Wahlkämpfe haben nicht nur die Aufgabe, die Wähler dazu zu bringen, ihr Kreuz an der richtigen Stelle zu setzen. Im Wahlkampf zeigt sich, ob ein Kandidat Druck aushält, Konflikte durchstehen kann, Rückgrat und Rückhalt in seiner Partei hat. Wahlkampf ist der Stresstest, eine Art Assessment-Center für Regierungstauglichkeit.
Der Laschet-Moment
Manchmal entscheiden Sekunden über den Untergang eines Kandidaten und seiner Kampagne – etwa am 17. Juli 2021 in Erftstadt, Rhein-Erft-Kreis bei Brühl.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nebst Tross war angereist, um sein Bedauern und seine Anteilnahme vorzuführen – nach der entsetzlichen Flutkatastrophe, die weit über 100 Menschen das Leben gekostet hat. Etwas abseits wartete CDU-Spitzenkandidat und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet auf seinen konkurrierenden Trauer-Einsatz vor laufenden Kameras. Dumm nur, dass die Kameras schon liefen und einen lachenden, feixenden Laschet filmten. Dieser Moment gilt seither als „Laschet-Moment“. Der Unernst angesichts menschlicher Katastrophen, die vorgetäuschte Anteilnahme, die Inszenierung auf Kosten der Betroffenen – die nicht-löschbaren Bilder kosteten Laschet den Wahlsieg.
Längst gibt es Spekulationen über die Gründe. Auch Steinmeier war ja fröhlich und guter Dinge und lachte über einen Kameramann, der vor ihm im Dreck kniete. Spannung mag sich manchmal in Lachen auflösen; schon manchem ist am offenen Grab das Giggeln in den Hals gestiegen. Aber zu Recht darf man von Politikern, die über Leben und Tod ihrer Völker entscheiden, Beherrschung verlangen, und wenn es nur Show ist. Politik ist keine Bühne für Dahergerede. Im Wahlkampf nun reiht Friedrich Merz einen Laschet-Moment an den anderen. Als Wähler sollte man ihm dankbar sein. Wir wissen jetzt offiziell, woran wir mit ihm sind.
Das Vielfach-Bekenntnis zu den Grünen
Längst hat Olaf Scholz weltweit klargemacht, dass er die Richtlinien der Außenpolitik bestimmt, nicht Annalena Baerbock, die Vielflieger-Meilen sammelt und nebenbei Russland den Krieg und China die Konfrontation erklärt oder die Einwohnerzahl Europas mal verdoppelt und sich ständig um 360 Grad dreht.
Die Frage ist allerdings, ob man diese grüne Außenpolitik so loben muss, wie Friedrich Merz es tut: „In der Außen- und Sicherheitspolitik gibt es sicher mit den Grünen mehr Gemeinsamkeiten als mit der SPD“, erklärte er Anfang Dezember. Wer, wenn nicht Baerbock, repräsentiert die grüne, feministische Außenpolitik mit all ihren Pleiten, Pech und Pannen? Kann ernsthaft jemand daran denken, Annalena Baerbock eine zweite Amtszeit zuschanzen zu wollen?
Friedrich Merz offensichtlich schon. Er kann sich ja auch einen Wirtschaftsminister Robert Habeck vorstellen, machte er in der Sendung Maischberger klar. Wenn Habeck Wirtschaftsminister ist, was bleibt da vom grundlegenden Wandel, den Merz gelegentlich einfordert? Ja, es stimmt, schon am Morgen danach versuchten CSU-Chef Markus Söder und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann Merz’ unbedachte Rede wieder einzufangen. Aber das möchte man vom Schmied hören, nicht von seinen Schmiedchens. Und in der Politik gibt es keine Pille für den Morgen danach, keine für die Löschung des Gesagten.
Zumal es eben kein Versprecher war, keine Fehlleistung im Augenblick, wie vielleicht Laschets Lacher. Immerhin hat Merz schon vor zwei Monaten die grüne Klimapolitik als „irreversibel“ erklärt. Neue Kernkraftwerke werde es nicht geben. Die Wiederinbetriebnahme sieht er „skeptisch“, obwohl sie binnen eines Jahres möglich wäre. Dafür setzt er auf Kernfusion – die allerdings frühestens in 30 oder 50 Jahren verfügbar sein wird. Sein ist die Logik der Grünen, heute vollendete Tatsachen durch Zerstörung bestehender Technik zu schaffen und auf zeitferne Wunder zu hoffen, die leider nicht eintreten. Egal ob Verbrennerverbot, Energiewende oder Heizungsgesetz: Die wichtigsten Entscheidungen, die die Wirtschaft ausbremsen und Privathaushalte an den Rand der Verzweiflung bringen, will die CDU/CSU nicht rückgängig machen.
Laubsägearbeit zur Verschönerung des Galgens
Friedrich Merz will keine Abkehr von dieser Politik, die unter Merkel eingeleitet wurde – allenfalls, nun ja, will er Laubsägearbeit am Galgen der deutschen Wirtschaft zur Beschönigung des Untergangs leisten. Dazu passt, dass sich die neuen Vorsitzenden der Grünen, Franziska Brantner und Felix Banaszak, in der kommenden Woche mit Friedrich Merz treffen wollen.
Das berichtet das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ unter Berufung auf führende Grünen-Kreise. Das Treffen diene nach der Wahl Brantners und Banaszaks dem gegenseitigen Kennenlernen, heißt es. Aus der CDU verlautete, dies sei nichts Außergewöhnliches und entspreche den normalen Gepflogenheiten.
Das alles klappt nur, weil Friedrich Merz gerade keinen Wahlkampf führen will. Merz will sich die Kanzlerschaft nicht erkämpfen, nicht über die Stadtplätze und Versammlungshallen ziehen, nicht überzeugen, nicht argumentieren für eine bessere Politik und die Mehrheit der Wähler dafür gewinnen. Er will sich die Kanzlerschaft herbei-arrangieren. Er will sich nicht dem Wähler stellen, und mit den Wahlergebnissen regieren, sondern sich von vornherein mit Bündnissen das Amt sichern. Merz dreht den Demokratieprozess um und stellt ihn auf den Kopf.
Ein Loblied auf die neue Form der Demokratie
Während man den Kindern in der Schule beibringt, dass der Wählerwille zählt und sich entsprechend der Ergebnisse dann Koalitionen bilden, will Merz schon vor der Wahl die Koalitionen bilden. Das vereinfacht für den Wahlkampf die Sache enorm. Deshalb hat Merz in der peinlichen 4er-Runde mit dem Bundespräsidenten und den Fraktionsvorsitzenden von SPD und Grünen vereinbart, wann der Bundeskanzler die Vertrauensfrage zu stellen habe und wann dann am gemeinsam festgelegten Wahltag die Ergebnisse gewissermaßen abgerufen werden, die nur noch das Gewichtsverhältnis und die Pöstchen innerhalb der Koalition beeinflussen. Der Bundestag wird zwischenzeitlich von diesem Gremium ausgeschaltet wie eine Kaffeemaschine, die parlamentarische Demokratie stillgelegt, das Grundgesetz mit seinen strengen Regeln einfach ausgehebelt, faktisch außer Kraft gesetzt: Das Grundgesetz findet keine Anwendung mehr.
Mehr Missachtung des Parlaments geht nicht. Alles andere wären „Zufallsmehrheiten“, sagt Merz. Die kann es nicht mehr geben, wenn die Koalitionsgespräche vor den Wahlen angesetzt werden. Und der Inhalt steht mittlerweile auch fest: Schlimmer als Weiter-so, denn nur, wenn die Klima-Energie- und Massenmigrationspolitik so bleibt, wie sie ist, sind die Grünen dabei, und nur, wenn der Staatshaushalt weiter so geplündert wird für Bürgergeld und öffentlichen Dienst, macht die SPD mit. Die vermeintlich überraschenden Aussagen von Merz sind kein Laschet-Moment, sondern kühles Kalkül der eigenen Karriere, der Rest ist Show fürs dumme Wahlvolk und für die von diesem Kartell längst eingehegten Launen des Lümmels Wähler.
Kann das Kalkül so aufgehen?
Das klingt alles ziemlich berechenbar. Aber gibt es noch Reste an Überraschung in einer derart geplanten Demokratie? Hier schaut Merz nun doch ein schwarzer Schwan über die Schulter, ein Bild, das Merz durchaus kennt. „Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“ ist ein 2007 erschienenes Buch des Publizisten und ehemaligen Optionshändlers Nassim Nicholas Taleb, der beschreibt, dass die Kalküle der Börsianer und Blackrocks gelegentlich zerplatzen – man nennt das dann Finanzkrisen. Eines dieser „höchst unwahrscheinlichen Ereignisse“, die es eigentlich nicht geben darf und die es doch gibt, könnte zum Beispiel sein, dass das pervertierte Misstrauensvotum zum Vertrauensvotum umschlägt.
Am 16. Dezember sollen sich Olaf Scholz und die Seinen also selbst das Misstrauen aussprechen. Das ist ein mittlerweile zwar mehrfach geübter, aber trotzdem schwer nachvollziehbarer Trick, um das Grundgesetz zu umgehen. Es klappt nur, wenn die Abgeordneten von CDU, CSU, SPD und Grünen gemeinsam das Misstrauen über die Rest-Ampel von SPD und Grünen verkünden. Eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Aber wenn nun einzelne Abgeordnete nach einem Blick in ihren Diäten- und Pensionskalender sich selbst und ihrer Regierung doch das Vertrauen aussprechen?
Wenn Minister, die vielen Bundestags-Doppelverdiener in Form von „Geschäftsführern“, „Beauftragten“, die 37 Bundestagsabgeordneten, die als „parlamentarische Staatssekretäre“ doppelt verdienen, wenn all diese Mehrfach-Versorgten das süße Leben mit Dienstauto und Behörde noch etwas verlängern wollen? Weniger das Gewissen, mehr die Diäten bestimmen längst das Abstimmungsverhalten. Was, wenn diejenigen MdBs aus SPD und Grünen, die den Sprung voraussichtlich nicht mehr schaffen, sich plötzlich mit Blick auf Konto und Altersversorgung doch zur „Gewissensentscheidung” pro Scholz entscheiden, um ihr Einkommen zu verlängern? Abgeordnete sind weitgehend gehorsam, was ihre Fraktion betrifft, aber sie hören mehr noch auf das Flüstern der Scheine. Und dass die AfD sich automatisch dem Misstrauensvotum gegen Scholz anschließt ist schlicht auszuschließen. Merz lehnt jede Zusammenarbeit mit der AfD ab – aber kalkuliert ihr Abstimmungsverhalten wie selbstverständlich ein? Große Staatskunst.
Dann scheitert Merz. Dann regiert Olaf Scholz einfach grinsend weiter. Wie er es ja auch schon jetzt vorführt seit dem Ausstieg der FDP: Lindner ging, Scholz bleibt. Der Mann, der schon Cum-Ex ausgesessen hat, könnte auch noch Merz aussitzen.
Der Junge auf dem Sprungbrett
Dann zeigt sich, dass es besser gewesen wäre, wenn Friedrich Merz am Tag der Aufkündigung der Ampel sofort ein konstruktives Misstrauensvotum gestellt und sich zum Kanzler hätte wählen lassen. Aber den Weg der direkten Konfrontation hat er gescheut. Helmut Kohl hätte vom „Mantel der Geschichte“ gesprochen und sich einen Zipfel geschnappt, und das hätten auch sein Nachfolger Schröder oder Vorgänger Schmidt nicht anders gehalten. Um Merz wehen die Mäntel der Geschichte herum und er greift nicht zu. Statt vor den Deutschen Bundestag und die Wähler zu treten und sich für ein Notprogramm zum Bundeskanzler wählen zu lassen – lässt er Olaf Scholz und Robert Habeck weiterwursteln. Statt für Überzeugungen zu kämpfen, wie er mit Wirtschaftskrise, drohendem Krieg, Energienotstand, Massenmigration und innerer Sicherheit für eine bessere Zukunft umgehen würde – kneift er und sucht im Hinterzimmer mit seinen politischen Gegnern eine Garantie, Versicherung und dann noch Rückversicherung.
Mit so wenig Mut hätte Ludwig Erhard weder Währungsreform noch Einführung der Marktwirtschaft geschafft und mit einem Ludwig Merz hätte Deutschland noch lange in den Ruinen des 2. Weltkriegs vegetieren müssen und hätte niemals den bürokratischen Sozialismus der Planwirtschaft überwunden. Dafür bräuchte es heute wenigstens ein wenig Milei und Musk, und nicht Marina Mazzukato, Habecks Staatswirtschafts-Predigerin als Leitfigur des neuen grünen Bürokratismus.
Man sollte als Journalist vermeiden, sich zu wiederholen. Aber meinem Text von 2019 ist nichts hinzuzufügen, als Merz schon einmal hätte zugreifen können – und sich nicht getraut hat:
„Man kennt dieses mitleiderregende Bild aus dem Schwimmbad: Da steht ein schmächtiger, hochgeschossener Junge auf dem Sprungturm, ganz oben auf dem Brett, fünf Meter über dem Wasser. Und er springt nicht. Und die Kumpels rufen: Spring doch. Und dann springt er nicht. Er dreht sich um und klettert die Leiter runter, an der sich die anderen an ihm vorbei hoch drängeln. Und über ihn schmunzeln.
OK, das kann passieren, diese Pleite kann man überleben und wenn die Schultern all zu tief hängen, sollte man den Jungen trösten. Das Leben geht weiter und vielleicht wird er ein ganz mutiger Mann in einer ganz anderen Situation. Man wächst auch an Pleiten.“
Merz ist nicht gewachsen. Und Franz Josef Strauß hätte vielleicht geurteilt: „Dem Bürscherl müssen wir erst noch Kunstdünger ins Hemd schütten.“