Bundeskanzler treten mit einem politischen Programm an. Aber das reicht nicht für einen Eintrag ins Buch der Geschichte. Seit Konrad Adenauer, dem kühlen Gründer des halben Deutschlands, der das Ganze nicht kriegen konnte, suchen sich die Probleme ihre Kanzler. Von Helmut Schmidt bleibt nicht die Ökonomievorlesung – sondern sein Einstehen für den Nachrüstungsbeschluss gegen die eigene Partei. Helmut Kohl ist der Kanzler der Wiedervereinigung. Gerhard Schröder hat die Agenda 2010 gegen den Widerstand der Populisten gehalten.
Und Angela Merkel? Bislang war sie tüchtig im täglichen Geschäft des Machterhalts, aber von eher mäßiger Gestaltungskraft. In diesen Wochen gewinnt sie Statur im Umgang mit den Folgen der Finanzkrise. Längst geht es nicht mehr um die Abermilliarden für die Bonibonzen in den Glastürmen. Es geht um die Zukunft des vereinten Europas und seiner Wirtschafts- und Währungsverfassung. Es ist schon viel Mut und Härte erforderlich, um sich in der Schuldenkrise Griechenlands so entschieden und einsam gegen die Mehrheit der europäischen Staats- und Regierungschefs zu stellen, wie es Merkel in diesen Tagen vorführt. Eine deutsche Garantie für griechische Anleihen oder ein paar Milliarden für den griechischen Staatshaushalt – es hat schon teurere europäische Kompromisse gegeben. Und es wäre sogar ein geringer Preis – gemessen an den Vorteilen, die Deutschland aus der Währungsunion zieht. Und doch wäre es der Einstieg in eine Finanzpolitik, die die EU zu einer Schulden-Union und in der Folge zu einer Inflations-Union verkommen ließe und damit die Chancen verbaute, dass Europa zum wirtschaftlich erfolgreichsten Kontinent wird. Dieses Ziel wurde vor zehn Jahren, zu Beginn des Lissabon-Prozesses, als eine Art Dekaden-Programm formuliert – und seither vergessen. Und als wäre das schon nicht genug, geht es um noch mehr: Weltweit wird die EU als Wirtschaftsbündnis wahrgenommen. Finanzielle Verwerfungen schwächen damit ihr einziges Gewicht in der Welt. Willkürliche Aufweichungen vereinbarter Regelungen zerbröseln aber auch den Kitt des inneren Zusammenhalts der Gemeinschaft. Eine auf Recht basierte Gemeinschaft würde zu einer Beutegemeinschaft fluktuierender Mehrheiten.
Angela Merkel will in Europa nicht nur die „Madam No“ geben, die geizig die Kasse bewacht und aus sicherer Entfernung zuschaut, wie in Athen die Straßen brennen. Sie will die griechische Krise als Chance sehen, heute über eine Veränderung der europäischen Verträge das nachzuholen, was dem Euro für nachhaltige Stabilität fehlt: Wann, wenn nicht jetzt, sollen Regelungen vereinbart werden, die man bei der Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion versäumt hat? Milliarden für Griechenland soll es nur geben, wenn sich die Staaten wieder zu strikter Haushaltsdisziplin verpflichten, Ausgleichszahlungen verhindern und eine geordnete Insolvenz überschuldeter Staaten auch zulasten der Anleihegläubiger organisiert wird – und letztlich der Rauswurf ungeeigneter Währungsmitglieder möglich ist.
Die gemeinsame europäische Wirtschaftsregierung nach dem Muster Merkel ist stabilitätsorientiert und so das Gegenteil jener französischen Idee, nach der eine gemeinsame Wirtschaftsregierung nur die Europäische Zentralbank von ihrer strikten Anti-Inflationspolitik abbringen soll.
Merkel stellt sich selbst in die Tradition der Stabilitätspolitik, wie sie von der Bundesbank als eine nationale Raison d’être formuliert wurde. Damit würde sie die Vertiefung der Europäischen Union, die unter Kohl betrieben wurde, absichern.
Es ist ein großes Programm. Aus Kohls Mädchen, wie manche sie abschätzig nannten, kann eine eiserne Kanzlerin Europas werden.
(Erschienen am 20.03.2010 auf Wiwo.de)