Tichys Einblick
Auch das Parteiensystem zerfällt

Deutschland am Kipp-Punkt

Wirtschaftlich, sozial, gesellschaftlich und politisch – die Politik der „großen Transformation“, wie sie die Ampel betreibt, führt zum Kipp-Punkt: dem schnellen Umschlagen in den rabiaten und rasanten Niedergang. In diesen Wochen könnte es auch die Parteien erwischen.

picture alliance | SPA

Gesellschaftliche Prozesse sind langsam und zäh, das Beharrungsvermögen groß, die Widerstände gegen Veränderung tief verankert. „Politik ist das Bohren von dicken Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“, hat der berühmte Soziologe Max Weber es genannt. Augenmaß ist der Hinweis, dass Politik nicht an Realität und Möglichkeiten vorbeigehen darf.

Wenn genügend gebohrt wurde, kann es auch zu einer schlagartigen Veränderung kommen, zu einem Kipp-Punkt. Plötzlich zerfallen schlagartig festgelegte Ordnungen und Systeme. Im Spätsommer 2024 ist Deutschland an so einem gesamtgesellschaftlichen Kipp-Punkt: Es zerfällt und zerbricht, was unzerstörbar schien – und das gleichzeitig und in verschiedenen scheinbar unabhängigen Bereichen.

Die Wirtschaft fertig

Von einem „grünen Wirtschaftswunder“, das im Wesentlichen durch Milliardensubventionen für unwirtschaftliche Formen der Energieerzeugung ausgelöst werden sollte, ist schon lange keine Rede mehr. Die Realität des grünen Wirtschaftswunders ist geprägt von Firmenschließungen, Pleiten, Bankrotten. Wer noch halbwegs Kraft hat, wandert ab, verkauft oder verlagert Betriebe in Regionen, wo sich noch wirtschaften lässt.

Dass der Stahl- und Technologiekonzern Thyssenkrupp ersichtlich konkursbedroht ist, belastet nicht nur die verbliebene und schwer angeschlagene Stahlregion im Ruhrgebiet, sondern zerschlägt Produktionsketten und Agglomerationen in ganz Deutschland. Dass BASF in Ludwigshafen im großen Stil Anlagen demontieren und verlagern lässt, bedeutet: Auch die Kunden und Weiterverarbeiter der vielfältigen chemischen Vorprodukte werden verschwinden, weil sie dahin müssen, wo es diese Produkte aus der Pipeline gibt.

Die Automobilindustrie, an der jeder siebte Job hängen soll, ist schwer angeschlagen. Noch überlebt sie, aber wenn Mercedes wie geplant seine Motorenproduktion nach China verlagert, dann bedeutet das: Eine große Tradition geht zu Ende und mit ihr verschwinden Technologie und Innovationsbasis. Und diese Prozesse passieren gleichzeitig und verstärken sich gegenseitig zum Kipp-Punkt: Wer als Chemiefacharbeiter um seinen Job bangen muss, wird kaum ein neues Auto bestellen, ohne Blech von Thyssenkrupp.

Nicht nur um traditionelle Branchen handelt es sich; auch der letzte verbliebene IT-Konzern SAP baut in Deutschland massiv Arbeitsplätze ab. Die EU will die künstliche Intelligenz regulieren, aber findet nichts zum Regulieren. Lieferkettengesetze sollen den Weg jedes Garn-Zipfelchens im T-Shirt nachverfolgen, aber es wird immer weniger zu verfolgen sein. Schon fürchten Nachbarländer wie Österreich, dass sie in den deutschen Sog einer chaotischen Energiepolitik und sozialen Geldverschwendung geraten.

Deutschland, früher die Lokomotive der europäischen Wirtschaft, mutiert zum Mühlstein um den Hals, und Robert Habeck versteht es noch, sich darüber zu wundern. Ein Hohn, dass selbst die staatlich gefeierte Wärmepumpenindustrie Werke schließt. Wer nicht mehr an die Zukunft glaubt, kauft auch kein unerprobtes Heizungssystem mit unkalkulierbaren Folgekosten. Was hier geschieht, ist ein Kippen, das kurzfristig nicht mehr aufzuhalten ist: Jeder zerstörte Betrieb ist auf Nimmerwiedersehen weg und zieht andere mit.

Der Bundeshaushalt

Gerade noch wird eine Haushaltseinigung verkündet – aber noch immer fehlen 12 Milliarden Euro. Dieser Haushalt ist nicht verfassungskonform, er ist eine Täuschung; von Solidität keine Spur. Der Konflikt bleibt: Die Ampel-Parteien (mit Ausnahme der FDP) wollen die Schuldenbremse lösen. Abgesehen davon, dass sie trotzdem Rekorschulden machen und das Gesetz bei Nachfrageschwäche flexible, sprich höhere Verschuldung ermöglicht: Fakten interessieren nicht mehr in der Sprechblasenpolitik Berlins. Denn Fakt ist, dass beim Zusammenbruch der Angebotsseite einer Wirtschaft die Stärkung der Nachfrageseite wirkungslos bleibt.

Bei den Neuzulassungen hat der Dacia Sandero aus Rumänien in der Absatzstatistik den VW-Golf überholt. Deutschland produziert zu teuer, die Konsumenten kaufen billiger. Und weil die Wirtschaft nicht mehr läuft, vergrößern sich die Löcher ganz von allein, auch ohne die vielen Ausgabenprogramme der Bundesregierung, etwa für ihre politischen Vorfeldorganisationen („Zivilgesellschaft“), die die Bürger außerhalb der Gesetze überwachen, schikanieren und einschüchtern sollen.

Die Renten sind unfinanzierbar, die Pensionen der Beamten sowieso; auch wenn über die Letzteren niemand spricht, weil daran auch die Versorgung der zig zehntausenden Politpensionäre aus Bundestag, Landtagen und Kommunalparlamenten hängt. Die Krankenkassen erhöhen die Beiträge, die Pflegeheime greifen immer ungenierter auf das Altersvorsorgekapital, auf Omas Häuschen und Opas letzte Lebensversicherung zu. Keines dieser Probleme ist mit höherer Verschuldung lösbar. Der Zeitpunkt der Bankrotterklärung wird nur zeitlich verschoben.

Zuwanderung verschärft demographisches Problem

Dass Deutschland wegen der Überalterung seiner Bevölkerung ein Problem hat, das nur mit großer Mühe zu bewältigen ist: bekannt. Seit Jahrzehnten. Aber macht es da Sinn, eine Massenzuwanderung zu befördern, die in drei von vier Fällen auf dem Sozialamt, im Bürgergeld und jedenfalls einer öffentlichen Versorgungskasse einschließlich der Rentenversicherung endet? Statt mitzuhelfen, ein seit mittlerweile Jahrzehnten bekanntes und sich aufbauendes Problem zu lösen, packt man dem Land noch weitere Versorgungsfälle per Personenimport auf den Rücken.

Man holt Menschen ins Land, aber baut keine Wohnungen. Man will den Älteren dafür ihre Wohnung wegnehmen oder sie aufs platte Land verschicken, wo sie ohne soziale Anbindung, Freunde, Bekannte, Familie, Nahversorgung und Ärzte verkümmern sollen – das Rezept der Bauministerin Geywitz ist nur noch menschenverachtend. Wer kann, hält an seiner Wohnung fest, auch wenn sie zu groß und zu teuer geworden ist – denn alle Alternativen sind schrecklicher.

Dass die Produktivität der Bevölkerung sinkt, weil die Schulen die neuen Aufgaben nicht bewältigen – interessiert keinen. Sie singen das Lied vom Fachkräftemangel, während sie mit Hilfe staatlicher Frühverrentungsprogramme Fachkräfte auf die Straße setzen. Sie plappern von höherer Leistungsbereitschaft und Verlängerung der Lebensarbeitszeit, während gleichzeitig denen, die noch arbeiten, wegen der steigenden Steuern und Abgaben die Lust am Schaffen vergeht.

Der soziale Zusammenhalt zerbricht

Deutschland wurde in den 50er- und 60er-Jahren als ziemlich langweilige, spießige „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ beschrieben. Ja, sie war langweilig, etwas graumäßig, aber hat gerade deshalb glänzend funktioniert. Davon ist nichts mehr übrig geblieben. Die sozialen Konflikte nehmen zu – auch in Folge einer Masseneinwanderung, die Alteinwohner benachteiligt, gleichzeitig aber auch Zugewanderte, weil sie diesen, kaum dass sie Fuß gefasst und bescheidenen Wohlstand erlangt haben, diesen Wohlstand wieder wegnimmt, weil sie Wohnungen, Schulplätze, soziale Versorgung schon für die nächstfolgende Einwanderungswelle benötigt.

Viele Leute höchst verschiedener Herkunft fühlen sich abgestoßen, als Fremde im eigenen Land. „Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ heißt das jüngste Werk des US-Historikers Francis Fukuyama. Die Geschichte, Herkunft und Würde der Bevölkerung wird durch arrogante Politfunktionäre herabgesetzt. Der Kampf gegen Diskriminierung hat zu einer Fokussierung auf die Identität der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen geführt, in ethnischer und religiöser Hinsicht sowie besonders hinsichtlich der sexuellen Orientierung. Diese Bewegung, mit von ihrem Ursprung her legitimem Wunsch nach Freiheit vom Ressentiment, hat eine Eigendynamik entwickelt, die in vielen Fällen einen Gegenreflex zur ursprünglichen Intention hervorgerufen hat.

Aus dem Anti-Diskriminatorischen wurde eine neue Art der Diskriminierung; immer winzigere und obskurere „Identitäten“ ersetzen jedes Gemeinschaftsgefühl und setzen sich darüber. Der Normale ist der Dumme. Durch immer neue Quoten wird Kompetenz durch „Identität“ ersetzt und werden diejenigen an den Rand gedrängt, die über keines dieser oft schrägen Merkmale verfügen und ganz einfach ihr Leben mit Familie in Anstand und Wohlstand führen wollen, ohne ihre Vorlieben im Schlafzimmer ins Schaufenster zu stellen.

Deutschland zuletzt!

Die Ampel treibt dieses Vorhaben täglich weiter: Gerade weil das Scheitern ihrer Energiepolitik nicht mehr zu bestreiten ist – sprengen sie Teile der noch vorhandenen, voll funktionsfähigen und sicheren Kernkraftwerke. Auf dem Weg in ihre grüne Utopie hinterlassen sie verbrannte Erde; und das erstaunlich oft in Zusammenarbeit mit der CDU/CSU: Ausgerechnet Markus Söders Landesregierung hat sich den Grünen angeschlossen und die Kühltürme des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld sprengen lassen – einfach so.

Es soll kein Weg zurück zu einer wirtschaftlichen Stromversorgung möglich sein. Es ist eine Art Treppenwitz, dass am selben Tag der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter die Sprengung der Nord-Stream-Gaspipeline als legitime Maßnahme der Ukraine rechtfertigt: Das Gas sollte die Alternative zu Kernkraftwerken bilden. Die Interessen Deutschlands scheinen bei Politikern von Grün bis Schwarz keinen Stellenwert mehr zu besitzen.

Gemeinsam mit den Grünen haben CDU-Landesregierungen das Vorhaben verhindert, dass Asylsuchende nach Urlauben in den angeblichen Verfolgerstaaten nicht mehr die Bequemlichkeiten und Vorzüge der Vollversorgung in Deutschland erhalten. Über jeden Gesetzesverstoß wird ein Mantel des Schweigens und des Vertuschens gezogen. Wer illegal eingereist ist, soll keinesfalls das Gefühl erhalten, dass die Gesetze des Gastlandes auch für ihn gelten. Schwerste Straftaten werden milde behandelt. Selbst Mörder dürfen nicht dem Risiko ausgesetzt werden, in den Herkunftsländern bestraft zu werden, wenn sie überhaupt als strafmündig gelten. Statt Messermörder zu verfolgen und zu bestrafen, werden Messer verboten, eine immer krudere Logik wird gepredigt und geglaubt. Immer mehr Menschen bleiben hilflos, schutzlos und verbittert zurück. Ihnen wird täglich demonstriert, dass ihre Interessen nicht zählen – sei es wirtschaftlich, sozial oder ihre körperliche Unversehrtheit betreffend.

Die Eigendynamik der Abwertung der Ursprungsbevölkerung führt zu einer Gegenbewegung, die unter dem Slogan „Wir holen uns unser Land zurück“ steht. Es wird gröber in Deutschland. Aggressiver. Bunter eben. Die staatlich ständig eingeforderte Diversität schlägt in verordnete Einheitsmeinung um: „Wer bestimmten ‚vielfältigen‘ Aussagen widerspricht, wird ausgegrenzt – sozial, beruflich und finanziell. In der Wissenschaft hat dies zur Folge, dass bei bestimmten Themen (Klima, Gender u. Ä.) nur noch über 65-Jährige frei sich äußern (können); denn gegen sie gibt es keine beruflichen Sanktionen mehr. ‚Vielfalt‘ ist zu einem ideologischen Schlagwort geworden, mit dem Minderheiten ihre Meinung der Mehrheit aufzwingen und deren Freiheit beschränken wollen“, so der Sprachwissenschaftler Helmut Berschin. Weil Selbstverständlichkeiten sich auflösen, Abnormes zur Norm wird und Gemeinsamkeiten verfallen, wird die bisherige Vertrauensgesellschaft zu einer Gesellschaft gegenseitigen Misstrauens, wachsender Konflikte und zunehmender Auseinandersetzungen.

Welche Zukunft für Deutschland?

In Thüringen und Sachsen wird in zwei Wochen gewählt. Nach den derzeitigen Umfragen ist nur noch der Einzug der CDU als stärkste oder auch nur zweitstärkste Partei sicher. Grüne und FDP wie auch die Linke drohen mehr oder weniger sicher, an der 5-Prozent-Hürde zu scheitern; selbst die einst so stolze Noch-Kanzlerpartei SPD steht in vielen Landstrichen auf der Roten Liste bedrohter Parteien. Deutschland ist in jeder Hinsicht am Kipp-Punkt.

Das Parteiensystem hat sich durch seinen Zugriff auf die Staatskasse bislang gehalten und zusammen mit den staatsnahen oder staatsfinanzierten Medien den Anschein der Beständigkeit bewahrt, jeden Konkurrenten diffamiert und versucht, Wettbewerber außerhalb des Verfassungsbodens zu stellen. Der Inlandsgeheimdienst wurde längst zum Instrument der Gegnerbekämpfung.

Aber auch diese Blase ist dabei zu zerplatzen. Da mögen sie zetern, dass ihnen die neuen Parteien nicht passen, die AfD so wenig wie BSW oder die Werteunion, Freie Wähler oder sonst wie. Am Kipp-Punkt rutscht es ohne Halten. Auch das Parteiensystem zerfällt, denn die Parteien regieren und existieren nicht autonom. Sie brauchen den Rückhalt in der Bevölkerung nicht nur am Wahltag, sie existieren nicht ohne Gesellschaft und Wirtschaft. Irgendwie haben sie den Kipp-Punkt übersehen.

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