Es ist ein wunderbares Bild: Der Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer, der „Möchte-so-wahnsinnig-gern“ Mario Voigt aus Thüringen und der Ministerpräsident Dietmar Woidke aus Brandenburg pilgern nach Berlin, um am Hof von Sahra Wagenknecht gnädigst um Aufnahme in ihre Koalition zu bitten und als Dank ihre Ämter und Kronen aus ihrer Hand entgegenzunehmen. Als Morgengabe bringen sie einen Text aus der FAZ mit, in dem sie ihren Gehorsam und ihre Unterwürfigkeit zu Protokoll geben: Deutschland möge doch bitte-bitte seine Haltung in der Ukraine-Frage aufgeben und bei Putin um Frieden zu seinen Bedingungen anfragen.
Die CDU gibt sich auf
Nun kann man zum Ukraine-Krieg stehen, wie man will: Sahra Wagenknecht verkehrt die Fronten. Aus den Kriegsparteien CDU und SPD werden Nachgeberlinge – Appeasement nannte man das früher. Im Wahlkampf hatte es noch ganz anders geklungen: In Brandenburg gebe es kein Außenministerium, sagte Woidke. Jetzt dreht er bei und macht auf Landesebene Außenpolitik gegen die erklärte Linie seiner Partei. Kretschmer und Voigt folgen gehorsamst dem Parfüm der Macht. Es ist schön anzusehen, wie Friedrich Merz darüber tobt – Merz kritisierte den Vorschlag scharf: „Die Ukraine kämpft um ihr schieres Überleben. Dabei müssen wir ihr auch in unserem eigenen Interesse weiter helfen. Friedensgespräche wird es nur geben, wenn beide Seiten dazu bereit sind.“ Schließlich will er ja auch mit den Grünen koalieren, und jetzt wechseln seine Ministerpräsidenten die Seiten. Dumm gelaufen. Manche sagen: alles nur Show, sie meinen es anders. Wenn sie sich nur nicht täuschen.
Es gibt nur noch einen Ort außer Wagenknechts Hofhaltung in Berlin, an dem man noch lieber wäre: am Frühstückstisch des Ehepaars Lafontaine-Wagenknecht in Merzig im Saarland. Man möchte dabei sein, wie sie die Zeitung aufschlagen und losprusten. Sich kugeln vor Lachen. So viel Selbstverleugnung von Spitzenpolitikern hat man lange nicht gesehen. Und Oskar Lafontaine, der alte Fuchs, ist dabei, nach der SPD auch die CDU zu zerstören. Denn dieser Kurswechsel spaltet die Partei doppelt: nicht nur in der Ukraine-Frage, die auf Landesebene nur Symbolcharakter für mögliche Standfestigkeit und Herrschaftsanspruch hat.
Sahra Wagenknechts Politik geht gegen die Herzkammer beider Parteien
Der SPD stößt Wagenknecht ins Herz, weil sie mit ihrer Forderung nach Änderung der Zuwanderungspolitik Nancy Faeser vor den Kopf stößt, die systematisch jede Begrenzung zwar verspricht, um sie anschließend aber zu torpedieren. Und bei der CDU gab es mal einen Wirtschaftsminister und später Kanzler Ludwig Erhard sowie ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Verfolgt man Sahra Wagenknechts Argumentation über den Tag hinaus: Verstaatlichung von Großkonzernen und Wohnungsunternehmen bis hinab zu ein paar Genossenschaften und größeren Handwerksbetrieben will sie forcieren – da bleibt nichts von Marktwirtschaft übrig. Wenn sie Mittelstand sagt, dann nur, um einen Spalt in die Wirtschaft zu treiben – gegen Großkonzerne war bereits Lafontaine und er beklagte lauthals das Wirken des Großkapitals von der Wallstreet. Das ist ein Konzept, das seit den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts Parteiprogramm der nationalen Sozialisten war.
Schon wächst der Protest in der Partei. Einige ahnen, dass Lafontaine es wieder ernst meint. Denn eines ist er nicht: ein Opportunist wie die heutige Generation der glattgeschniegelten Karrierepolitiker. Er meint es ernst. Lafontaine ist 81. Er hört ein wenig schlechter. Er fühlt sich angeschlagen. Seit dem Mordanschlag, ein Messer verfehlte nur wenige Millimeter die Halsschlagader, weiß er um die Begrenztheit. Jetzt ist eine letzte Chance, endlich die Republik nach links zu wenden. Zusammen mit Ehefrau Sahra Wagenknecht.
Wer ist nun diese Sahra Wagenknecht, die beide Traditionsvolksparteien vor sich hertreibt wie kopflos schnatternde Gänse, wenn der Fuchs im Geviert ist?
Die mächtigste Frau der deutschen Politik
Mit Recht darf man sie die stärkste und mächtigste Frau der deutschen Politik nennen, seit Angela Merkel ihre Pension verzehrt und nur noch ihre alten Regierungs-Blazer aufträgt. Klaus-Rüdiger Mai hat eine lesenswerte Biographie geschrieben.
Er zeigt eine eigenständige, kluge wie neugierige Frau. Sie ist gedanklich verhaftet in einem altmodischen Marxismus überkommener DDR-Prägung. Und immer stand bei Weichenstellung ein Mann an ihrer Seite, der die jeweilige Häutung der im Kern unveränderlichen Frau mit betrieb. Dichter Peter Hacks hat die Abiturientin und Jungpolitikerin als Mentor mit dem Konzept des orthodoxen Kommunismus vertraut gemacht. In dieser Welt ist Lafontaine ein Revisionist, zu feige, die Interessen der Arbeiterklasse wirklich mit Gewalt durchzusetzen. Auf den Denker folgte ein Betrüger und Filou; der Letztere brachte der im Kargen aufgewachsenen jungen Frau bei, wie man Champagner flötet und das süße Leben beim Klassenfeind genießt. Das ist die eine Anschlussstelle zu Oskar Lafontaine, der als Ministerpräsident die Landesvertretung des Hungerlandes mit einer Drei-Sterne-Küche zum Feinschmecker-Tempel in Bonn aufgerüstet hatte und sich damit brüstet – heute ist das Paar Feinschmecker in Berliner Edelküchen. Aber der Mann hat mehrere Dimensionen zu bieten.
Wagenknecht ist heute Spitzenpolitikerin, aber hatte nie wirklich Verantwortung. Sie war nie Stadträtin, nie Bürgermeisterin, nie Staatssekretärin, nie Ministerin; nicht einmal im parlamentarischen Alltag hat sie Spuren hinterlassen. Sie war Mitglied der weitgehend ausgegrenzten Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag. Zunächst nach Düsseldorf ausgewandert und dann ins Saarland, war sie eher für einen der vielen leeren Stühle im Bundestag verantwortlich. Gelegentlich konnte sie da große Reden schwingen. Verantwortung, Management, Inhalt im politischen Alltag – das war nicht ihr Geschäft. Gestählt wurde sie im internen Intrigenspiel der Linken – das ja; und es spricht für sie, dass es ihr zu blöde war, sich mit den trüben Funzeln im roten Dämmerlicht der Fraktion zu messen. Aber das ist etwas anderes, als auf der großen Bühne die Regie zu führen oder gar politisches Handeln zu verantworten. Sie hat ohne Vorbereitung die ganz große Bühne betreten.
Der Meister der Zuspitzung
Die Bühne hat ihr Oskar Lafontaine bereitet. Und er ist ohne Zweifel eine der prägendsten Figuren der deutschen Nachkriegsgeschichte. Klug, skrupellos, fintenreich, in vielen Schlachten erfolgreich und zuletzt geschlagen und wieder auferstanden und wieder geschlagen, ist er jetzt ein brutaler Anführer im Rachefeldzug seines eigenen Ich. Kaum ein Thema in den letzten 40 bis 50 Jahren, bei dem er nicht seine Spuren hinterlassen hat, und immer waren es schwerste Verletzungen, die er austeilte, und Vernichtung, die er angerichtet hat. Er hat als junger SPD-Politiker den Nachrüstungsbeschluss von Kanzler Helmut Schmidt angegriffen und mit riesigen Demonstrationen bekämpft. Zu den vom Kanzler gelobten Sekundärtugenden Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit und Standhaftigkeit sagte er, mit denen könne man „auch ein KZ betreiben“.
Mit den Massendemonstrationen wie mit der moralischen Demontage Schmidts hat er dessen Sturz herbeigeführt. Jetzt ist sie wieder da, die Entmoralisierung der offiziellen SPD-Politik und das tief empfundene Verständnis für Moskauer Kriegspolitik von Breschnew bis Putin, verbunden mit der Weigerung, dagegen Härte einzusetzen, aufzurüsten, deren Raketen eigene entgegenzusetzen. Lafontaine ist sich treu geblieben. Das unterscheidet den studierten Physiker von den Plagiatoren wie Mario Voigt, deren Wissen aus Wikipedia stammt und die ihre kleidsamen Wendejacken beidseitig zu tragen wissen.
Mauern wollte er auch an anderer Stelle errichten: Die Einwanderung von jährlich 220.000 Aussiedlern aus Russland benannte er als Mitursache für die Schieflage in den gesetzlichen Sozialversicherungen im Laufe der 1990er Jahre und befürwortete eine Zuzugsbegrenzung. Lafontaine schaut von seinen Villen im Saarland über die Felder nach Frankreich, nie nach Chemnitz oder Kasachstan. Und wie ein Findling, ein zurückgelassener Felsblock aus der Eiszeit liegt er im flauschigen Kuschelbett der heutigen Stuhlkreis-Politiker herum mit einer rhetorischen Schärfe, die Freund und Feind scharf trennt und mit ihrer konsequenten Zuspitzung der Sachverhalte heute als unerlaubt verletzend empfunden wird. Er ist ein Meister der Zuspitzung und nimmt eigene wie fremde Wunden in Kauf.
Am 14. Juni 2005 erklärte Lafontaine auf einer Kundgebung in Chemnitz, der Staat sei „verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen“. Der synonym für „Gastarbeiter“ verwendete Ausdruck „Fremdarbeiter“ wurde als Teil der Sprache des Nationalsozialismus kritisiert. Würde heute ein Björn Höcke von Fremdarbeitern sprechen, die nicht einmal arbeiten – die Hölle würde ihren grausigsten Schlund öffnen und ihn verschlingen. Lafontaine steht solche Konflikte durch – und bleibt bei seinen Festlegungen.
Vor der Bundestagswahl 2017 forderte Lafontaine einen Kurswechsel in der Linkspartei, der er damals angehörte, indem er sich für Abschiebungen von Flüchtlingen aussprach, und ging damit auf Distanz zu seinen Parteikollegen. Die Linke, so Lafontaine, müsse reflektieren, „warum so viele Arbeiter und Arbeitslose die AfD wählen“ würden. Das ist die zweite Nahtstelle zu Sahra Wagenknecht. Das hat sie direkt übernommen. Setzt sie jetzt endlich die Schließung der Grenzen durch? Viele frühere Gegner von Lafontaine würden das heute mit anderen Argumenten begrüßen. Der Sound hat dieselbe Tonlage.
Der Kanzler-Killer
Aber Helmut Schmidt blieb nicht der einzige Kanzler, der an Lafontaine gescheitert ist. Die Niederlage von Helmut Kohl ist der eigentliche Triumph im bisherigen politischen Leben Lafontaines. Über die Koalitionen der SPD in den Ländern blockierte er als Oppositionsführer praktisch jedes Gesetz der Bundesregierung. Jedes. Er führte Deutschland in eine Lähmung, um die Verantwortung dafür Kohl zuzuschieben und eine Änderung der Mehrheit herbeizuführen. Die Demontage Kohls war Lafontaines Werk und Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat der SPD der Gewinner der von Lafontaine eingeschlagenen Strategie. Es ist ein böses Omen für CDU wie SPD heute: Die von Sahra Wagenknecht geführten Koalitionen in den ostdeutschen Länder sind ein machtvolles Instrument gegen jede Bundesregierung.
In der SPD allerdings hatte Lafontaine den Wettbewerb um die Macht an Gerhard Schröder verloren. Die SPD folgte lieber Schröders vergleichsweise moderatem Mittekurs mit marktwirtschaftlicher Motorik, wie es im programmatischen Slogan „Die neue Mitte“ angelegt war und in einem Buch dieses Autors mit dem Titel „Ab in die Neue Mitte“ ausformuliert wurde – ein Projekt das letztlich wegen der Schwäche der FDP und der Wahlgewinne der Grünen aufgegeben werden musste. Statt mit der FDP zu regieren, durfte Jürgen Trittin sein Lebenswerk als Erfinder des Dosenpfands krönen. Lafontaine wurde zwar mächtiger Finanzminister im Kabinett Schröder – aber nach 142 Tagen gab er auf. Intern hatte Schröder mit seinem Vertrauten Bodo Hombach Lafontaine ausmanövriert. Aber der Triumph währte nicht lange.
Eine Ehe überlebt den Parteienstreit
Lafontaines zweite Karriere begann mit der von ihm betriebenen Gründung der WASG und deren Vereinigung mit der erst von SED auf SED-PDS und dann auf PDS umbenannten Partei zur Partei: Die Linke. Bekanntlich ist das parteipolitisch mit Lafontaine und der Linken nicht lange gutgegangen, aber man traf sich privat. Lafontaine und Wagenknecht wurden ein Paar. Erst ging Lafontaine, nachdem er sich als Linken-Führer im Saarland mit den dortigen Linkspolitikern buchstäblich im Sandkasten die Förmchen auf den Kopf geschlagen hat. Wagenknecht blieb, jahrelang. Dann spaltete sie mit ihrem Bündnis Die Linke und schickte sie voraussichtlich ins historische Abseits.
Faszinierender als Lafontaines Aufstieg in die höchsten Himmel der Politik sind seine schnellen Wendungen und Rachefeldzüge. Zweimal hat er die SPD vielleicht nicht zerstört, aber wesentlich dazu beigetragen, dass die Traditionspartei zur Splitterpartei degenerierte, die in vielen Ländern an der 5-Prozent-Hürde zu scheitern droht. Er hat Die Linke mitbegründet und groß gemacht, und seine Frau hat sie gespalten. Mit ihrem BSW zieht Wagenknecht die CDU in den Sog des Untergangs, und es könnte ein tödlicher Strudel werden. Für die CDU.
Seit Hans Herbert von Arnim gelten die Parteien und die Durchdringung des Landes durch ihre abhängigen Funktionäre als Achillesferse Deutschlands. Sie haben sich zuerst des Staates bemächtigt, neuerdings der Justiz und der Wirtschaft. Dieses Gespinst war nie abzustreifen. Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht könnten es schaffen, die Parteienlandschaft umzupflügen. Das war übrigens nie Lafontaines Absicht. Er verfolgt eine klassisch linksradikale Politik; seine Frau ist gemäßigter. Sie füllt die Repräsentationslücke von links, die entstanden ist, weil Die Linke wie SPD sich nicht mehr um die kleinen Leute kümmern, sondern um Migranten, Transsexuelle, Randgruppen und die Windradlobby. Mal schauen, ob Lafontaine, der stets das Größte wollte und das Chaos schuf, der eine Art Dämon der Politik war, jetzt zusammen mit Sahra Wagenknecht eher aus Versehen was Neues schafft: die Reform eines dysfunktional gewordenen politischen Systems durch seine Zerstörung.
Man möchte dabei sein, wenn das Paar – er früher einer der ganz Großen und sie derzeit die Dirigentin der Politik – über ihre Erfolge lachen.