Tichys Einblick
Die Wahl vor der Wahl ohne Wahl

Die Vor-Wahl, in der die Freiheit stirbt

Die Bundestagswahlen haben eher den Charakter von Vor-Wahlen. Was wirklich kommt, machen die Parteien unter sich aus - dazu brauchen sie keine Wähler. Und der Wahlkampf zeigt, wohin die Demokratie treibt.

© Sharosh Rajasekher

Das Wahlrecht ist das eine – die Wirklichkeit eine andere. Unter ein und dem selben Wahlrecht gibt es unterschiedliche Ergebnisse je nach Anzahl der Parteien. So gab es in der alten Bundesrepublik zwei dominierende Parteien – die Union und die SPD. Dazwischen sorgte die FDP für die Mehrheit und dafür, dass das jeweilige Programm nicht so ganz sortenrein umgesetzt werden konnte. Der Wahlausgang bestimmte so ziemlich erwartbar die Regierungsbildung: Viele Stimmen für die SPD brachten deren Kanzlerkandidaten ins Amt; viele für die CDU den anderen. Wechselte die FDP zu schnell die Fronten, konnte sie unter die Räder geraten und hörte das Todesglöckchen der 5-Prozent-Hürde. Das disziplinierte.

Die neue Realität der Wahl

Heute könnte die Realität der Wahl eine andere sein. Union, Grüne und SPD scheinen demoskopisch annähernd gleich stark; so um die 20-Prozent. Aber das kann noch werden, so wie die Grünen und die Union sich ihrer Sache auch noch nicht sicher sein können: Armin Laschets seltsamer Nicht-Wahlkampf drückt die CDU nach unten. Wenn die Grünen ihr Annalena Fettnäpfchen gut verstecken und die Sonne brennt oder viel Regen fällt, können sie vielleicht sogar die CDU einholen. Nach dem Schließen der Wahlkabinen ist alles möglich, wie Roland Springer schön herausgearbeitet hat: Schwarz-Rot-Gelb, Schwarz-Grün-Gelb, Rot-Stasirot-Grün Rot-Gelb-Grün: Deutschland-Koalition nennt man das oder Jamaika, Linke Mehrheit oder Ampel. Wie man die FDP kennt, wäre sogar die Variante Rot-Stasirot-Grün -Gelb möglich; es hängt nur an der Zahl der Ämter, nicht an Prinzipien.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Auch ohne diese Variante und ganz wie es ihnen gefällt – in drei Varianten klettern die Grünen, die SPD und die FDP auf die Ministersessel; in jeweils zwei Varianten die CDU. Alle Mischungen sind möglich; nur die AfD soll in jedem Fall draußen bleiben. Damit fallen schon mal 20 Prozent der abgegebenen Stimmen, rechnet man AfD, den erwartbaren Nicht-Einzug der Freien Wähler und die Stimmen für Kleinparteien zusammen. Ein Fünftel der Wahlstimmen ohne jegliche Aussicht auf Beteiligung – das ist ein hässlicher Rekord, und er wird noch unschöner. Bleibt es bei einer Wahlbeteiligung von unter 80 Prozent wie seit 1987 üblich, dann bekommen wir in jedem Fall eine Minderheitsregierung – sie kann sich jedenfalls auf keine Mehrheit der Wahlberechtigten stützen.
Bundestagswahl als Hoch-Risiko-Veranstaltung

Für den Wähler wird die Wahl mehr zur Risiko-Veranstaltung denn je: Er muss damit rechnen, dass seine Stimme sich in einer Koalition wiederfindet, die er so gar nicht wollte. Eingefleischte CDU-Wähler bringen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die Grünen in die Regierung, ob sie wollen oder nicht. SPD-Wähler stimmen für Minister von den Linken, den alten Gegnern der SPD, die Sozialdemokraten in die Lager geschickt haben. FDP-Wähler stimmen für die Minister Christian Lindner und Wolfgang Kubicki, nur die Farbe des Kanzlers und damit die Richtlinien der Politik sind gänzlich unterschiedlich. Der nächste FDP-Kanzler kann Habeck, Laschet oder Scholz heißen. Viel Spaß bei solcher Wahl, deren Ergebnis sie niemals vorherahnen können.

Bundestagswahl ist nur noch eine Art Vor-Wahl

Die Bundestagswahlen haben mehr den Charakter von Vor-Wahlen in den USA: Nicht die Vorwahlen bringen den Präsidenten ins Amt; das tun dann die eigentlichen Wahlen. Und der Unterschied: Bei uns wird der zukünftige Bundeskanzler am Ende von den Parteien hinter geschlossenen Türen ausgemacht und nicht vom Wähler bestimmt: Und das ist erst der Anfang. Das Bundesverfassungsgericht hat eine „Wahlrechtsreform“ bestätigt, wonach zukünftig der Anteil der direkt gewählten Parlamentarier weiter schrumpfen wird. Im Grundgesetz steht zwar, dass 299 direkt gewählten Abgeordneten 299 Parteisoldaten gegenüberstehen, die über Listen einziehen. Aber wenn juckt noch das Grundgesetz – die Parteien jedenfalls nicht.

Einer ist sicher dabei
Rechtsverbinder Kubicki und Linksverbinder Lindner spielen für den Verein Adabei, vulgo FDP
Schon heute stehen den unzweifelhaft mit Mehrheit Gewählten eine faktische Mehrheit von 410 Listenkandidaten, Ausgleichsmandataren und Ausgleichausgleichsbestimmten gegenüber, die alle ihren Parteien, aber nicht einem Wähler verpflichtet sind: Der ist ganz weit weg. Im kommenden Bundestag wird sich diese Zahl der fragwürdig Bestimmten um weiter 150 bis 200 erhöhen – Parlamentarier, die der Wähler nicht kennt, nicht wollte, oft genug niemals gewählt hätte und deren Ernennung durch den Bundeswahlleiter schlicht nicht verständlich ist.
Parteien schieben sich zwischen Wähler und Parlament

Der Wähler wird von den Entscheidungsprozessen immer weiter fern gehalten und noch mehr für dumm verkauft. Und hinter den Kulissen findet ein weitere Entwicklung des Entdemokratisierungsprozess statt: Die Koalitionsbildung erfordert Offenheit nach allen Seiten – und diese Offenheit wird nur links gesucht. Das zeigte sich in der Debatte um den Mauerbau und im Verlauf des Wahlkampfs.

Vor 60 Jahren wurde die Mauer gebaut. 16 Millionen DDR-Bürger wurden eingesperrt, vielen gelang unter abenteuerlichen Voraussetzungen die Flucht, über 1.000 wurden dabei um ihr Leben gebracht, wieviele wurden in Gefängnisse geschickt? Wir wissen es nicht genau.

Bundestagswahl
Deutschland steuert auf eine schwierige Regierungsbildung zu
Was wir lesen können, sind die Reaktionen darauf. Allen voran Annalena Baerbock. Sie schreibt einfach einen Satz ab, den n-tv veröffentlicht hat: Nun ist abschreiben ja noch verständlich, würde es sich um einen klugen Satz handeln. Klugheit kann man sich auch leihen, wenn man schon keine hat. Aber der Satz lautet: Die Mauer sei der „in Beton gegossene Kalte Krieg“ – das ist schlicht dumm. Als wären beide Seiten irgendwie schuld. Nun hat ja Baerbock auch etwas Bäuerinnenschlaues an sich, wobei diese Charakterisierung Bäuerinnen diskriminiert, was ich hiermit bedauernd zurücknehme. Baerbock weiß schon, warum sie diesen Satz abschreibt: Mit dieser historischen Verwässerung der Verantwortung wanzt sie sich bei der Linken an. Sie macht sich koalitionsfähig. Sie muss ja beim Spiel hinter den verschlossenen Türen möglichst gute Karten haben, damit sie oder Habeck es auch mit den SED-Linken schaffen.

Und diie Rechtsnachfolgepartei der Mauer-SED sieht es nicht gerne, wenn man sie daran erinnert, aus wessen Schoß sie gekrochen ist – aus dem der Mauerbauer nämlich. Die Vorsitzende der mehrmals umbenannten SED Susanne Hennig-Wellsow erwähnt den früheren SED/PDS-Politiker und zeitweiligen Parteichef Lothar Bisky, der am 13. August vor acht Jahren starb – um ihn dann zu zitieren: „Der Mauerbau war ein schwerwiegender historischer Fehler.“ Aha. Wessen Fehler? Irgendwie unbestimmt. Ein anonymer Fehler, Beton, der vom Kalten Krieg gegossen wird, das ist das gemeinsame geistige Erbe dieser Damen. Sie sind nicht dumm. Sie verdrehen absichtsvoll die Geschichte. Und dass sie es beide machen, zeigt, wie künftige Koalitionen vorbereitet werden.

Nun sind Baerbock und Hennig-Wellsow Teile eines breiten Stroms einer neuen Sozialismus-Beschönigung. Es geht dabei ja nicht nur um die Zerstörung der Wirtschaft durch sozialistische Planwirtschaft – im Mittelpunkt der Kritik steht die Beseitigung von politischer Freiheit (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit usw.) und Demokratie.

Kritik an grün wird ausgeschlossen

Auch da sind wir einen Schritt weitergekommen, leider. Die Grünen ärgern sich schrecklich über Plakate, in denen ihnen das vorgehalten wird, was sie fordern: Öko-Sozialismus zum Beispiel. Ihr Parteiprogramm läuft geradewegs darauf hinaus. Jetzt soll die Firma boykottiert werden, die die Plakatflächen vermietet. Das fordert der grüne Umweltminister von Schleswig-Holstein; der Mann, der übrigens als maßgeblicher „Europapolitiker“ auch diese riesigen Flatschen zu verantworten hat, mit denen wir und alle anderen Internet-Anbieter Sie auf den Bildschirmen belästigen müssen, die berüchtigte Cookie-Richtlinie. Die hat er zu verantworten. Und jetzt auch die Forderung, dass wer Grünen-kritische Plakate klebt, zukünftig von Kommunen und anderen staatlichen Auftraggebern zu boykottieren sei. Das Dumme ist: Er wird Erfolg haben. Denn die Feigheit deutscher Unternehmer ist nicht zu überbieten. Beim nächsten Grünen- oder regierungskritischen Plakat weiß man schon, was passiert in der Chef-Etage: Kritik an den Grünen wird abgelehnt, es könnte Ärger geben …

Freiheit stirbt nicht mit einem Knall. Sie stirbt leise, scheibchenweise. Etwa, wenn Plakate anderer Parteien zerstört oder deren Wahlkämpfer angegriffen werden. Der Jubel grüner und roter Politiker über beschmierte Plakate der FDP oder AfD wird nur übertönt von ihrem Gejammer, wenn jemand plakatiert, was er von diesen ökosozialistischen Demokratieverächtern hält. Peinlicher ist nur noch die CDU. So, wie sich Baerbock bei den Linken hinschmeisst, macht das die CDU mit den Grünen und kritisiert diese Plakataktion, die den Grünen den Spiegel vorhält. Auch die CDU kalkuliert schon mit den Karten für den Machtpoker nach der Wahl im Hinterzimmer. Sie will es sich mit den Grünen nicht verderben, auch wenn die Meinungsfreiheit stirbt: Wir sollen ahnungslos wählen und kriegen eine rot-grün-schwarz-gelbe Melange mit irgendwas.

Anzeige
Die mobile Version verlassen