In den Umfragen sinkt die CDU auf immer neue Tiefen; und die AfD ist dabei, sie zu überholen. Ohne die CSU, die formal eine eigene Partei ist, ist die CDU nur zweitstärkste. Er wird zu einer Art Bundeskanzler von der traurigen Gestalt.
Die Mitläufer bleiben weg
Wahlforscher kennen sonst das Gegenteil, sie nennen es den Mitläufer-Effekt oder Bandwagon-Effekt. Er besagt, dass bei sozialen Ereignissen wie Wahlen die Leute sich dem Gewinner anschließen. Bei praktisch jeder Wahl zeigt sich das: Am Montag nach der Wahl geben mehr Wähler an, für die Siegerpartei gestimmt zu haben, als tatsächlich Stimmen für sie in der Urne lagen. Der Mensch neigt zum Herdentier.
Bekannt wurde der Mitläufer-Effekt durch eine bahnbrechende Studie von Paul F. Lazarsfeld et al. zum Präsidentschaftswahlkampf 1940 in Erie County, Ohio. In Deutschland nannte es bereits 1932 der damalige SPD-Reichstagsabgeordnete Carlo Mierendorff den „politischer Herdentrieb“. 1940 hat die spätere Wahlforscherin Elisabeth Noelle-Neumann in ihrer Dissertation über politische Massenbefragungen in den USA als „band wagon impuls“ referiert und Jahrzehnte später diesen handlungssteuernde Effekt zur Schweigespirale weiterentwickelt: Verlierer verschwinden von der öffentlichen Bühne, die Sieger haben Zulauf.
Diesen langen Anlauf braucht man, um das Versagen von Friedrich Merz würdigen zu können. Die CDU/CSU war nach der Bundestagswahl stärkste Fraktion. Sie hat den Regierungsauftrag, kann sich Koalitionspartner aussuchen oder eine Minderheitsregierung bilden. Friedrich Merz könnte ein strahlender Sieger sein, dem die Leute hinterherlaufen und mit Merz ins Kanzleramt einziehen. Oder wenigstens an den Gitterstäben staunen.
Das sollte man erwarten, wenn man sich mit der Wahlforschung seit bald 60 Jahren beschäftigt. Das Gegenteil findet statt. Merz und seine CDU verfallen in der öffentlichen Anerkennung. Die von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossene AfD dagegen gewinnt Anhängerschaft. Merz bringt die Wähler gegen sich auf, statt Aufbruch zu vermitteln.
Reden wir noch nicht über Inhalte, sondern über Demoskopie. Merz ist kein Siegertyp. Er ist ein Verlierer. Um sich schart er weitere Verlierer, die Spitzenpolitiker der SPD. Deren Vorsitzende Lars Klingbeil und Saskia Esken haben es geschafft, ein wirklich mieses Wahlergebnis einzufahren. Die SPD ist eine bessere Splitterpartei geworden. Der Begriff Volkspartei wäre so falsch wie der Stempel „vegan“ auf einer knusprigen Schweinshaxe. Merz, Klingbeil, Esken passen zueinander – im Club der Wahlverlierer.
Die Gründe liegen auf der Hand. Friedrich Merz hat seine Wähler betrogen; und die Mitglieder seiner Partei auch. Er wollte die AfD halbieren, und hat sie verdoppelt.
Vielleicht hat er ja im kleinen Kreis von Vertrauten die Aufgabe der Schuldenbremse vorbereitet, Deutschlands Grenzen abgeschafft, Windräder zur guten Sache erklärt und die Sinnhaftigkeit solider Haushaltsführung bezweifelt.
Aus Sicht der Mitglieder und Wähler hat er schlicht gelogen, ein mäßiges Wahlergebnis eingefahren und den Rest seiner Positionen an SPD und Grüne verhökert, um dann auch noch der Linken den roten Teppich auszurollen.
Es gibt also gute Gründe zu erwarten, dass ihn seine Partei zum Teufel jagt. Warum auch sollte jemand Plakate kleben, sich an Parteiständen in der Fußgängerzone mit lästigen Wählern herumstreiten oder Zeit in Parteigremien verplempern, wenn Partei- wie Wahlprogramm am Morgen danach in die Tonne getreten werden wie ein Eheversprechen vom Heiratsschwindler.
Ein paar Mitglieder protestieren ja auch tatsächlich. Die wegen Bedeutung nicht bekanntgewordene Junge Union aus Köln mosert, der eine oder andere Ex-Wichtigmann meckert, in Kühlungsborn tritt ein halber Stadtverband aus der CDU aus.
Gebrochene Wahlergebnisse, schlechte Zahlen – war’s das?
War’s das?
Die Antwort: Es ist egal.
Komplett egal, in der CDU so egal wie in der SPD.
Mitglieder sind komplett bedeutungslos.
Sie sind genau so bedeutungslos wie Wähler, die einen Politikwechsel wollten und Rotgrün in schwarzer Tarnkappe erhielten.
Keine Parteispitze schert sich um die CDU Kühlungsborn oder die Kölner Junge Union, die gegen Merz protestieren.
Denn die Parteien haben sich komplett von ihrer Basis gelöst.
Ja, es gibt ein paar Folklore-Rituale, wie Plakate kleben, die Tapeziertische in der Fußgängerzone beflaggen, Kugelschreiber verteilen oder gerne rote Nelken, letzteres eher bei der SPD.
Mitzuschnabeln haben die Nelkenverteiler und Kugelschreiber-Verschenker nichts. Sie tragen auch nichts zum Wahlerfolg bei. Plakate kleben professionelle Städtewerbeunternehmen zuverlässiger. TV-Werbung wird von spezialisierten Werbeagenturen produziert, das Design von oben festgelegt bis ins Detail. Ortsvereine, die Plakate mit dicken Filzstiften beschriften, stören eher das Corporate Design und sind zudem geradezu anarchistisch.
Parteigliederungen sind längst zu reinen Erfüllungsgehilfen degradiert. Die Mitglieder stehen nur im Weg.
Politik betreiben Parteifunktionäre und Partei-Angestelle.
Angestellte der Fraktionen der Parteien in den Rathäusern.
Angestellte auf Parteiticket in den städtischen Verkehrs- und Energiebetrieben.
Angestellte auf Parteiticket in den diversen Betrieben bis zur Müllabfuhr und den vielen, vielen Agenturen, Dienststellen, Initiativen und Beratungsstellen der Kommunen.
Auf der nächsten Ebene sind es die Funktionäre der Partei.
Die Mitarbeiter der Landtags- und Bundestagsabgeordneten.
Die Heere der Beschäftigten in den Parteistiftungen, der Bundeszentrale für politische Bildung.
Es folgen Beamte in den Ministerien, nachgeordneten Behörden, Unter- Neben- und Mittelbehörden, deren Karriere von der richtigen Witterung abhängt, welche Partei künftig den Präsidenten stellt.
Bei ARD und ZDF achten die Mitarbeiter genauestens auf die Zusammensetzung der Rundfunkräte und deren Ausschüsse. Dort wird der Wind gemacht, für den sie ihre Backen blähen und Sendungen produzieren. Die diversen „Landeszentralen für Neue Medien“ achten darauf, dass Privatsender nicht allzu private Meinungen senden, sondern nur die von der Landesregierung gewollten.
Die Grünen und die SPD haben sich bekanntlich ein dichtes Netz staatlich finanzierter „Non Governemental Organisations“ (NGOs) zugelegt, die entgegen ihrer Namensgebung nur auf Steuerzahlerkosten agieren und für diejenige Parteien, die die Ausweitung ihrer Finanzierung versprechen. Das alles läuft unter „Zivilgesellschaftliches Engagement“. Dort beschäftigt man sich auch mit Meldestellen, die kritische Bürger über mehrere Ebenen an das Bundeskriminalamt melden, auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze, um abweichende Meinungen zu denunzieren, festzustellen und zu verfolgen. Im Zweifel: Hausdurchsuchung. Auf Weisung schreiten die Staatsanwälte ein. Richter achten auf das Parteibuch des Justizministers, sonst bleiben sie auf ewig mit der Verurteilung von Fahrraddieben beschäftigt.
Die Funktionäre folgen der Parteispitze
Ab Kreisebene werden die Parteitage von den Angestellten und Funktionären der Mandatsträger beherrscht, denn die können sich nach langen Nachtsitzungen morgens in ihren weichen Betten ausruhen, während sich die letzten idealistischen Parteimitglieder ohne Amt und Etat morgens zur Arbeit quälen mit verquollenen Augen. So ist sichergestellt, dass die Meinungsbildung von oben nach unten erfolgt.
Schließlich sitzen oben diejenigen, die über die Gelder verfügen. Die werden von den Parteizentralen vergeben. Es ist die bewährte Methode der Mafia, die bekanntlich vor der Wahl nur linke Schuhe verschenkt und nur beim richtigen Ergebnis auch den Rechten nachgereicht hat. Dieses Verfahren wurde nur verfeinert und auf die gesamte Garderobe und den Hausstand der direkt oder indirekt abhängigen Parteifunktionäre ausgedehnt. Die Parteien geben, aber sie vergeben nicht. Milliarden fließen über Wahlkampfkostenerstattung, ca. 600 Millionen allein über Parteistifungen, weiter Hunderte von Millionen über Diäten und Kosten für Mitarbeiter von Mandatsträgern und Fraktionen bis hinunter in den Kommunen in die Parteiapparate.
Gerade wurde Marine le Pen wegen einer solchen Zweckentfremdung von der Wahl ausgeschlossen und soll mit einer Fußfessel ans Haus gekettet werden. Aber die SPD soll genau diese Zweckentfremdung in Brüssel praktizieren, und die Grünen-Vorsitzende Franziska Brantner betreibe das Doppelgeschäft seit Jahren professionell: gezielter Einsatz von Mitarbeitern für andere Zwecke. Bei Wahlerfolg locken auch dem schwächsten Funktionär schöne Beamtenjobs bis zum Lebensende. Dankbarkeit verpflichtet, Kompetenz Nebensache. Eine Fußfessel wird Brantner nicht angelegt. Wir sind schließlich im deutschen Parteienstaat. Da droht Verfolgung nur Parteienkritikern, nicht Parteifunktionären.
Das Ganze hat man grundgesetzlich abgesichert; die Parteien „wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es da. „Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen“ entsprechen. Klingt gut. Ist aber durch die Abhängigkeit der Unteren von den Oberen abgeschafft; de facto sind es Feudalsysteme: Die Herren verteilen per Gnadenakt. Alles, wie gesagt, grundgesetzlich abgesichert.
Die CDU ist ein gut abgerichtetes Dressurpferd
Und deshalb kann Friedrich Merz tun und lassen was er will, und die CDU wird parieren, so wie er will, ein gut abgerichtetes Dressurpferd. Die ganz Oberen hoffen auf Ministerposten, die Abgeordneten auf 50-prozentige Zuschläge zur Abgeordneten-Diät als Vorsitzende von irgendwas im Bundestag oder als einer von 18 (!) Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Rund 60 Pöstchen unsinniger „Beauftragter“ sind zu besetzen, mit Dienstauto und eigener Mini-Behörde, also Mitarbeitern, die bei der Durchsetzung von oben nach unten im Sinne der Beauftrager mithelfen, siehe oben. Es folgen parlamentarische Staatssekretäre, die gleichzeitig Regierungsmitglieder sind UND Abgeordnete, weswegen sie eben nicht ihrem Gewissen folgen müssen, sondern auf Pfiff des Kanzlers abstimmen. In Deutschland gehört ein Teil des Parlaments direkt zur Regierung. Und dann gibt es noch jede Menge Verbände, Gewerkschaften und Lobby-Organisationen mit Hauptgeschäftsführern, die den Ruhestand versüßen oder die Folgen einer verlorenen Wahl abfedern.
Nein, keiner in diesem System geht leer aus oder hat um irgendetwas zu fürchten. Er muss nur richtig abstimmen und mitstimmen, wenn die Feudalherren meinen, Stimmen zu gebrauchen. Und gelegentlich müssen sie in die Städte oder Ortsvereine reisen. Denn vielleicht haben die in Kühlungsborn in Mecklenburg-Vorpommern das noch nicht richtig verstanden. Gut, dass andere nur auf diese Posten warten.
Und so funktioniert das System wie geschmiert. Sehr demokratisch. Und Friedrich Merz kann gut schlafen. Er hat nichts zu befürchten. Er kann ruinöse Politik betreiben und sich auf die Treibriemen der Partei, ihr Wirken in die feinste Verästelung eines zunehmend parteipolitischen Staatsapparats mit angehängter Wirtschaftsabteilung verlassen.
Parteimitglieder sind längst ausgeschaltet, und Wähler? Sowieso egal.
Muss sich Friedrich Merz vor der CDU-Basis fürchten?
Die Antwort ist überraschend. Muss er. Es scheint, dass er den Bogen überspannt hat, indem er seine eigene Machtbasis zerstört. Er beherrscht die Kunst des Scheiterns. Er kann es nicht. Wenigstens an diesem Punkt lag Merkel richtig.