Schlag nach beim Klassiker: „Diejenigen Individuen, die sich zur Auswanderung entschließen, sind die tatkräftigsten, willensstärksten, wagemutigsten …. Naturen; ganz gleich, ob sie sich wegen religiöser oder politischer Unterdrückung oder aus Erwerbsgründen zu der Wanderung entschließen. Durch die Auswanderung werden aus diesen Unterdrückten wiederum diejenigen ausgelesen, die es satt haben, sich durch Anpassung und Kriecherei im eigenen Lande am Leben zu erhalten.“
Diese irritierenden Zeilen schrieb der große Nationalökonom Werner Sombart. Damals, 1914, war Deutschland das größte Auswanderungsland der Welt; sechs Millionen Deutsche hatten die wirtschaftliche und politische Unterdrückung verlassen, um in Nord- oder Südamerika, in Australien oder Südafrika neu anzufangen. Davon sind wir heute noch weit entfernt.
Aber es sollte diese Gesellschaft alarmieren, dass die Zahl der Tüchtigen ständig steigt, die diesem Land den Rücken kehren. Ihnen ist zu verdanken, dass die Bildungspolitiker der Schweiz bereits beklagen, das Hochdeutsche verdränge an den eidgenössischen Hochschulen ihr putziges Schwyzerdütsch und an den Kliniken des Landes kehre der schnarrende Kommandoton des deutschen Gesundheitssystems ein.
In Wien kellnern und kochen die Piefkes, die lieber an der Donau arbeiten als in Berlin Stütze zu schnorren. Anfangs waren es die Menschen aus den vom Sozialismus verwüsteten Landstrichen, die aus wirtschaftlichen Gründen Republikflucht begingen. Jetzt sind es auch die Informatiker aus München und die Ingenieure aus Aachen, die im Ausland ihr Glück suchen. Viele von ihnen haben es satt, beim Finanzamt betteln zu müssen, dass wenigstens noch ein Restbetrag vom Gehalt übrig bleibt; sie flüchten vor einer Politik, die die Leistungsträger als Melkkühe missbraucht, um sich mit den gestohlenen Mitteln das Stimmvieh des Prekariats gefügig zu halten.
Auswanderung ist ein Krisensignal. Das war in den Dreißigerjahren so, und bis in die Fünfzigerjahre wurde ernsthaft die Einrichtung eines „Bundesministeriums für Auswanderungsfragen“ diskutiert. Mit dem steigenden Wohlstand wurde das hinfällig.
Noch trösten sich viele Politiker damit, dass viele der neuen Auswanderer ja auch wieder nach Hause zurückkehren möchten. Ein Blick in die Geschichte der Migration lehrt: Sie träumen davon, aber sie kommen nicht wieder. Die Flucht der Tüchtigsten ist meist endgültig.
Auch mit einem zweiten Vorurteil muss aufgeräumt werden – dass nämlich Deutschland nach wie vor ein Einwanderungsland sei. Schon in der Periode, die Werner Sombart zu Beginn des vorigen Jahrhunderts beschrieb, war Deutschland größtes Auswanderungsland und gleichzeitig, nach den USA, zweitgrößtes Einwanderungsland. Zuzügler aus Galizien, Polen und Russland füllten die Lücken der globalen Westwanderung wieder auf – jedenfalls solange das damalige Deutsche Reich vergleichsweise offen war.
Genau hier hapert es aber in der Bundesrepublik. Aus arbeitsmarktpolitischen Gründen wird der Zuzug von Fachkräften, Akademikern und Arbeitswilligen praktisch verboten oder die Arbeit untersagt. Sie sollen den zurückgebliebenen Deutschen keine Jobs wegnehmen. Der christliche Arzt aus dem Irak wird zur Untätigkeit verdammt, der Ingenieur aus dem Iran arbeitet geduldet beim Schlüsseldienst, ausländische Studenten werden nach dem Examen abgeschoben. Aus dem weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe und tüchtigsten Unternehmer haben wir uns durch eine bornierte Ausländerpolitik verabschiedet, die de facto allenfalls den Zuzug ins Sozialamt erlaubt und die Tüchtigen vergrault.
(Erschienen auf Wiwo.de)