriffen vom Internet?
Was bleibt über von der Neuen Zürcher Zeitung, einer ansehnlichen, aber im globalen Maßstab kleinen, auch wenn es schmerzt: einer Lokalzeitung des Planeten, den beispielsweise die Bundesregierung immer als Maßstab ihres Handelns beschwört?
Was bleibt von der großen Geschichte, die von einer Art Shitstorm verweht wird, als hätte es sie nie gegeben?
Das sind gewaltige Herausforderungen an Verleger und Chefredakteure.
Eric Gujer ist seit 1986 bei der NZZ. Sein biographisches Grenzgängertum befähigt ihn dazu in besonderer Weise, diese Fragen zu beantworten.
Eric Gujer und die Umbrüche der Welt
Sie wurden als Sohn des Schweizer Juristen und Unternehmers Hans-Georg Gujer und seiner deutschstämmigen Frau Johanna in Zürich geboren, wuchsen aber in Königstein im Taunus und Baden-Baden auf. Ihr Vater, der aus Volketswil bei Zürich stammte, war Geschäftsführer einer Accumulatorenfabrik in Rastatt. Nach dem Abitur absolvierte Gujer zwischen 1982 und 1984 ein Praktikum beim Südwestfunk (SWF) in Baden-Baden sowie ein Volontariat beim Mannheimer Morgen; damals war der Mannheimer Morgen eine höchst angesehene Lokalzeitung und zu meiner Zeit als Student der Münchener Journalistenschule prügelten wir uns um einen Praktikumsplatz dort; heute ist der Morgen bedeutungslos und der Südwestfunk abgesunken zu einer verfetteten Anstalt im wahrsten Sinne des Wortes: eine Anstalt. Damals war es anders. Anschließend studierte er Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Universität zu Köln.
Seine Tätigkeit bei der Neuen Zürcher Zeitung begann Gujer 1986 als Praktikant und freier Mitarbeiter. Seit 1989 arbeitete er als Korrespondent für die NZZ: Von 1989 bis 1992 in (Ost-)Berlin und danach für die entstehenden neuen Bundesländer.
Von 1992 bis 1995 als Israel-Korrespondent in Jerusalem, von 1995 bis 1998 in Moskau für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Wiedervereinigung in Deutschland, Zerplatzen der Sowjetunion, das Leben auf dem Pulverfass Israel, das prägt und das alles auf dem Fundament einer Zeitung in der Zeitkapsel Schweiz mit der ihr ganz eigenen Zeitrechnung in der Kombination von aus deutscher Sicht geradezu archaischer Tradition herausgeputzter Laubengänge, mit sicheren Schließfächern und bei gleichzeitig ständiger Modernisierung zur Bewahrung des Gestrigen.
Von 1998 bis 2008 arbeitete er als Deutschland-Korrespondent in Berlin; aus der Bonner Republik, einer Art bescheidenen rheinischen Kurzzeit-Variante der Schweiz, wurde die auftrumpfende Berliner Republik. Eric Gujer ist deren Beobachter.
Diese Veränderung eines Staatswesens zeigt sich in der Architektur: Das Bonner Kanzleramt war zunächst die Villa, die ein wohlhabender Zuckerbäcker für seine Geliebte gebaut hatte, und das Parlament tagte im Hörsaal der Kunstakademie: Jetzt wird im wilhelminisch-monströsen Reichstag getagt, und aus dem als Sparkassen-Neubau titulierten späterem Bonner Kanzleramt zieht man um in die sogenannte Waschmaschine, ohnehin schon die größte ihrer Art und demnächst erweitert zur so ziemlich größten Regierungszentrale der Welt nach dem Kreml. Wir sind ja wieder wer.
Journalisten müssen solche Umbrüche intensiver erleben.
Und wer wir Deutschen jetzt wieder sind, dafür hält uns Gujer täglich den Spiegel vor.
Mit der Berliner Redaktion der NZZ und ihrem auf Deutschland ausgerichteten Online-Format hat Gujer seinen Traditionsbruch vollzogen, oder sagen wir: die evolutionäre Anpassung der Regeln vollzogen. Es ist ja so, dass Medien, vielleicht mit Ausnahme von 2, 3 angelsächsischen sowie Russia Today nach wie vor auf kleine Sprachräume begrenzt sind. Ausbruch aus der Enge der Herkunft ist für Zeitungen besonders schwer.
Ich habe das Scheitern einer süddeutschen Tageszeitung in Nordrhein-Westfalen erlebt, den blamablen Rückzug diverser deutscher Medien aus ihren Kolonial-Abenteuern in Österreich, den katastrophalen Rückzug von Gruner+Jahr. Im einstigen Zeitschriften-Reich von Gruner+Jahr in Paris, Italien, in den USA, Großbritannien und Moskau ging die Sonne nie unter; heute sind die schäbigen Reste von Gruner+Jahr, der Stern, eine Art Programmbegleitpresse von RTL in Köln. Henry Nannens Stern überstrahlte die Welt und endet als Programmheft eines Trash-Senders – das alles muss man sich vor Augen halten, um Eric Gujers Leistung würdigen zu können, mit der NZZ ein relevantes deutsches Medium aufgebaut zu haben.
Es wäre falsch, hier nicht über seine redaktionellen Beträge zu sprechen; Sie sind nicht zum Manager verkommen, sondern Journalist geblieben. Sie haben einen ganz eigenen Ton: So ein bisschen, naja, altfränkisch kommt er daher, in der Sprache betulich und unaufgeregt, aber in der Sache knallhart.
Die deutsche Energiepolitik nennt er „ein Sammelsurium von Skurrilitäten und Irrtümern“.
Damit könnte man es schon belassen. Aber er zieht Lehren daraus:
Die Lehren der Skurrilität
„Die letzten Kernkraftwerke werden abgeschaltet, obwohl sie sicher und wirtschaftlich sind – und das inmitten einer Energiekrise. Bizarrer geht es nicht. Der Grund hierfür ist pure Ideologie. Ideologien sind in der Menschheitsgeschichte stets die stärksten Treiber gewesen, gerade weil sie auf Fakten keine Rücksicht nehmen. Sie beruhen auf dem unbedingten Willen, die Welt einer Gesinnung zu unterwerfen.“
So geht Gujer auch mit dem eigenen Gewerbe ins Gericht und kritisiert das, was eine Kollegin von der SZ einmal als „freiwillige Gleichschaltung“ der deutschen Journalisten und ihrer Medien nannte: den Mainstream.
Für ihn sind die größten Verlierer der angeblichen Corona-Pandemie die Medien. „Die Kritiker einer repressiven Seuchenpolitik wurden abgekanzelt“, und zwar nicht nur von der Regierung, sondern von den Medien.
Das war und ist auch in der Migrationspolitik zu beobachten gewesen:
„Wer publizistisch aus der Herde ausscherte, wird als ‚AfD-nah‘ oder als Wegbereiter eines neuen Nationalismus diffamiert. Auf die Idee, dass man eine eigene Meinung haben kann und trotzdem kein Populist ist, kommen die Wächter der manchmal ziemlich illiberalen liberalen Demokratie nicht. In beiden Krisen haben sich die Redaktionen zu Komplizen der Regierungen gemacht. Von einer vierten Gewalt kann keine Rede mehr sein. Schlimmer noch ist, dass sich die Journalisten selbst an die Kette legten mit Begriffen wie ‚Grenzen des Sagbaren‘. Diese wurden zusehends enger gezogen. Dabei sollte für einen Journalisten im Rahmen der Gesetze nichts ‚unsagbar‘ sein. Sonst schafft sich der Journalismus ab.“
Dass die NZZ das neue Westfernsehen sei, wurde zum geflügelten Wort in einem Land, in dessen östlichem Teil die Antennen gekappt wurden, wenn sie zu deutlich nach Westen ausgerichtet waren und das Querdenken seiner Fernsehnutzer damit offenbarte. Und schnell wurde das Wort einem vermeintlich besonders Rechten zugeschrieben, denn Argumentation in Deutschland funktioniert gerne nach dem Muster: Nicht, was gesagt wird, entscheidet, sondern ob der Sager politisch korrekt dem rotgrünen Lager angehört.
Da zeigt sich, dass man bei aller Erneuerung doch ein paar alte Brocken im Rucksack mitschleppen sollte, bei aller Beschwerlichkeit und dem Gewicht von stählernem Pickl und Steigeisen:
Es ist Haltung, aber nicht jene Haltung, wie sie in der Klimafrage gefordert wird und in der kritiklosen Übernahme unbewiesener Modellannahmen sich auszeichnen soll. Bekanntlich ist ja Deutschland mit einem kühlen Klima gesegnet; in 187 Ländern des Planeten ist es wärmer als bei uns. Aber natürlich brauchen wir einen Hitzeplan und müssen lesen, dass Hitze zur Gehirnschrumpfung führt. Nichts ist so dumm, dass es nicht in deutschen Zeitungen breitgetreten wird – wenn es um die Rettung des Klimas geht, setzt jede Kritikfähigkeit schlagartig aus.
Es ist aber die alte kritische Haltung, die Journalisten auszeichnet. Glaube niemandes Behauptung, prüfe Deine Quellen, sag Deine Meinung, auch wenn es Ärger gibt, sei Opposition und Kontrollinstanz gegenüber einem konservativen Establishment, und ich füge hinzu: auch wenn die schwärzesten Geister sich heute grün anstreichen.
Ich gratuliere Eric Gujer zum diesjährigen Libertatem-Preis mit höchster professioneller Wertschätzung.