„Während die Politik Entschlossenheit und Tatkraft zeigt, fühlen sich viele Bürger ohnmächtig und blicken wie paralysiert in den Kriegs-Abgrund. Die Krisenpermanenz wächst sich zur albtraumhaften Dauerschleife aus. Dabei haben die Menschen immer mehr das schwindelige Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füßen entzogen wird. Ihre Kriegs- und Untergangsängste kontrastieren dabei mit ihrem wie gewohnt funktionierenden Alltag und verleihen der Situation so eine Unwirklichkeit: ‚Ich fühle mich, als wäre ich Teil einer schlechten Serie.‘“
So beschreiben die Marketing-Forscher des Instituts „Rheingold“ die derzeitige Situation. Ein wenig Zuversicht spendet die Einigkeit der Weltgemeinschaft, die Handlungsfähigkeit der europäischen und deutschen Politik und der als heldenhaft empfundene Mut der Ukrainer, insbesondere ihres Präsidenten. Trotzdem gleicht die Befindlichkeit der Deutschen einer Schockstarre – „sie fühlen sich paralysiert wie das Kaninchen vor der Schlange“, sagt Stephan Grünewald, Gründer des Rheingold-Instituts.
In einer Art Enttäuschungs-Prophylaxe dampfen viele ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse ein, üben sich in Genügsamkeit und verharren in einer Abwarte-Haltung, so die Rheingold-Studie, die in den ersten Kriegstagen aktualisiert wurde. Denn der Krieg vertieft die Zerrissenheit, schafft neue Fronten. Nicht mehr allein um Geimpfte versus Ungeimpfte geht es, um Anhänger der rotgrünen Transformation gegen jene, die ihr bisheriges Lebensmodell bewahren wollen. Es geht auch um die Unterstützung entweder der angegriffenen Ukraine oder des Angreifers Putin. Gesellschaften brauchen aber einen Minimalkonsens, eine wenigstens grundlegend gemeinsame Sicht auf Probleme und Lösungen, und die Politik muss Mehrheiten hinter sich scharen.
Davon ist Deutschland weiter weg denn je, zerrissener, gespalten und dies ohne Aussicht auf Konsens. Konflikte sind wie Wellen, die abgeritten werden müssen. Wer zur See fährt, fürchtet nicht Wellen, aber Kreuzseen. Sie entstehen, wenn Wellen aus unterschiedlichen Richtungen aufeinandertreffen, sich kreuzen. Durch die Überlagerung dieser Wellensysteme entsteht ein kompliziertes Wellenmuster, das gefährlich für die Schifffahrt werden kann: Zum einen sind Kreuzseen sehr schlecht vorhersehbar, es ist also schwieriger, jede Welle im idealen Winkel anzufahren – schwupp, trifft die falsche Welle das Schiff von der Seite und kann es zum Kentern bringen. Zum anderen können durch die Überlagerung einzelne Wellen deutlich höher ausfallen, als dies normalerweise zu erwarten wäre, und das Schiff zerschlagen.
Schwere Kreuzseen
In Deutschland überlagern sich derzeit mehrere Wellensysteme; es ist schwer zu navigieren.
- Eine überwältigende Hilfsbereitschaft will den Kampf der Ukraine um ihr Überleben unterstützen; streckenweise schaukelt sich diese Welle bis zur Kriegsbegeisterung auf.
- Die andere Welle ist die der Putin-Anhänger. Sie finden sich bei der Linken wie Sahra Wagenknecht und in der AfD, in der Wirtschaft.
- Ein drittes Wellensystem bilden die Kritiker der Corona-Politik. Nun hat ein Virus nichts mit einem Krieg zu tun, der von Menschenhand ausgelöst wurde – aber es wird politisch wirksam.
- Ein viertes Wellensystem wird von diesen drei großen Wellensystemen derzeit überlagert und verliert seine Richtung: die Öko- und Klimawelle. War sie bisher allein bestimmend für den einzuschlagenden Kurs, so hat sie an Dominanz verloren – vermutlich aber nur vorübergehend.
Damit endet die Analogie. Kreuzseen entstehen, wenn der Wind dreht. Das politische Wellensystem ist komplexer, von mehr Stürmen aufgeschaukelt als in einem braven, dem Wettergott gefälligen Ozean möglich.
Die opferbereite Ukraine-Welle
Schauen wir die Wellen genauer an: Auch aus dem fernsten Westen rollen LKWs an die polnische und rumänische Ostgrenze, um Flüchtlinge zu unterstützen; an den Bahnhöfen im Inland werden sie mit großer Hilfsbereitschaft empfangen. Olaf Scholz und Annalena Baerbock reiten diese Welle; vieles scheint möglich. Die Bundeswehr soll wieder in Verteidigungszustand versetzt werden, die Energiewende ist nicht mehr unantastbar, Kernkraftwerke sind nicht mehr tabu, junge Männer melden sich freiwillig für den Kampf mit der Waffe in der Ukraine, und die deutsche Panzerfaust knackt wieder Russenpanzer östlich des Dnjepr und verteidigt den Übergang über den großen Strom nach Kiew.
Die Älteren erinnern sich an diese Kriegserzählungen; die Ukraine war eines der Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs. Stalingrad war verloren, bei Charkow siegte die Wehrmacht ein letztes Mal, und in der Schlacht am Kursker Bogen trafen die deutschen und sowjetischen Panzerverbände aufeinander in einem Inferno aus Stahl, Tod und Verderben für 60.000 Soldaten. Diejenigen, die sich noch daran erinnern, und wenn es nur die Erzählungen waren, die ihnen traumatisierte Veteranen vermittelten: Es sind die Abschlacht-Orte des großen Krieges.
Die Jungen sind weitgehend frei davon. Krieg ist ihnen ein Computerspiel. Tatsächlich: Auf Twitter kann man verfolgen, wie ukrainische Drohnen-Kommandeure ein Ziel anvisieren, fokussieren, abdrücken – und zerstören. In Farbe kann man ukrainische Soldaten verfolgen, wie sie geduckt über ein Flachdach laufen, ihr „ManPad“ aus US-, britischer oder dänischer Produktion über die Dachkante schieben, und in der Ferne steigt die schwarze Wolke eines getroffenen T 90 auf. Tote? Die sieht man nicht. Die Zuschauer sollen nicht erschreckt werden, sondern sich begeistern.
Trägt sie in einen dritten Weltkrieg? Sicher ist nur: Einen vierten wird es nicht geben. Handeln wir in diesem Bewusstsein oder plappern wir Talkshow-gerecht? Angst vor dem Krieg und Kriegsbegeisterung stehen sich diametral gegenüber, führen bei aller Sympathie für die mutig kämpfende Ukraine zu kaum vereinbaren Schlussfolgerungen.
Die Anhänger Putins
Die Gegenwoge ist die der Putin-Anhänger. Verdächtig still ist unser gerade wieder gewählter Bundespräsident. Er war der engste Mitarbeiter von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Beide haben nie Zweifel daran gelassen, dass ihnen, den Erben des Sozialismus, das Erbe der Sowjetunion näher steht als die Vereinigten Staaten von Amerika. Kraft gibt dieser Woge die Angst vor dem Krieg und das „Nie wieder“. Es verbindet sich mit dem unterschwelligen Rauschen des Antiamerikanismus. Der USA wird beispielsweise von Sahra Wagenknecht Mitschuld gegeben, obwohl kein GI in der Ukraine steht; der Volksaufstand vom Maidan war vom CIA durchgeführt, erklären sie mit blauen Augen. Historische Versatzstücke und geschichtliche Blitzlichtaufnahmen werden als ewig gültige Wahrheit für Schuld oder Unschuld angeführt.
Hier treffen sich die Linken mit der AfD, denen dieses ganze Moderne nicht passt; die sich von Putin die Restauration von Altar und Familie erhoffen; autoritär und stramm stehen finden sie schon gut, Ordnung muss sein, und er wird hoffentlich das Gendersprech abschaffen und endlich den Schwulen wieder zeigen, dass sie den Mund nicht zu weit aufreißen dürfen, wenn überhaupt. Und das ausgerechnet bei Putin, der alles nutzt, was ihm nützt! Aber die AfD fühlt sich immer weiter in die Ecke gedrängt; nett war nur die russische Botschaft zu ihnen. In der russischen Botschaft Berlins, die mit dem Marmor aus Hitlers zerstörter Reichskanzlei ausgeschmückt ist, treffen sie auf Linke, deren Gefühlslage ähnlich ist: Ausgegrenzt und isoliert ist Putin ihre letzte Hoffnung. Politik ist immer auch Gefühl.
Putin haben insbesondere die Amerikaner im Westen nicht ernst genommen und dieser dürfe sich jetzt für erlittene Demütigungen rächen. Leider spielt er mit Atomwaffen. Gedanklich werden Stuhlkreise gefordert, in denen er sich über das Unverständnis des Westens ausheulen soll. Selten wurde das kühle Machtkalkül falscher und infantiler psychologisiert. Gekränktheit ist keine politische Kategorie und Putin zu kühl, um sich solchem Gerede zu ergeben, er nutzt es nur zur Legitimation. Geschichte wird instrumentalisiert. Wo jemals der Russen Wiege stand, ist immer Russland.
Dabei wird übersehen, dass bei dieser Art Geschichtsbetrachtung wirklich das alte Unheil sich zu wiederholen droht: Mit der Argumentation nach der Methode Putin könnte Deutschland wieder Anspruch auf Kaliningrad, das alte Königsberg, erheben und Polen oder Österreich auf Lemberg in der Westukraine und auch sonst auf allerlei Landschaft. Wer so trivial geschichtlich argumentiert, landet im totalen Krieg in Europa.
Die Ukraine hat ihre sowjetischen Atomwaffen gegen die Zusicherung territorialer Integrität an Russland abgegeben? Das wird gerne unterschlagen und der ganz große Vertragsbruch mit angeblichen Verstößen gegen das Minsker Abkommen, das kaum jemand gelesen oder verstanden hat, aufgerechnet. Geschichte wird benutzt wie ein Flohmarkt, auf dem man alles findet, und wenn es noch so alt und abgestoßen ist.
Das Leiden der Corona-Kritiker
Die dritte Woge weiß nicht so recht, wo sie hin will. Viele Bürger haben im Zuge der Corona-Politik das Vertrauen in die Politik verloren. Zu viele Lügen, die allesamt nur eine Haltbarkeit von zwei Wochen hatten; zu viele Sanktionen, Pressionen und Denunziationen. Wer aufmuckt, verliert den Job oder seine Ehre. Man soll sich impfen lassen, obwohl Sinn und Zweck sich längst verflüchtigt haben, und willst du nicht gehorsam sein, dann wirst du eben zwangsgeimpft. Aufmärsche für allerlei staatsgefällige Zwecke sind erlaubt, aber 135 Spaziergängern auf den Fildern jenseits von Stuttgart wird mit der Waffe gedroht. Der Staat hat überzogen, ist unbelehrbar oder argumentiert erkennbar falsch. Man soll einem Wirrkopf wie Karl Lauterbach folgen, der seine Coronaflausen zum Maßstab macht; und jetzt noch ein Gesetz zur Zwangsimpfung, durchgepeitscht im Schweinsgalopp im Schatten des Krieges. Wobei doch jeder weiß: Viel hilft nicht viel. Und oh Ironie: Es sind alles Rechte, Reichsbürger und Nazis, die da protestieren.
Und ausgerechnet Putin ist für manche, nicht für alle, der Corona-Helfer. Keinem glauben sie, ihm aber doch. Putin, der aus Angst vor Corona Tische hat, noch länger als eine Stretch-Limo im Gangsterfilm. Putin, der vermutlich aus seiner Angst heraus der einsamste Mensch westlich des Urals ist, Putin ist der Held mancher Maßnahmen-Kritiker. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“, sagt das alte Sprichwort. Die Corona-Politik ist eine Lügen-Serie mit immer neuen Staffeln. Politik, Parteien und Parlamente erfahren jetzt, wie unglaubwürdig sie geworden sind. Ihre vorgetragenen Überzeugungen werden von Hohngelächter quittiert. Eine schlechte Basis für Konsens.
Die woke Woge
Aber dann ist da noch die Grundwoge der Woken. Der Erweckten, die eine „große Transformation“ in Gang setzen wollen und gar nicht gemerkt haben, dass die Transformation schon läuft, die Wirtschaft abwürgt, den Wohlstand vernichtet, die Menschen zurückstößt in finstere Zeiten, und die das Leben von vor 2020 zu einem Film macht, den man mit offenem Mund anschaut: So wohlhabend waren wir mal, haben Infrastruktur abgebaut aus kindlichem Übermut, konnten trotzdem das Wochenende nach Barcelona reisen und auf den Seychellen schnorcheln? Ziemlich viele konnten’s. Jetzt immer weniger.
Und als ob Benzin und Diesel mit der Zwei vor dem Komma nicht schon teuer genug wäre: Jetzt fordert der geheimbündlerische Allparteien-„Thinktank“ Agora noch eine Maut von 5,4 Cent pro PKW-Kilometer. Statt die Bürger zu entlasten wie in anderen Staaten, sollen sie buchstäblich ausgepresst werden, und das unter einem liberalen Finanzminister, der für sein Versprechen gewählt wurde, dass er inflationsbedingte Steuererhöhungen zurückgeben will. Pustekuchen. Die „große Transformation“ wird zum kriegerischen Raubzug des Staates gegen seine Bürger, dass Wirtschaft und Gesellschaft krepieren: Sollen sie doch Kuchen essen, wenn das Brot alle ist! FDP und SPD in der Ampel schauen ungerührt zu, wie grüne Radikale ihre Hirngespinste in Gesetze formulieren zulasten der Bürger.
Führungslos untergehen?
Welche Woge gewinnt? Der Kapitän ist richtungslos, seine ersten Offiziere bekifft oder naiv. Das Narrenschiff schaukelt fröhlich vor sich hin und redet in Talkshows leichtfertig wie eh und je. Den Ernst haben sie noch nicht begriffen. Olaf Scholz und Robert Habeck haben versucht, die erste Woge zu reiten. Aber gelingt es ihnen, die Putinisten zu dämpfen? Die Corona-Ungläubigen wenigstens zu großen Teilen wieder zu überzeugen, dass Deutschland wieder reformier- und demokratisierbar ist, nicht aber Putins Reich? Wie stoppen sie die woke Woge, für deren Anhänger der ganze Planet ein Spielzimmer ist, das sie nach Lust und Laune vermüllen?
Gesellschaftliche Wogen sind keine Naturereignisse. Sie sind gestaltbar, führbar, immer ein Geschaukel, aber dann doch mit Richtung. Ist der Hamburger wirklich Kapitän oder nur fürs Paddelboot auf der Binnenalster tauglich? Derzeit taumelt Deutschland durch eine Weltkrise, hin- und hergerissen. Die Repression wird verschärft, die Opposition vom Inlandsgeheimdienst beobachtet und durchsetzt, immer neue Strafvorschriften für kritischen Journalismus werden formuliert, der Kampf gegen Rechts verschärft, aber keines der Probleme angegangen.
Nach 100 Tagen Ampel ist Deutschland in einer existenziellen Krise. Wenn die Menschen dies merken, kann die Apathie schnell in Aggression umschlagen.