Tichys Einblick
Hauptsache, "Haltung"

Bei Spiegel, Welt, Stern und FAZ bringen die Zahlen die Haltung ins Wackeln

Ein neuer Chefredakteur beim Spiegel, eine abgesetzte Imagekampagne bei der FAZ, bei der WELT soll Werbung nicht wirken und beim Stern gibt es Ärger mit der Rückkehr aus der Babypause - wenn Zahlen nicht stimmen, rollen Köpfe. Hauptsache, die "Haltung" bleibt.

IMAGO - Collage: TE

Journalisten reden gern darüber, welche „Geschichten“ sie schreiben, recherchieren, dem Publikum präsentieren. Das führt bei den Lesern häufig zu Irritationen: „Geschichten“, das klingt nach „erfunden“, nicht so ganz der Realität entsprechend, geschönt, zurechtgebogen, auf der schmalen Grenze zum Märchen wandelnd: ist Baron von Münchhausen wirklich auf einer Kanonenkugel durch die Lüfte geritten?

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Der klassische Journalismus wollte sich davon immer entschieden abgrenzen. Die Amerikaner erfanden den Begriff der „News-Story“, also die auf Fakten beruhende Reportage, die trotzdem appetitlich für den Lesegenuss aufbereitet daher kommt. Aber da lauert schon die Verführung: Die News-Story wird gebürstet wie ein Anzug, auf dass unpassende Flecken sich entfernen mögen. Ein paar farbige Begriffe helfen, aus dem Vortrag wird „Gebrüll“, der Lesbarkeit wegen wird ein irritierendes Detail weggelassen und ein unwichtiges tritt an seine Stelle. Ein sehr, sehr alter Journalisten-Witz zeigt, wie Grundhaltungen Medien prägen: „Bei der Süddeutschen klingelt in den Geschichten das Telefon, bei der Abendzeitung schrillt es, beim Münchner Merkur gilt das Telefon als noch nicht erfunden.“ Beim Ausmalen der Wirklichkeit strauchelt der Reporter und wird zum Gossen-Literaten schlecht erfundener Wirklichkeit.
Journalismus als Teil der Unterhaltungsindustrie

So funktioniert das Gewerbe. Puristen verstehen sich als seriöse Welterklärer: WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn hat die Rundfunkgebühr zur „Demokratieabgabe“ hochgejubelt. Aber seine Stellenbeschreibung offenbart, wie rutschig der Boden ist: Als „Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung“ wird er beim WDR geführt; ein echter Tausendsassa, der sich auf der Liane vom Baum der faktischen Erkenntnis hinüberschwingt ins Genre der Unterhaltungs-Klamotte – und wieder zurück. Beim WDR, und nicht nur da, verschwimmt alles zur Unterhaltungsindustrie und ja: wollen nicht auch die Nachrichten unterhalten? Wen interessiert schon, dass der Gardasee ein gut gefüllter See ist und keine Trockenwüste, wenn man letzteres erfinden kann?

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Der Spiegel wollte es immer schaffen, diese Kombination aus härtestem Journalismus und Lesegenuss. Rudolf Augstein hat die Kunst der News-Magazine aus den USA ins damals amerikanisch besetzte Deutschland gebracht; die Unterhaltung mit Mitteln des Journalismus. Es war eine Erfolgs-Mischung – Mission und Information; wobei die Information gerne der Mission untergeordnet wurde. Inszeniert wurde DER SPIEGEL als „Sturmgeschütz der Demokratie“, das die angeblich so demokratiefeindliche Adenauerzeit sturmreif für Willy Brandt schießen sollte; der Weltkriegsleutnant Augstein hatte noch einen Sprachgebrauch, der von seinen weichgespülten Nachfolgern bald auf die Verbotsliste kam. „Schreiben, was ist“, wurde zum Leitmotiv; auch wenn viele heiße News im Kalten Krieg Werk von geheimdienstlichen Bemühungen waren oder kunstfertig so zurecht frisiert wurden, damit Helmut Kohl wirklich nie, aber auch wirklich NIE! Recht bekommen konnte. Da würde der frühere Bundespräsident Heinrich Lübke zu Unrecht als KZ-Baumeister diffamiert und lächerlich gemacht; „Liebe Bürger von Okasa“ (damals ein verbreitetes Stärkungsmittel für Männlichkeit), so soll er die Bürger von Osaka begrüßt haben und mit „Liebe Neger“ Gastgeber in Afrika, das damals noch „Schwarzafrika“ hieß. Alles erfunden. Und damit sind wir in der Gegenwart. Die Versprecher von Annalena Baerbock, ihre Kobolde in Batterien, der gespeicherte Strom in den Hochspannungsleitungen, die Wende um 360 Grad und so nebenbei eine Kriegserklärung an Russland: Was tun die fröhlichen Spötter vom Spiegel, wenn die Wirklichkeit sie nicht nur einholt, sondern überholt? Wenn der von ihnen erfundene Heinrich Lübke sich in Person von Annalena Baerbock manifestiert?

Jetzt, wo er das Sturmgeschütz aus dem Museum holen müsste, um die Demokratie vor der Zerstörung durch infantile Moralisten und grüne Lobbyisten zu verteidigen – jetzt hört man nur ein feuchtes pfffffft, ein fauliges Tönchen statt einem ordentlichen Donnerschlag. Es geht nicht mehr um einen CDU-Präsidenten, sondern um eine grüne Lichtgestalt. Die grüne Mission hat endgültig die News degradiert, zum störenden Beiwerk reduziert. Es geht nur doch darum, dem Wahren, Schönen und Grünen endlich zum passenden Klima zu verhelfen. Dumm nur, wenn die Haltung sich nicht mehr auszahlt. Bei der Spiegel-Gruppe brach 2022 der Umsatz in der Print- und Digitalvermarktung  prozentual zweistellig ein. Auch die Fernsehproduktion musste kräftig Federn lassen.

Andere Zahlen durch andere Köpfe

Wenn die Zahlen nicht stimmen, rollen die Köpfe, in diesem Fall der von Steffen Klusmann (57). Er war seit Januar 2019 Chefredakteur des Spiegel, jetzt wird er durch den Leiter des Berliner Büros Dirk Kurbjuweit ersetzt. Klusmann hat eine glänzende journalistische Karriere hinter sich, nachdem er zuvor dieselbe Position bei dem zur Spiegel-Gruppe gehörenden Manager Magazin hatte. Davor war er unter anderem Chefredakteur der Financial Times Deutschland, der Gruner+Jahr-Wirtschaftsmedien und stellvertretender Chefredakteur des „Stern“. Nach außen trat Klusmann kaum auf; er wirkte in der Redaktion moderierend. Damit überstand er die Relotius-Krise – der gleichnamige Reporter Claas Relotius hatte wunderbar zu lesende Geschichten geliefert, die mit Reporter-Preisen überhäuft wurden – und von der ersten bis zur letzten Zeile erfunden waren. Wie auch zahlreiche weitere „Geschichten“ anderer Autoren.

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Es waren eben „Geschichten“, und bei Geschichten liegt die Wahrheit im Auge des Betrachters. Sie lesen sich umso besser, je weniger sie durch die schnöde Wirklichkeit relativiert werden. Der Spiegel war aber nicht Opfer, als das er sich gerne darstellt – die Täuschungen von Claas Relotius sind keine Einzelfall, nur in ihrer Ausführung schlechthin genial: Denn kaum jemand sonst wie Relotius erahnt und erspürt so perfekt, wie so ein Chefredakteur fühlt und die Welt sehen will. Relotius-Geschichten zaubern die Weltvorstellung der Chefredakteure aufs Papier, er war eine Art Spiegel der inneren Phantasien und Wünsche. Er hat die Grenze zwischen Story und Geschichte am entschlossensten übertreten und sich ins Reich der Phantasie begeben, wo er die wunderlichen Weltbilder der Journalismus-Elite wuchern lässt in den schillerndsten Farben. Das macht ihn so erfolgreich – das Umstülpen der Phantasien seiner Vorgesetzten in vermeintlich journalistische Produkte. Umso leichter möglich wurde das für ihn, seit „Haltung“ jene journalistische Tugend verdrängt, die Helmut Markwort für den Focus auf die Formel brachte „Fakten, Fakten, Fakten und immer an die Leser denken“. Relotius denkt nur an die Chefredakteure.

Klusman war einer der Vorreiter dieses Haltungs-Journalismus. Sein größter Verdienst ist, dass er dies in die Welt des vermeintlich drögen und bis dato faktenorientierten Wirtschaftsjournalismus einbrachte. Die Financial Times beglückte Deutschland mit einem Wirtschaftsjournalismus, der endlich auf nüchterne Zahlen verzichtete zugunsten wirkungsreicher Könnte-so-sein-Storys. Die FTD wurde schnell beliebt, das langweilige Handelsblatt gab flugs seinen Slogan „Substanz entscheidet“ auf und begab sich erfolgreich auf die Überholspur ins Reich des fiktionalen Journalismus. Die FTD setzte sich nicht durch, aber Klusmans farbiger Journalismus verdrängte Kopf für Kopf die Betonschädel der Faktenjäger und Faktenchecker, die den Spiegel tatsächlich zu einer Institution des faktenorientierten Journalismus gemacht hatten.

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Die neue Spiegel-Masche wirkt über das Hamburger Blatt hinaus – Erfolg ist das Vorbild. Wollten lange alle so investigativ recherchieren wie der Spiegel, so wollen sie heute so erfinderisch sein in der Gestaltung der geschriebenen Wirklichkeit wie das große Vorbild aus Hamburg. Die Verschiebung der News-Story hin zur Geschichte wiederholt sich in fast jeder Redaktion. Er verändert sogar die Politik. Anders ist Deutschlands Abschied aus der Wirklichkeit nicht zu erklären – seine wahnwitzige Energiepolitik ebenso wenig wie die Öffnung zur Massenmigration und die klimatisch völlig ergebnisfreie Wärmepumpe: Produkte einer Phantasie, die das Gute will und das Schlechte nicht wahrnimmt und daraus eine fiktionale Öffentlichkeit schafft. In der bewegen sich Entscheider zwischen den Schatten, die die letzte verbliebene Wirklichkeit noch wirft – der Erkenntniswert für die Politik ist so begrenzt, wie die Beobachter in Platons Höhlengleichnis beschränkt sind, die nur die Schatten sehen, aber nicht an eine bessere Sicht auf die Wirklichkeit gelangen können. Und Relotius ist kein Einzelfall. Auf die schwerblütige Aufarbeitung beim Spiegel folgte das Flüchtlingsmädchen Maria. Maria ist umgekommen, Folge einer Zurückweisung an der griechischen Seegrenze, die martialisch „Push Back“ geframed wird. Grenzen öffnen, bedingungslos, so lautet die ungeschriebene Botschaft der erfundenen Story.
Kein kluger Kopf mehr bei der FAZ

Es ist kein Spiegel-Phänomen. Auch die FAZ hat den Haltungsjournalismus als neues Leitbild übernommen. Früher steckte hinter der Zeitung „ein kluger Kopf“. Auch die FAZ bemüht diesen Slogan nur noch eher müde, dann und wann. In einer schön anzusehenden Kampagne aus 2021 erklärte ein junges Model warum die FAZ ihr Blatt sei: „Weil ich eine Haltung zu Themen haben will und nicht bloß einen Wissensstand“. Wissen, also Fakten, sind nur noch das Beiwerk; denn „Freiheit beginnt im Kopf“, so die Reklame. Die neue Freiheit der FAZ bedeutet, die Wirklichkeit der Haltung unterzuordnen. Mittlerweile hat die FAZ diese Kampagne nach Protesten der noch verbliebenen Leserschaft eingestellt. Ihre Auflage ist auf rund 155.000 Exemplare geschrumpft; das eigene Druckhaus wird aufgegeben und das früher führende Blatt kann so nebenbei bei der Offenbach Post mitlaufen: Für das frühere Weltblatt reicht es als Beiprodukt einer kleinen Lokalzeitung.

Abschied von den Lesern:
Die FAZ entdeckt den „planetarischen Journalismus“
Ist es nur das Internet, dass die Relotius-Auflagen reduziert? Vielleicht. Sicherlich zum Teil. Jedenfalls greift die geistige Grundhaltung der Belehrung und der Besserwisserei auf immer neue Bereiche aus. Budweiser erlebte einen nie dagewesenen Einbruch seines Aktienkurses, weil eine Transperson als Role-Model für die Werbung eingesetzt wurde: Konsumenten der Marke Bud Light beiderlei Geschlechts wollen offensichtlich ihre sexuelle Identität beibehalten.

Die Welt meldet eine ähnliche Entwicklung für Adidas: „Erstmals haben Regenbogen-Werbekampagnen messbare wirtschaftliche Nachteile für die Firmen. So sank der Aktienkurs von Adidas, nachdem der Sportkonzern einen neuen Badeanzug mit männlichem Model beworben hat,“ soweit die schlichte wie richtige Analyse. „Adidas hat seine diesjährige Pride-Kollektion von dem südafrikanischen Designer Rich Mnisi gestalten lassen. Umstritten ist ein Badeanzug: eher biederer Schnitt, nichtssagendes Muster. Allerdings, und das ist der Aufreger, zeigt die Website auch ein männliches Model in der femininen Schwimmkleidung.“ Dagegen richtet sich der Protest von Frauen, die sich von Adidas herabgesetzt fühlen. Schlichte Gemüter könnten meinen, Badeanzüge müssten den Käuferinnen gefallen, sie zum Kauf animieren. Weit gefehlt. Die Konsequenz, so weit sie die Welt einfordert: „Jetzt, unter Druck, müssen die Unternehmen Prinzipientreue zeigen.“ Soll also Adidas Werbung, die verärgert, so lange konsequent beibehalten, bis sie den weiblichen Kunden irgendwann gefällt? Das ist neu.

Werbung erzählt Geschichten, macht Aschenputtel zur Prinzessin ganz ohne Kuss, allein durch den Kauf eines Kleidungsstücks, weswegen Claas Relotius neuerdings auch bei einer Werbeagentur angeheuert hat – da gehört er hin. Tragisch nur, dass er auch dort nicht mehr erfinden soll. Verkauft wurde in der Werbung bislang eine Welt der Träume; Eskapismus, und immer ist der Kaufentscheid die Lösung des empfundenen Mangels: Beleibte werden dünn, Unansehnliche attraktiv, das Haar füllig, der Traum Wirklichkeit. Aber neuerdings, keinesfalls nur bei Adidas, soll auch die Traumwelt zerstört werden, wird Übergewicht erstrebenswert, Vertreter von Minoritäten zur neuen Norm, Diversität bei der Wahl des Geschlechtspartners Pflicht, die Not der Transsexualität erstrebenswert. Armer Relotius! Welche Geschichten kann er noch erfinden?

Was tun mit der lästigen Wirklichkeit?

Und wenn die Wirklichkeit nicht so will, die Zuschauer erkennen, dass bei ARD und ZDF schon der Wetterbericht Manipulation ist, hinter der FAZ Haltung Wissen ersetzt, Relotius die besten Spiegel-Geschichten schreibt und Werbung abstoßend statt einladend wirkt?

Go woke get broke
FAZ, Welt und Bild verlieren massiv an Auflage
Wie dumm das laufen kann, erlebt der Stern. Chefredakteurin Anna-Beeke Gretemeier wollte aus der  Elternzeit in den Job zurück – doch mittlerweile gibt es eine komplett neue Führung unter Alleinchefredakteur Gregor Peter Schmitz. Der will angeblich noch dazu den aktivistischen Haltungs-Journalismus zurückdrängen, für den Gretemeier steht. Und nun, wohin mit der Dame?

„Eine junge Mutter in Elternzeit aus dem Job zu drängen, würde so gar nicht in das Selbstbild des Gütersloher Medienriesen passen, der sich nach außen stets für Diversität und einen höheren Frauenanteil in Top- und Führungspositionen einsetzt,“ kommentiert der Mediendienst Meedia. So ist das eben, wenn Diversität auf Kompetenz, Arbeitsrecht auf Managementnotwendigkeit trifft. Das wird teuer. In diesem Fall nur für die Konzernmutter Bertelsmann, der RTL gehört. und die Traummaschine RTL ist die neue Mutter vom Stern. Es wächst zusammen, was zusammen gehört.

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