Die CDU bietet ein merkwürdiges Schauspiel: Alle haben mitgemacht – keiner ist dabei gewesen. Diese seltsame Trennung von tatsächlicher An- bei gleichzeitiger geistiger Abwesenheit setzt sich fort: Immer neue Aufrufe zur Erneuerung an Haupt und Gliedern werden laut und jeden Tag lauter. Das ist gut so. Bloß: Die Hände haben sie immer gehoben, die Erneuerer – im Deutschen Bundestag und auf diversen Parteitagen. Wie glaubwürdig ist die Erneuerung an Haupt und Gliedern, wenn die Hände doch immer wieder hochfahren bei den alten Parolen? Und dann auch noch applaudieren?
Viele CDU-Politiker – zu viele – haben die Jahre ihrer demonstrativen inneren Emigration, in der sie verborgen gehalten haben, was sie wirklich denken, gut überstanden. Fälle von medikamentöser und ärztlicher Behandlung politischer Schizophrenie sind nicht bekannt geworden; die Diäten-Pflaster haben gut gehalten.
Nur scheint es neuerdings so, als seien sie befreit worden. Die Befreier sind allerdings SPD, Grüne und FDP, die der CDU die Last des Fortsetzens einer merkelartigen Regierung ersparen, dadurch, dass sie selbst regieren wollen wie Merkel. Würden die anderen nicht merkeln, dann würden die CDU-Politiker es selbst so merkelig weitertreiben, vermutlich allerdings unter lautstarkem inneren Protest.
Auch im Wahlkampf hat man kein Wort von den heutigen Helden der Kritik dazu vernommen, dass Einwanderungs-, EU- und Energiepolitik katastrophal für dieses Land sind. Nur weil sie selbst nicht gewählt wurden, gibt es jetzt da und dort Kritik, während die noch im Amt befindliche Merkel-Regierung – mit ihrem Innenminister Horst Seehofer von der ebenfalls so kritischen CSU – schon wieder Zelte aufbauen lässt für ihre grenzenlose Migration; und so nebenbei verschärfen sie die Energiekrise und die damit befeuerte Inflation jeden Tag.
An die Spitze der CDU-Erneuerer stellt sich Friedrich Merz. Er hat allerdings gute Gründe dafür. Denn es war Merkel selbst, die ihn vom schönen Posten des Oppositionsführers und Fraktionsvorsitzenden abgelöst hat, weil sie, wie es üblich ist, als Parteichefin damals dieses Amt beanspruchte. Diese Ego-Kränkung hat er zum politischen Programm erhoben und ist seither die sehr beleidigte Leberwurst der CDU. Er ist zweimal angetreten für das Amt des Parteivorsitzenden; allerdings waren seine Reden keine Aufrufe zur dringenden Erneuerung, sondern der Lobhudelei: brav im Rahmen dessen, was Merkel gerade noch hinzunehmen bereit war. Aber keinesfalls darüber hinaus.
Dem Gestus der großen Veränderungsnotwendigkeit folgten so jeweils Reden der Merkelbestätigung; nur besondere Feinschmecker mit geschulter Zunge vermochten im Abgang feine Noten zart harziger Kritik herauszuschmecken. Ansonsten entfalteten Merz‘ Reden das volle Geschmacksbouquet der Merkel-Apologetik. Seine Anhänger rechtfertigten das allerdings mit dem Hinweis darauf, dass er schon anders können wollen würde, wenn er sich trauen dürfte. Es sei nur noch nicht die Zeit dafür da.
Dieselben Sprüche hören wir jetzt wieder. Jetzt ist die Zeit da, aber noch immer nicht reif; und so welken Merz und seine Anhänger dahin und warten und warten, und sagen kalkuliert unbotmäßige Dinge im Rahmen des Genehmen – von Zeit zu Zeit. Allerdings schauen sie zunehmend öfter und frecher unter dem Tisch hervor, seit sie wissen, dass die Zeit der Angela Merkel dabei ist abzulaufen, aber eben noch nicht ganz abgelaufen ist. Kommt Zeit, kommt Merz. Nur die Zeit dehnt sich. Und dehnt sich.
Man muss ihm allerdings insoweit Recht geben, dass die Bereitschaft, ihn auf Händen ins Konrad-Adenauer-Haus zu tragen, noch nicht da ist. Merkel hat ja Zeitbomben hinterlassen; nicht nur im Ergebnis ihrer Politik, sondern auch in Person ihrer Anhänger. Mögliche Kritiker wurden allenfalls als Direktkandidaten zugelassen; und es ist wie eine späte Rache von Merkel, dass fast alle ihre Gegner in der Wahlniederlage ihre Mandate einbüßten und ihre Freunde auf sicheren Listenplätzen ins Schlaraffenland des Deutschen Bundestages hineingleiten konnten, um ihr Werk zu bewahren, indem sie mit ihren Stimmen jetzt die Ampel unterstützen. Die CDU im Bundestag wird also nicht die große Oppositionspartei sein mit den alternativen Entwürfen und der Abkehr von der eigenen Linie, sondern eine etwas vergrößerte grüne Fraktion. Die Grünen haben ja in der abgelaufenen Koalition nur Opposition simuliert und sich ansonsten als Stichwortgeber für die CDU hergegeben.
So wird in der kommenden Legislaturperiode die CDU die parlamentarische Freiwilligen-Kampftruppe der Ampel abgeben und die AfD mit Feuer und Schwert bekämpfen, gemäß der Devise, dass der Feind immer rechts sitzt. Und wenn die AfD schlau ist, dann formuliert sie behaglich konservative Positionen der Mitte, die dann von der CDU angegriffen werden, weil nicht wahr sein darf, was von dort her gerufen wird.
In den Ländern sieht es nicht wirklich besser aus: In Hessen wird Helge Braun, die Ulknudel aus dem Kanzleramt, als Ministerpräsident antreten; unser aller Mitleid sei mit ihm. Und was in Schleswig-Holstein der Günther ist, ist im Saarland ein Hänschen.
Nein, Merkel kann beruhigt in den Ruhestand gehen. Ihr Werk hat Bestand, und die CDU ist Geschichte. Sollte man da der FDP vorwerfen, dass sie sich zum Fundamentbauer für eine strukturelle linke Mehrheit hergibt? Das wäre böse. Jeder rettet sich, so gut er kann.