Tichys Einblick
Wir brauchen gerade mehr Demokratie, mehr Mitsprache der Bürger.

Flüchtlingskrise: Einigkeit durch Recht und Freiheit – nicht anstatt

Jetzt gilt es schon als demokratiefeindlich, wenn man die Flüchtlingspolitik kritisiert. "Gefährlicher als Pegida ist deswegen die Kritik an der Flüchtlingspolitik der Regierung, wie sie Autoren wie Roland Tichy oder der Ökonom Hans-Werner Sinn äußern," schrieb kürzlich die WELT. Müssen wir jetzt Merkel so blind folgen wie einst dem Kaiser?

Warnungen vor Kulturpessimismus sind immer berechtigt: Gerade in unseren Tagen, wenn sich so viele Fragen neu stellen, die uns wie aus einer anderen Zeit vorkommen Ja, die Weimarer Republik ist an der Abwendung des Bürgertums gescheitert. Viele seine Vertreter waren autoritätsgläubig, dem Kaisertraum verpflichtet, Demokratie war ihnen fremd, erschien ihnen zu widersprüchlich, die Ergebnisse oft nicht zielführend, Kontroversen schädlich. Sie träumten von der Harmonie der alten Ständegesellschaft und waren zunehmend judenfeindlich bis zur massenmörderischen Konsequenz. Den Markt als Gegenstück zur Demokratie mit Leistungswettbewerb und der Dynamik seiner schöpferischen Zerstörung tradierter Strukturen lehnten sie ebenfalls ab. Vom Rechtsstaat und seiner ordnenden Kraft hatten sie keine Vorstellung. Als Hort des Grauens galt ihnen Wallstreet, der Aufmarschplatz jüdischer Plutokraten zu ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Deutschen.

Üblicherweise wird Leuten wie mir das Eintreten für Freihandel – TTIP ist nur die Plattform der Verhandlungen – , das Lob des Marktes, die Nähe zum Börsengeschehen und zu Israel, das Eintreten für die Marktwirtschaft Ludwig Erhards und überhaupt ein liberales Weltbild vorgehalten. Meistens darf mein Buch „Ausländer rein“ nicht fehlen; dort habe ich für wirtschaftlich begründete Zuwanderung plädiert – Menschen nach ihrer Verwertbarkeit instrumentalisiert haben andere. Wer die Augen offen hat, weiß seit langem von der Markt-Logik der weltweiten Wanderung. Kommt der Wohlstand nicht zu ihnen, suchen sie den Weg zu ihm. Seit langem fordere ich eine deutsche, europäische und westliche Politik, die eigene Wohlstandsentwicklung in Asien und Afrika nicht zu behindern – wie mit westlichen Produkt-Kartellen, sondern zu fördern. Das ist der für alle Seiten zielführende Weg. Warum ist das nicht der Schwerpunkt in Berlin und in Brüssel?

Die Kollegen von der Welt am Sonntag haben die „Geschichte eines Staatsversagens“, den „Herbst der Kanzlerin“ protokolliert. Ja, auch ich habe es gewagt, die Bundesregierung als handlungsunfähig zu bezeichnen. Dass nach langen Streitereien, ein Asylkompromiss der Großen Koalition verabschiedet und von ARD und ZDF staatstragend angepriesen wurde, hat Sigmar Gabriel selbst als „nicht sehr wichtig“ „gewürdigt“, weil er nicht einmal 2% der Migranten in besondere Aufnahmezentren zusammenfasst und für gerade mal 1700 Familien den Nachzug ihrer Angehörigen erschwert: Kein Beweis machtvollen Handelns in einer Zeit, in der wir über 1 Mio. Flüchtlinge zählen – oder?. Und als „Nachweis“ des Handelns der Politik viel zu durchsichtig – halten nicht nur Politiker, sondern so viele Kollegen ihr Publikum für dumm?

Was inzwischen in Medien bezweifelt wird, von denen ich das nie erwartet hätte, ist, ob man die Regierung überhaupt noch kritisieren dürfe, wo sie doch nur das Gute will. Soll denn das berüchtigte Kaiser-Wort in neuer Form gelten – ich kennen keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche? Soll es dieses mal mit anderen politischen Vorzeichen deutsche Pflicht sein, sich wieder wie ein Mann und eine Frau hinter einer Fahne zu versammeln, diesmal der Fahne: „Wir schaffen das“? Andersherum wird doch ein Schuh daraus – Demokratie ist gottseidank manchmal schwierig: Die Frage ist zu stellen, ob wir das, was wir vielleicht schaffen, auch wollen. Im Konsens handeln ohne Konsens herzustellen, ist weder demokratisch noch rechtsstaatlich – fortschrittlich auch nicht.

Wo ist die Entscheidung darüber, in Rekordzeit die Bevölkerungsstruktur in vielfacher Hinsicht zu verändern? Der Deutsche Bundestag hat sie nicht getroffen. Er hat darüber nicht einmal debattiert. Wer hat ihn politisch in Urlaub geschickt? Wieso rufen ihn jene nicht an, die sonst jedes Verwaltungsdetail auf die Tagesordnung setzen? Er hat generell als Ort der politischen Debatte abgedankt. Talk Shows sind kein Ort der Demokratie, sondern der Propaganda – eine ungeheuerliche Selbstabdankung des Souveräns. Das hat natürlich etwas mit der Großen Koalition zu tun, aber nicht nur. Sie hat sich nach monatelangen Verhandlungen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt; übrigens ein Prozedere, dass sich weder im Grundgesetz noch sonst irgendwo findet.

Nun wird dieser „Vertrag“, der keiner ist, wortgenau abgearbeitet, schon das ist schlimm genug. Aber schauerlich wird es, weil die Wirklichkeit den Koalitionären nicht den Gefallen tut, sich an deren Drehbuch zu halten. Sie ist einfach da! und hier zeigt sich die Unfähigkeit der Großen Koalition, überhaupt etwas zu gestalten: Sie rudert hilflos im Hier und Jetzt, widersprüchlich, kurzatmig und chaotisch, prügelt sich untereinander für Worthülsen, aus denen keine Politik wird. Die Große Koalition hat den Bundestag zum Abdanken gebracht und ist selbst keine Institution der demokratischen Debatte, Willensbildung und damit auch von Konsensfindung und Friedensstiftung. Daran aber krankt das Land in einer Situation, die als die Schwierigste seit der Wiedervereinigung gesehen werden muss. Wir haben nicht zu viel Demokratie – wir haben gerade jetzt viel zu wenig.

Aber auch für Konsensfindung und Friedensstiftung ist es nie zu spät: Einigkeit durch Recht und Freiheit – nicht anstatt.

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