Tichys Einblick

Die Republik der Schwätzer

Politik wird noch irrationaler, orientiert sich an fragwürdigem Medienapplaus. Über neue deutsche Mythen und Märchen, die das Land schwächen, Veränderung blockieren, die Gesellschaft spalten, um die Macht des Klüngels zu sichern: Romantik trifft Wirklichkeit.

© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Lange galt Angela Merkel als Vorbild für einen neuen Politikertypus: Als Physikerin, so wurde immer wieder erzählt, denke sie vom Ende her und handle in kühler Rationalität. Das schuf Vertrauen in einer immer komplizierter erscheinenden Welt: „Mutti“ mit dem Verstand der rationalen Wissenschaftlerin passt schon auf, dass die Tassen im Schrank bleiben.

Wenn Historiker einmal mit Abstand auf die heutige Gegenwart der zurückblicken, werden sie eine andere Republik beschreiben: Längst verfolgt Merkel eine Politik des persönlichen Machterhalts. Diesem Ziel ordnet sie alles unter. Womit sie nicht allein ist: Im hoch subventionierten Raumschiff Berlin hat sich eine politische Kaste gebildet, die die Verbindung zur Erde abgebrochen hat.

Politik folgt fragwürdigen Umfrageergebnissen und vermuteten Stimmungen; Schlagworte diktieren die Gesetzgebung. Der Historiker und Buchautor Klaus-Rüdiger Mai („Gehört Luther zu Deutschland?“) über das Verschwinden der Realitätsbezüge aus der Politik:

„Parteipolitik, nicht einmal im engeren, sondern im engsten Sinne, ersetzt Politik. Statt Rationalität und Wirklichkeitsbewußtsein, statt Prinzipienfestigkeit und Pragmatismus zu folgen, bewegt sich die etablierte Politik im modus irrealis. Pathos und Phrasen setzen sich über jede Notwendigkeit der Begründung und Argumentation hinweg. Die Unangemessenheit der Rhetorik und ihre Grobheit belegt die mangelnde Rationalität, weist darauf hin, dass die Leerstelle fehlender Argumente durch die Sprache der Macht überdeckt wird. An die Stelle der Logik tritt die Verdächtigung. Der politische Rationalismus, wenn er denn käme, würde an der Tür zur Debattierstube der Deutschen Republik womöglich das Schild lesen: ‚Bitte nicht stören, wir träumen gerade so schön‘ und achselzuckend und auch ein wenig traurig weiterziehen.“

Ein kurzer Luftzug

Nur kurz hatte die Wirklichkeit eine Chance, die dumpfe Luft in den Hinterzimmern der Macht der Republik zu ventilieren – und zwar an jenem späten Sonntag, an dem FDP-Parteichef Christian Lindner die Gespräche über eine Jamaika-Koalition für gescheitert erklärte. Dass es besser ist, „nicht zu regieren, als schlecht zu regieren“ war sein Fazit. Lindner ist noch nicht ganz Teil des Berliner Konsens allgemeiner Wirklichkeitsverweigerung.

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So verabschiedete sich Lindner an einem der Verhandlungsfreitage von seinen Gesprächspartnern mit einer tagesaktuellen Statistik, wonach weniger als zehn Prozent des an diesem Tag verbrauchten Stroms aus den hochgelobten und noch höher subventionierten deutschen „Erneuerbaren“ stammten – von Oktober bis März herrscht in Deutschland „Dunkelflaute“, die Kombination von schwächster Sonneneinstrahlung und weitgehender Windstille. Deutsche Energiepolitik ignoriert das – wo ein politischer Wille ist, scheint auch nachts die Sonne auf Solarpanele und die Winde blasen folgsam in die Windparks. Eingelullt von einer grün gefärbten Medienlandschaft, die Naturwissenschaft gern negiert, applaudieren rund 75 Prozent der Deutschen der selbstzerstörerischen Energiepolitik Merkels. Noch. Denn der Strom fließt noch zuverlässig aus Kohlekraftwerken, über deren Stilllegung allen Ernstes verhandelt wurde.

Auch ein Lindner-Punkt: Der deutsche Fiskus erhöhte seine Einnahmen in den vergangenen zehn Jahren von 540 Milliarden Euro auf fast 760 Milliarden, und bis 2020 sollen weitere zusätzliche 150 Milliarden in seine Kassen fließen – doch für Schwarz wie Grün reicht es immer noch nicht. Gerade mickrige vier bis sechs Milliarden wollten sie für die langsame und schrittweise Reduzierung des als „Soli“ verniedlichten Solidaritätszuschlags spendieren – ein Steuerzuschlag von mittlerweile jährlich rund 20 Milliarden Euro, der 1991 zunächst für die Kosten des Golfkriegs und seit 1995 zur Finanzierung der Wiedervereinigung befristet bis 2019 erhoben wird.

Man muss diese Geschichte so detailgenau erzählen, um verständlich zu machen, in welche grenzdebile Kombination von Staatsgläubigkeit und Staatssozialismus sich Union und Grüne verstrickt haben: Die Golfkriegsfinanzierung wird als Bildungssoli neu verkauft – in einer Zeit der größten Geldschwemme aller Zeiten.

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Noch ein Knackpunkt der Gespräche: Die fantastisch hohe Zahl von 200.000 Zuwanderern aus Afrika wollte die CSU erdulden, die CDU dagegen mehr oder weniger als Untergrenze festlegen, während die Grünen jegliche Begrenzung bekämpfen: Wohnungen allerdings werden für die Neuankömmlinge nicht gebaut, sie sollen stattdessen mit staatlichen Mietpreisbremsen und Wohnsitzvorschriften nach sozialistischem Planwirtschaftsmuster regional verteilt werden.

In der Jamaika-Koalition sollte diese Art Politik wie eine unendliche TV-Serie mit Angela Merkel bei zunehmender Ermüdung des Publikums fortgeschrieben werden. „Den Lindner machen wir auch noch zum Guido“, soll Merkel gesagt haben – die Fortsetzung ihrer gescheiterten Politik mit anderen Köpfen der Republik.

Von der GroKo zur SchrumpfKo

Lindner hat dieses deutsche Wolkenkuckucksheim romantischer Wirklichkeitsverdrängung kurz erschüttert. Beliebt hat es ihn nicht gemacht bei den journalismusschaffenden Gesinnungsfreunden, die deutsche Redaktionen bewohnen wie abgehauste Wohngemeinschaften der späten 70er. Aber lang durfte der frische Wind nicht durch die Straßen der verlotterten Hauptstadt wehen: Auf Druck des von der SPD gestellten Bundespräsidenten läuft alles auf eine Koalition zwischen CDU/CSU und SPD hinaus – „Große Koalition“ genannt, obwohl das Uraltpaar nach den verheerenden Wahlverlusten am 24. September von 80 auf gerade 54 Prozent Stimmenanteil im Bundestag gefallen ist – mehr eine Schrumpf- als eine Große Koalition.

Aber gelernt haben sie nichts. Zu beobachten ist vielmehr der sofortige Rückfall in die alten Muster der Politik: höhere Steuern, höhere Abgaben, mehr Sprüche – nur kein Rühren an Merkels dramatischen Fehlentscheidungen.

Sofort formulierten führende SPD- Politiker ihre Bedingungen für eine neue GroKo, nämlich eine Verwirklichung des Steuerkonzepts der SPD und die Einführung einer „Bürgerversicherung“. Für sogenannte „Besserverdiener“ bedeuten diese beiden Maßnahmen weitere erhebliche Mehrbelastungen. Sie werden kommen.

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Denn auch in der CDU/CSU gibt es längst Anhänger der „Bürgerversicherung“. Einfach weil es so gleich, so gerecht klingt. Propagandistische Begriffe schaffen sich ihre eigene Wirklichkeit. Vorexerziert hat dies die Schwulenbewegung: Nachdem deren vier Dutzend Verbände von der Propagierung der „Homo-Ehe“ zur „Ehe für alle“ umgeschaltet hatten, dauerte es nur wenige Wochen, bis die „Tagesschau“ die neue Sprachregelung popularisierte und kurz danach das Gesetz zum Selbstläufer wurde. Auch die Bürgerversicherung ist ein Etikettenschwindel. Gemeint ist nichts anderes als eine Zwangsversicherung, in die künftig auch Beamte, Selbstständige und Angestellte, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze (52.200 Euro im Jahr) verdienen, gepresst werden sollen. So können der Leistungswettbewerb um die beste Behandlung ausgeschaltet und Leistungen durch die Einheitskasse rationiert werden.

Verlockend auch die neuen fianziellen Spielräume für staatliche Umverteilung: Mit der Einheitskasse kann dann sukzessive die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden, um „soziale Gerechtigkeit“ herzustellen. Ergebnis: Selbstständige zahlen künftig viel mehr für weniger Leistungen.

In einer weiteren Phase ist dann zu erwarten, dass auch für weitere Einkünfte wie Mieteinnahmen und Einkünfte aus Kapitalvermögen Versicherungsbeiträge erhoben würden. Für Grüne, Linke und den linken Flügel der SPD ist es ein „Gebot der sozialen Gerechtigkeit“, auch Vermieter und Sparer zu zwingen, auf ihre Einkünfte Beiträge an die gesetzliche Krankenversicherung zu entrichten.

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Die Verwirklichung der SPD-Steuerpläne ist eine weitere Forderung der SPD für eine neue GroKo – massive Steuererhöhungen für „Besserverdienende“. Die sogenannte Reichensteuer setzte bisher bei Ledigen erst bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 254.477 Euro ein. Künftig, so die SPD, soll der Spitzensteuersatz von 42 Prozent auf 45 Prozent erhöht werden, und zwar für Personen, die mindestens 76.000 Euro im Jahr zu versteuern haben. Bislang waren nur 0,22 Prozent der Steuerzahler von der Reichensteuer betroffen, künftig werden es sehr viel mehr sein – nur dass die Reichensteuer dann nicht mehr so heißt, sondern der bisherige Steuersatz der Reichensteuer künftig der Spitzensteuersatz ist.

Gleichzeitig soll der Soli laut SPD zwar für Bürger, die bis 52.000 Euro zu versteuern haben, abgeschafft, für alle anderen aber weiter erhoben werden. Das heißt, dass jemand, der 76.000 Euro im Jahr zu versteuern hat (also gut 6.300 Euro im Monat), künftig in Wahrheit von der nächsten Gehaltserhöhung 47,5 Prozent Steuern zu bezahlen hat, da ja die 5,5 Prozent Soli noch auf die 45 Prozent aufgeschlagen werden. Darüber hinaus soll nach den Plänen der SPD, die sie jetzt als Grundlage für Verhandlungen über eine GroKo formuliert hat, die „Reichensteuer“ von derzeit 45 auf künftig 48 Prozent plus Soli angehoben werden – die Gesamtbelastung würde danach bei 50,64 Prozent liegen. Schöne neue Welt. Zudem will die SPD die Abgeltungsteuer abschaffen.

Wie sie das umsetzen will, ob nun nur für Zinseinkünfte oder auch für Dividenden, beantwortet die SPD lieber nicht, und sie weiß warum: Denn dann würde deutlich, dass künftig nicht nur höhere Steuern für Erträge von Sparbüchern, Bundesanleihen und Riester-Sparplänen gezahlt werden sollen, sondern dass Dividendenbezieher zweimal zahlen sollen. Auf Unternehmensebene und dann noch einmal mit dem vollen persönlichen Einkommensteuersatz auf privater Ebene.

Kapitalisten besteuern

Unter der Überschrift „Gerechtigkeit“ verbirgt sich ein groteskes Abkassiermodell, das die Bürger noch stärker unter Knute und Kontrolle des Einheitsversorgungsstaats zwingen soll. Damit würden für Erträge von 100 Euro, die eine Kapitalgesellschaft erwirtschaftet, in der Spitze bei Ausschüttung über 65 Prozent an den Fiskus entrichtet werden müssen – ein enteignungsgleicher Vorgang. Es ist perfide, Anleger, die ohnehin unter der Niedrigzinspolitik leiden, durch Steuererhöhungen noch stärker zu schröpfen.

Fehleranalyse und Handlungsempfehlungen
Quo vadis, Medien?
Übrigens: Wenn die Bürgerversicherung einmal eingeführt ist und perspektivisch zur „Verbreiterung der Bemessungsgrundlage“ auch Kapitaleinkünfte einbezogen würden, dann stiege die Belastung für Besserverdienende bei Zinseinkünften schnell auf weit über 50 Prozent, da zu den Steuern noch Zwangsbeiträge an die gesetzliche Krankenversicherung hinzukämen. Wie das mit dem vom Bundesverfassungsgericht postulierten Halbteilungsgrundsatz vereinbar sein soll, weiß niemand mehr – scheint aber auch allen egal zu sein.

Wird sich die CDU/CSU gegen all das wehren? Das ist kaum zu erwarten. Nach dem Scheitern von Jamaika ist Merkel auf die SPD angewiesen. Neuwahlen fürchtet Merkel, denn die Union könnte unter die 30-Prozent-Marke fallen, was wohl sogar für Pattex-Merkel den Sturz vom Thron bedeuten würde. Ohnehin ist die Union in den vergangenen Jahren vergrünt und sozialdemokratisiert.

So wird wohl weiterregiert – am Wähler und seinen Interessen vorbei. Denn längst hat sich in der deutschen Republik ein Regierungsstil eingebürgert, den der Politikwissenschaftler Siegfried F. Franke („Die gefährdete Demokratie“) als den der „Neuen Autoritären“ bezeichnet: Der Einfluss der Parlamente wird beschnitten, indem Parteifunktionäre „Koalititionsverträge“ schließen, die dann nur noch abgenickt werden dürfen – eine eklatante Missachtung und Entmachtung des Souveräns.

Franke beklagt zu Recht auch, dass Entscheidungen in kleine, nicht transparente Gruppen außerhalb des Bundestags ausgelagert werden – in „Koalitionsrunden“, „Elefantenrunden“, „Steuerungsgruppen“, „runde Tische“: „Selbst Parteitagsbeschlüsse werden ignoriert oder nonchalant zur Seite gewischt, wenn es der Parteispitze nicht passt.“ Merkel hat dies zur Meisterschaft entwickelt: So fiel die Entscheidung für den Atomausstieg in einer von ihr berufenen „Ethikkommission“.

Ein Skandal
Polit-Aktivist Slomka
Zu diesem Verfall schweigen Journalisten und Medien, „weil sie in ihrer Mehrheit den gleichen, nicht hinterfragten ,Narrativen‘ folgen. Der Journalismus stellt sich heute kaum noch als Kontrollinstanz, sondern eher als ,Erziehungsgehilfe‘ dar, um skeptische Geister zum Republik-Mainstream zurückzuführen“, so Franke. Und wer da nicht spurt, der bekommt es mit dem Vorwurf des „Populismus“ zu tun, in der Steigerungsform des „Rechtspopulismus“. „Dass sich jene, die Andersdenkende des Populismus zeihen, genau jener Methoden der Ab- und Ausgrenzung bedienen, die sie den Populisten vorwerfen, wird ihnen nicht bewusst.“ Und auch nicht, dass Deutschland wie Europa schon seit geraumer Zeit von einem großen Maß an „Linkspopulismus“ wie auch „Europa- beziehungsweise EU-Populismus“ beherrscht werde.

Politik wird damit zufällig: „Man verfolgt eine bestimmte Politik nicht deshalb, weil sie notwendig ist, sondern weil sie sich gerade anbietet, so wie man etwas kauft, nicht weil man es benötigt, sondern weil es gerade im Sonderangebot ist“, spottet Klaus-Rüdiger Mai.


Dieser Beitrag ist in Tichys Einblick Ausgabe 01/2018 erschienen >>

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