„Nun ist sie also da, die Inflation“, könnte man im lakonischen Stil der Bundeskanzlerin sagen. Wie das Statistische Bundesamt meldet, verteuerten sich Waren und Dienstleistungen im Juli im Jahresvergleich um 3,8 Prozent – der höchste Wert seit 13 Jahren. Allein gegenüber Juni sind die deutschen Verbraucherpreise um 0,9 Prozent gestiegen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann erwartet bis zum Jahresende einen Anstieg auf 5 Prozent. Jahrelang herrschte vor dem Gegenteil Angst – der Deflation, sinkenden Preisen. Wenn morgen der Preis für eine Auto um 5 Prozent sinkt, warum sollte ein Unternehmen dann heute noch Autos bauen, die sich nur unter Verlust verkaufen lassen?
Die Deflationspolitik schlägt um
Um das Schreckgespenst der Deflation zu vertreiben, wurde ein „Inflationsziel“ von nahe zwei Prozent als Ziel von der Notenbank formuliert. Es hat nur nicht geklappt. Und deshalb haben die Notenbanken die Zinsen ins Gegenteil verkehrt – Geld bekommt, wer sich Geld leiht; das gilt etwas für den Staat oder jedenfalls sind die Zinsen auch für Private extrem niedrig. Da kauft man lieber, als dass man leise weinend dem Dahinschmelzen seines Vermögens zuschaut, so die Theorie der Geldwächter. Damit sollte die Konjunktur angekurbelt und die immer noch höhere Verschuldung der Staaten finanzierbar gehalten werden. Auch in den besten Jahren war die „Schwarze Null“, also der ausgeglichene Haushalt in Deutschland, nur um den Preis niedriger Zinsen zu haben. Zinsen auf die explodierende Staatsverschuldung könnten vielleicht gerade noch Deutschland, die Niederlande und Finnland bezahlen – aber Griechenland, Italien oder Spanien wären flugs aus dem Spiel: Hohe Schulden und hohe Zinsen sind die Wegweiser in den Staatsbankrott.
Aber jetzt hat sich das Spiel umgekehrt. Knapp über drei Prozent Inflation ist ja schon mal was: 1.000 € schrumpfen innerhalb von nur fünf Jahren auf 858 € zusammen. Das ist böse, aber noch keine Katastrophe sondern verlangt nur: Gürtel enger schnallen, statt dass sich Sparen rentiert. Bei fünf Prozent sind es nur noch 783 €, die übrig bleiben. Üblicherweise haben in der Vergangenheit die Zinsen diesen Verlust ausgeglichen. Bei Null-Zinsen bleibt der Kaufkraftverlust von über 21 Prozent. Schluß mit lustig.
Das Märchen von der Einmaligkeit
Und deshalb soll man sich davor nicht fürchten, lautet die Predigt. Die Preissteigerungen seien ja gewollt: Durch das viele Geld, das die Zentralbank mittels Kredit zur Verfügung stellt und das jetzt durch die Konten der Wohlhabenden schwappt. Wer billig Geld hat, kauft gerne – insbesondere Immobilien und andere langlebende Güter. Oder Luxuskonsum. Das treibt die Preise vom Betongold, den Immobilien und Wohnungen.
Ein anderer Einmal-Grund ist, dass die Mehrwertsteuer wieder auf 19 Prozent erhöht wurde, nachdem sie vorübergehend auf 16 Prozent abgesenkt worden war. Diese Erhöhung ist tatsächlich im Sommer verdaut. Aber auch die ständig steigenden CO2-Abgaben und die staatliche gewollte steigenden Strompreise verteuern die Produktion – in jeder Kartoffel steckt teurer Diesel der Traktoren, in jedem Schuh gestiegene Transportkosten, in jedem Auto die steigenden Strompreise. Weitere Steigerungen sind vorgesehen, Jahr für Jahr.
Wegen Corona sind die Lieferketten zusammengebrochen. Knappheit regiert wieder die Welt: Die Frachtpeise für Container haben sich fast um den Faktor 20 erhöht. Gut, das wird sich wieder einpendeln, wenn Corona verschwindet und Schiffsmannschaften und Hafenarbeiter wieder vollzählig an Bord oder am Entlade-Kran erscheinen. Aber wann? Noch gefährlicher ist, dass Vorproduktpreise aus China um fast 10 Prozent gestiegen sind. Bislang galt Inflation als unmöglich, weil es in der globalen Wirtschaft angeblich immer einen Lieferanten gibt, der billig anbietet. Heute ist China die Fabrik der Welt. Wenn China anzieht, wackeln in Deutschland die Preisschilder. Offensichtlich ist die preissenkende Wirkung der Globalisierung am Ende. Jedenfalls ist Bangladesh nicht in der Lage, die stockende Chip-Produktion in China auszugleichen – nur die Preise regeln jetzt die Frage, wer die knappen Teile erhält, die in jedem Produkt stecken. Und weil die Immobilienpreise wegen der Flucht ins Betongold steigen (aber nicht in der Statistik erscheinen), steigen auch die Mieten. Nach Corona steigen die Preise in Hotels und Gastronomie – im Lockdown sind die Mitarbeiter in die Industrie und den Handel abgewandert und erfreuen sich neuerdings geregelter Arbeitszeiten dort. Wer Kellner sucht, muss mit Löhnen locken und die Preise erhöhen. Deswegen klingt das Argument nicht sehr glaubwürdig, dass die Inflation „einmalig“ sei. „Einmaligkeit“ der Sünde Inflation wäre tatsächlich nicht weiter schlimm. Aber ist sie einmalig?
Verzweifelte Lage der EZB
Totschweigen. Oder Wegreden, so lautet das Rezept. EZB-Direktorin Isabel Schnabel hatte im Mai in einem Interview schon gesagt: „In Deutschland rechnen wir damit, dass es durchaus zu einer Inflation kommen kann, die größer ist als drei Prozent.“ Und sie hatte klargemacht, dass die EZB darin keinen Grund zum Handeln sieht: „Unsere geldpolitische Strategie ist mittelfristig ausgerichtet, und das bedeutet, dass wir durch all diese kurzfristigen Schwankungen hindurchschauen.“
Schnabel schaut schon deswegen nicht durch, weil sie sonst ihre Hilflosigkeit eingestehen müsste. Früher hätte die Bundesbank die Zinsen kräftig erhöht. Das war schmerzhaft, aber hat über einen Zeitraum quälender Jahre der Depression die Inflation bekämpft und Wirtschaftswachstum wieder ermöglicht. Jetzt kann die EZB die Zinsen nicht erhöhen – weil dann Griechenland, Italien und Spanien und einige andere Länder ihre Staatsschulden nicht mehr refinanzieren könnten.
Inflation findet im Kopf statt – noch nicht bei Lokführern
Was Schnabel vor allen Dingen vergessen hat in den guten Jahren relativer Preisstabilität: Inflation findet nicht auf den Preisschildern statt, sondern im Kopf der Konsumenten. Wer erwartet, dass die Preise steigen, legt seinerseits Preisforderungen drauf. Etwa bei Löhnen.
Die Lokführer streiken, sie fordern mit einer Laufzeit von 28 Monaten Lohnerhöhungen von 1,4 % zum 1. April 201 und im Jahr 2022 1,8%; sowie eine Corona-Prämie von 600 €. Das ist lästig wegen des Streiks, aber nicht gierig. Eher putzig. Denn die Rechnung geht so: Unterstellt man wie die Bundesbank mit einer Inflationsrate in diesem Jahr von 3,8 Prozent und im kommenden Jahr von optimistisch wieder nur 2 Prozent wenn alles gut geht – dann werden innerhalb von 28 Monaten die Lokführer deutlich ärmer; ihre Lohnerhöhung gleich den Inflationsverlust nicht aus. Noch dazu orientiert sich die Lohn- und Einkommenssteuer nicht an Inflationsraten: Vom 3,2-Prozent-Plus brutto bleiben allenfalls zwei oder zweieinhalb Prozent Netto auf dem Konto, optimistisch gerechnet. Das verfügbare Netto-Einkommen der Lokführer, also unter Berücksichtigung von Steuern und Inflation, sinkt spürbar – trotz des Streiks.
Deutschland hat sich gefangen in einem Inflationssteigerungssystem: Weil bei steigender Inflation die progressive Wirkung der Einkommensbesteuerung mit aller Härte zuschlägt, ist der Staat Inflationsgewinner – und die Verdiener sind die Dummen: Der Staat frisst ihre Lohnsteigerung schon fast ganz alleine weg, und die Inflation im Supermarkt den Rest. Zusammen mit der Energiepreissteigerung wird es knapp, und jeden Tag knapper. Und die nächste Energiepreissteigerung ist bereits beschlossene Sache.
Statt ihre Fahrgäste mit Streiks zu bedrohen, sollten die Lokführergewerkschaften besser vor dem Finanzamt oder Finanzministerium demonstrieren. Gut, dass sie das nicht verstehen. Sonst wäre ihre Forderung mindestens doppelt so hoch. Gemessen an der Inflation und der Inflations-Einkommenssteuer-Preis-Spirale sogar angemessen. Aber früher oder später merken es ihre Mitglieder, wenn die steigenden Löhne zu weniger Kaufkraft führen. Und dann geht’s richtig rund. Und natürlich stört der Eisenbahnerstreik die wirtschaftliche Erholung nicht nur bei der Bahn, sondern in der gesamten Volkswirtschaft. Inflation und Preissteigerungen ruinieren Wohlstand und Wachstum; das haben nur Bundesregierung und EZB vergessen, deren Politik inflationssteigernd wirkt. Die Anti-Deflationspolitik ist eine massive Pro-Inflationspolitik; und die Bundesregierung erhöht den Druck im Kessel durch immer neue staatlich ausgelöste Preissteigerungen.
Und wenn die Bahnpreise steigen, werden bald andere Bereiche nachlegen – schließlich will keiner der Letzte sein, der draufzahlt. Inflation ist, wenn alle mehr kriegen wollen und dann weniger haben. Die Inflation ist nicht nur da. Sie ist gekommen, nein: Sie wurde von der Wirtschaftspolitik unter Merkel gerufen. Jetzt ist sie da um zu bleiben – und sich zum Monster aufzublähen, das Wohlstand und Wachstum frisst.