Tichys Einblick
Wohin?

Die große Vertreibung der Deutschen ins Nirgendwo

Die Aufhebung der Presse- und Meinungsfreiheit hat viele Bürger schockiert. Es ist das Signal, dass das Grundgesetz mit Taschenspielertricks jederzeit außer Kraft gesetzt werden kann. Der Vorgang wirkt wie ein Aufruf zu Vertreibung und Flucht oder zur inneren Emigration und Verweigerung.

IMAGO / Westend61

„Für meine Frau und mich hat sich seit Dienstag etwas massiv verändert. Uns ist tatsächlich die Zuversicht abhanden gekommen. Die Zuversicht, dass sich in diesem Land in näherer Zukunft etwas zum Besseren wenden könnte.“ Das schreibt mir ein erschrockener Leser und überlegt, wohin er auswandern will.

Auswandern im Inland

Auswanderung ist längst ein großes Thema. Viele werden bleiben müssen. Aber es gibt auch andere Formen der Auswanderung: Rückzug ins Private, weitere Ablehnung des Staates, Aufgabe von Verantwortung und wirtschaftlichem wie sozialem Engagement. Ein Staat lebt nicht von seiner Regierung. Er lebt von seinen Bürgern. Ihrer Arbeitskraft, ihrem Engagement, ihrer Bereitschaft, über das eigene Leben hinaus Verantwortung zu übernehmen.

Viele Bürger aber, egal ob sie auswandern oder an ihrer festgestellten Adresse wohnen bleiben, fühlen sich vertrieben. 

Es ist eine Vertreibung aus einem gesicherten Land, aus einer vertrauten Heimat: Der Mensch lebt ja nicht an einem Ort, von dem man wegzieht.  Wir brauchen, um menschlich zu leben, eine Welt in der wir wohnen, oder wie der französische Philosoph Paul Ricoeur sagt: „Die Dauerhaftigkeit der Objekte, die der Erosion der Zeit widerstehen“. Man lebt aber nicht nur mit dem steinernen Gesicht der Dome und Städte, sondern auch einem vertrauten sozialen Gehäuset., einem Raum, zu dem andere Menschen, und ganz wesentlich, das „Rechtssystem“ gehören, die Kultur, das Wissen darum, wie man sich verhält und was man besser bleiben lässt. 

Supermärkte funktionieren nicht deshalb, weil die Security so scharf drauf ist. Sondern weil vermutlich 99 Prozent der Bevölkerung einfach nicht klauen. Obwohl sie es weitgehend ungestraft könnten.

Gesellschaftlicher Fortschritt kann gesetzlich verordnet werden. Wirkungsvoller ist die Einsicht; und die Summe solcher gemeinschaftsbildenden Einsichten nennt man Kultur. Es sind Gesetze, die man befolgt, auch wenn gerade kein Polizist an der Ecke steht, was in Deutschland längst ohnehin nicht mehr der Fall ist.

Die Umwelt ist sauberer geworden, weil man einfach nicht mehr in den Wald fährt und die Waschmaschine in einen Graben kippt; Zigaretten-Kippen werden nicht mehr aus dem Autofenster geworfen, Plastikflaschen landen im Müll und nicht am Straßenrand, und Plastiktüten werden nach Gebrauch sorgfältig geglättet und wiederverwendet. Wer’s nicht glaubt, dem empfehle ich eine Reise nach Südeuropa. Auch hartgesottene Machos respektieren Frauen. Manchmal ist das ein Schock. Regine Sylvester, eine Kolumnistin der Berliner Zeitung, schrieb in einer Kolumne unmittelbar nach der Wiedervereinigung mal, wie seltsam ihr der Feminismus westlicher Art erscheint: „Wenn mir Lastwagenfahrer nachpfeifen, dann weiß ich: Regine, noch ist alles in Ordnung.“ Für diesen Satz hat sie damals Waschkörbeweise Leserinnenproteste erhalten. Heute pfeift keiner mehr einer Frau nach.

Der Glaube an den Staat

Zu dieser gemeinsamen Kultur gehört die Überzeugung, dass man in einem Rechtsstaat lebt; und man verhält sich regelkonform, weil man spürt und weiß, dass dies die Gesellschaft verbessert. Man schaut sich ins Gesicht, um Zustimmung zu erfragen. Man schüttelt sich die Hand, und kommt ohne Paragraphen zurecht. Gesellschaften funktionieren durch stillschweigende Übereinkunft. Gesetze bilden die notwendigen Leitplanken. Francis Fukuyama hat darauf hingewiesen, dass es diese Form der Rechtssicherheit ist, die Gesellschaften produktiv macht. Dicke Paragraphenwerke und Riesengefängnisse für Rechtsbrecher sind Symptome des Versagens und der Schwäche einer Gesellschaft.

Auch den Gesetzen wird vertraut, in Deutschland. Die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuchs haben sich tief eingegraben, ohne dass wir die jeweiligen Paragraphen herunterrasseln könnten wie ein Student im Examen. Dass das Grundgesetz den Bürger schützt, Gerichte korrekt entscheiden, Staatsanwälte und Polizei auf die Einhaltung achten und die Regeln durchsetzen, Behörden korrekt entscheiden – das erklärt das, wofür die Deutschen oft verspottet werden und was doch die Kraft und die Leistungsfähigkeit Deutschlands erklärt: die Treue zum Staat und den Glauben an Recht und Gesetz.

Schon in Frankreich lacht man über die Deutschen, die glaubten, mit den Verträgen von Maastricht die Währungsunion vor Missbrauch schützen zu können. Recht ist Instrument der Macht, und die Zerstörung der Grundlagen der Europäischen Währungsunion, wie sie einst vereinbart wurde zu Gunsten von Bail-out, gemeinsamer Haftung und großzügiger Finanzierung jeder Staatsverschuldung wird dort mit einem Schulterzucken quittiert: Immer hat die Nationalbank vollzogen, was der Elysee-Palast gefordert hat, bis zur nächsten Währungsreform eben, die nichts anderes ist als Enteignung.

In Italien lacht man über den korrupten Staat, gilt mancherorts die Mafia als glaubwürdiger als die Polizei. Allerdings: Die Staatsanwälte sind Helden der Nation. Sie haben Ministerpräsidenten hinter Gitter gebracht und sich der Mafia entgegengestellt, oft genug unter Einsatz ihres Lebens.

Der Kanzler grinst zum großen Steuerraub

Jetzt wundern sich die Deutschen, dass Cum-Ex, der größte Steuerraub in der Geschichte des Landes, übrigens von mindestens zwei hochverehrten Bundesfinanzministern viele Jahre in voller Kenntnis des Geschehens geduldet wurde. Weil eine Staatsanwältin ein Dutzend Jahre lang nicht lockergelassen hat, wurden ein paar relativ Kleine eingesperrt, einer der Oberverdiener wegen Bluthochdruck laufen gelassen, die Staatsanwältin solange gemobbt, bis sie aufgibt, und der Bundeskanzler, dessen Fingerabdrücke an jedem Vorgang nachgewiesen wurden, kann sich an nichts mehr erinnern.

Da lacht er sein seltsames Grinsen, der Kanzler. Und die weisungsgebundenen Staatsanwälte wenden sich mit Feuereifer so maßgeblichen Themen zu wie der Frage, ob „Alles für Deutschland“ bewusst eine Nazi-Parole war, und schicken die Polizeikolonne mit 60 Beamten in die Kleingarten-Kolonie, um das Absingen eines Karnevalsschlagers Döp-dö-dö-döp im Kleingarten-Sauffest zu beenden. Das sind die neuen Prioritäten der Strafverfolgung.

Die letzte Stabilisierungssäule des Euro, das Einlagensicherungssystem, das den Sparer schützt, soll einer „Vertiefung der Kapitalmärkte“ geopfert werden. Einige bekannte Player, gerade der Cum-Ex-Verfolgung entgangen, haben besonders tiefe Taschen für anderer Leute Kapital.

Schon in der Corona-Phase ist bei Vielen das Vertrauen geschwunden, wonach das Grundgesetz mehr sein könnte als ein Fetzen Papier. Seitdem der heilige Artikel 5, die Freiheit von Meinung und Presse, unterlaufen wurde durch einen Paragraphen, der Kaninchenzüchtervereine überwacht, wissen wir: Meinungsfreiheit gilt nur für die Meinung des Bundesamts für Verfassungsschutz, aber nicht für die eigene. Die Fotos der Polizisten mit schwarzer Vermummung und Sturmhauben erinnern den Staatsrechtler Ulrich Vosgerau an Putins Russland. In Russland sind Sturmhauben im Winter durchaus sinnvoll, im deutschen Sommer nicht. Medien und Politik schweigen.

In derselben Woche wird Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin wiedergewählt, der das höchste europäische Gericht noch am Vorabend den dringenden Korruptionsverdacht bestätigt und Aufklärung einfordert. Vergebens, weggewischt mit einer Geste der absoluten Macht. Gewählt wird sie von Konservativen mit maßgeblicher Unterstützung der Grünen. Dass in der EU die Bürger ein Ende der zügellosen Migration einfordern, ein Ende der alles erwürgenden Bürokratie und ein Ende der Desindustrialisierungspolitik in Brüssel und Berlin: Das findet keinen Widerhall. Und die CDU lässt ihre Sturmhaube fallen, wenigstens das: Friedrich Merz führt in Brüssel vor, wie er in Berlin Kanzler werden will: die Koalition der CDU mit den Grünen. Er will Avocado-Kanzler werden: außen schwarz, innen grün mit einem mächtigen, ungenießbaren braunen Kern. 

Neues Biedermeier ohne Sozialversicherung

Der Rückzug in die Innerlichkeit, ins wohlgeordnete Biedermeier, in die innere Emigration: Das ist Teil der deutschen Kulturgeschichte. Eine neue Rückzugsstrategie kommt hinzu: der Verzicht auf wirtschaftliche Leistung. Es ist das neue Biedermeier ohne Sozialversicherungsbeitrag. Warum arbeiten, wenn das Finanzamt mit Höchststeuersätzen schon beim kleinen Einkommen zuschlägt? Warum arbeiten, wenn immer neue Steuern erfunden werden, obwohl uns doch Christian Lindner das Gegenteil versprochen hat? Warum arbeiten, wenn es sich vom Bürgergeld besser leben lässt? Warum aufstehen und Rentenbeiträge bezahlen, wenn eine im europäischen Vergleich minimale Rente dabei herauskommt? Warum bis 70 arbeiten, wenn die Franzosen oder Italiener für eine fast doppelt so hohe Rente gemessen am Erwerbseinkommen nur bis 60 oder 62 arbeiten müssen?

Das sind die Fragen, die die Ampel nicht beantworten kann und mit denen sie endet. Glaubt die Ampel wirklich, dass die Rentner sie auf Dauer finanzieren? Wo sind denn die Fachkräfte unter den sechs Millionen Zugewanderten? Wann tragen diese Leute zu ihrem Unterhalt wenigstens einen Teil bei? Wir finanzieren rund 10 Millionen Erwerbsfähige, die nicht erwerbstätig sein wollen, und klagen über „Fachkräftemangel“. Und jetzt sollen wir bis 70 arbeiten, um das alles und noch viel mehr zu finanzieren? Ehrlich? Lieber mit kleiner Rente und Einkommen leben, wo die Sonne scheint, die Steuern niedrig und die Preise akzeptabel sind, ganz ohne CO2-Abgabe. Oder daheim im Kleingarten. Auch wenn die Schweiz schon wegen Überfüllung geschlossen ist: Als digitaler Nomade lebt es sich schon am Plattensee phantastisch und halbieren sich in Lissabon die Steuern, von Nord-Zypern ganz zu schweigen.

Zum Ende schreibt mir ein anderer Leser:

„Die Liste der Länder, in denen man als Deutscher mit Aussicht auf Erfolg Asyl beantragen kann, wächst stündlich.“

Das ist natürlich eine Übertreibung. Alles andere wäre ja Hass und Hetze und das Ende des Artikels.

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