Tichys Einblick
Victim Blaming

Der Totschlag von Köthen und die Umwertung des Rechts

Eine Kette von Verfahren zeigt: Die Justiz deutet die Opfer zu Tätern um und macht ihnen den körperlichen Zustand und Krankheit zum Vorwurf. So können Gewalttäter entweder gleich freigesprochen oder allenfalls milde bestraft werden.

ODD ANDERSEN/AFP/Getty Images

Rund acht Monate nach dem Tod eines herzkranken 22-Jährigen bei einem Streit in Köthen hat das Landgericht Dessau-Roßlau die beiden Angeklagten verurteilt. Sie seien der Körperverletzung mit Todesfolge schuldig. Das Gericht verhängte gegen den 17 Jahre alten Angeklagten am Freitag eine Strafe von einem Jahr und fünf Monaten. Er wird vermutlich bald freigelassen; Untersuchungshaft und Bewährung werden dafür in Anspruch genommen werden. Sein 19 Jahre alter afghanischer Landsmann wurde zusätzlich wegen zwei weiterer Taten zu einer Gesamtstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, so weit die aktuellen Berichte ganz sachlich.

Die aggressive Familie

"Du sollst nicht töten"
Köthen und die politische Einordnung von Tätern und Opfern
Dann schreibt Focus-Online weiter: „Seine Familie reagierte aggressiv auf die Verkündung des Strafmaßes für die beiden Angeklagten. Ein Bruder des Toten warf einen Tisch um, eine Schwester schrie. Die Justizbeamten mussten eingreifen und die Angeklagten wurden kurzzeitig aus dem Raum geführt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.“

Man hat das Bild vor Augen: zwei harmlose Afghanen, denen irgendwie ein Toter dazwischen kam, und diese aggressive deutsche Familie, die Rache fordert. So sind sie, diese archaischen Sachsen, verlangen harte Urteile!

Immerhin: Der Tod sei kein bloßer Unfall gewesen, sondern sei durch die Körperverletzung der Angeklagten fahrlässig verursacht worden, begründete die Vorsitzende Richterin Uda Schmidt das Urteil. Dass das Urteil so sanft ausfällt, kann man allerdings nicht der Richterin alleine vorwerfen: Die Milde war seit dem Tag der Tat angelegt gewesen – von der Polizei und der Staatsanwaltschaft.

Wie das Opfer zum Täter gemacht wird: „Victim Blaming“

Schauen wir zurück: Im Sommer 2018 haben im sächsisch-anhaltinischen Köthen afghanische Asylbewerber dem jungen Mann Tritte gegen den Kopf versetzt, der ihren Streit um die Schwangerschaft einer Frau schlichten wollte. Er ging bei der anschließenden Prügelei zu Boden und starb nach Schlägen und Tritten. Schnell allerdings wurde dieser einfache Sachverhalt kompliziert.

Nein, nicht durch Schläge und Tritte sei das Opfer ums Leben gekommen. Vielmehr sei er an einem Herzinfarkt gestorben. Die Ermittler von Kripo und Polizei sprachen von einem „versagensbereiten Herz.“ Damit war das weitere Verfahren vorbereitet, das bis zu dieser lächerlichen Verurteilung führte: Dem Opfer wurde seine Krankheit zur Last gelegt. Aus den schwereren Vorwürfen von Mord oder schon leichter: Totschlag, wurde der Weg zur bloßen Körperverletzung vorgezeichnet.

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Neudeutsch nennt man es „Victim Blaming“ – das Opfer wird für die Tat verantwortlich gemacht, nicht die Täter. Besser wäre es gewesen, der junge Mann hätte tatenlos zugeschaut, wird suggeriert. Bei dem Herzen! Früher hätte man um das Opfer besonders getrauert, das sich trotz seiner gesundheitlichen Schwierigkeiten eingemischt habe. Medien übernahmen die geschönte Darstellung. So meldete das ZDF und später fast wortgleich die Tagesschau: Über die genauen Tatumstände ist noch nichts bekannt. Allerdings starb Markus B. „mit Sicherheit“ an Herzversagen.

Das ZDF setzt bei den heute-Nachrichten noch einen drauf: „Vom Umfeld des Toten weiß man, sein Bruder ist ein vorbestrafter rechtsextremer Intensivtäter.“ Dass der Bruder ein Rechtsexremist ist, was sagt das über den Toten? Was wollen die Medien damit über den Toten sagen?

Das ist eine bemerkenswerte Rechercheleistung. Man kennt die Identität des Opfers nicht. Aber die des Bruders ist bekannt. Ist es relevant zu wissen, was den Bruder eines Opfers auszeichnet? Wo doch sonst in deutschen Medien neuerdings Täter nicht mehr genannt werden – aber jetzt die Familienangehörigen des (unbekannten) Opfers? Das ungute Gefühl entsteht: Die Drehung der Nachricht vom „Herzversagen“ reicht noch nicht. Jetzt soll das Opfer auch noch poltisch diskreditiert werden.

Ein Redakteur des Tagesspiegels, Matthias Meissner, schrieb dazu: „Beim Bruder des Opfers handelt es sich nach @welt-Informationen um einen vorbestraften rechtsextremen Intensivtäter. Wird #Köthen das nächste #Chemnitz?“

Aber ist eine Tat entschuldbar, wenn das Opfer nicht die volle körperliche Leistungsfähigkeit aufweist? Ist nicht für die Beurteilung einer Tat die Absicht des Täters entscheidend? Man könnte auch anders entscheiden. Allerdings stammt diese Entscheidung aus dem Jahre 2009, immerhin sechs Jahre vor der großen Umwertung vom Opfer zum Fast-Selbstmord.

Der Fall Dominik Brunner

In einem ähnlichen Fall wurde 2009 der Münchner Dominik Brunner geschlagen und getreten, nachdem er sich schützend vor eine Gruppe Schüler gestellt hatte. Der Mann wurde als „Held von Solln“ zum Synonym für Zivilcourage. Am 20. Dezember 2009 kamen rund 3.000 Bürger zu einer Gedenkkundgebung auf dem Münchner Odeonsplatz. Die hessische Stadt Dietzenbach benannte im Juli 2010 einen Platz nach Dominik Brunner. Es gibt Dominik-Brunner-Schulen, Rettungseinrichtungen, Straßen, Plätze, Stiftungen; er bekam posthum das Bundesverdienstkreuz.

Victim-Blaming
Mein Schlag-Wort des Jahres: "Versagensbereit"
Aber auch Brunner war schwer herzkrank, und die Todesursache waren nicht Schläge und Tritte, sondern ein Herzinfarkt. Ein medizinisches Gutachten bestätigte, dass Brunner ohne Erkrankung die Schläge überlebt hätte. Die beiden Täter wurden trotzdem zu Haftstrafen von 7 Jahren und 9 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Der Richter prägte damals den Satz, wonach ein Täter keinen Anspruch auf ein gesundes Opfer habe. In der Begründung heißt es: Zunächst griffen die Täter Dominik Brunner mit Körperverletzungsvorsatz an. Der ging zu Boden. Als Markus Sch. zutrat, „war ihm bewusst, dass Brunner sich nicht mehr wehren konnte und nahm tödliche Folgen in Kauf. Daher hat er zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt“, sagt Richter Baier.

Das „versagensbereite Herz“ war damals noch nicht erfunden. Aber die Tat war 2009, das Urteil wurde 2010 gesprochen. Und jetzt also das „versagensbereite Herz“.

Wie man Milde produziert

Staaten im Staat
Deutschland auf dem Weg zu einem „Zwei-Recht-System“
Die mediale und begriffliche Vorarbeit dient wohl dazu, ein mildes Urteil zu erzeugen. Der Täter kann doch nichts dafür, sondern das Opfer. „Versagensbereit“ ist seither das Synonym für den Zustand Deutschlands. Die Rechtssprechung ist jederzeit „versagensbereit“, wenn es um diese Konstellation geht: Opfer einheimisch und leichtsinnig genug, aktiv zu werden; Täter Opfer von „Flucht” und widrigen Umständen. Schließlich sei der Tod schon „vor den Tritten gegen den Kopf des am Boden Liegenden“ eingetreten, so die Staatsanwaltschaft in Sachsen-Anhalt. Die Täter haben also nur eine Leiche geschändet, so ein Glück für sie. Dass sie auch zugetreten hätten, wenn das Opfer bei voller Gesundheit gewesen wäre – was soll’s? Umstände dienen nur zur Entlastung in dieser Fallkonstellation, oder? Aber sind Tritte gegen den Kopf eines offensichtlich Wehrlosen keine Tötungsabsicht? Früher schon, heute nicht mehr? Wussten die Täter schon, dass der Angegriffene tot war und traten sie dennoch zu? Oder waren sie entschlossen, ihn zu töten und traten deshalb zu? Es sind viele Fragen, die nicht gestellt und nicht beantwortet werden, handelt es sich bei den Tätern doch um „Schutzsuchende“, als per se Opfer.

Deutlicher kann man das neue Vorgehen einer mittlerweile versagensbereiten Justiz nicht erkennen; alles wird zurecht gebogen, um die Tat zu beschönigen. So erzeugt man milde Urteile und Beruhigungspillen.

Was die Fälle unterscheidet

Die Tat gegen Dominik Brunner wurde von einem Richter beurteilt, der die Motive der Täter berücksichtigte; denen war Brunners Herz egal, die Brutalität der Täter wurde zum Maßstab, nicht das Herzkammerflimmern des Opfers.

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Totschlag an Niklas in Bonn bleibt ungesühnt - in Essen regieren die Clans
In Sachsen-Anhalt dagegen dient die Krankheit des Opfers als Entschuldigung für die Täter schon bei der Staatsanwaltschaft; die Anklage dient der Produktion eines milden Urteils. Und es diente dazu, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Denn wenige Tage vorher war es in Chemnitz zu Protesten gekommen, nachdem dort ein junger Mann von Asylbewerbern vor einem Geldautomaten erstochen und ein weiterer lebensgefährlich verletzt worden war. Köthen durfte nicht zu einem Fall Chemnitz werden, nachdem man schon Mühe genug hatte, die öffentliche Erregung von den Morden hin zu den Protestieren zu lenken, die man nur mit äußerster Anstrengung als Nazis diffamieren konnte. Seither ist viel von unflätigen Beschimpfungen, Hakenkreuzen und Hitlergrüßen die Rede, wenig von den Opfern.

Versagensbereit bei der notwendigen Aufklärung spielten die Medien mit – wen interessieren noch Ursachen von Protesten, wenn schon Täter vorweg entschuldigt werden? Für weitere Opfer hat die neue deutsche Justiz keine Bereitschaft, Urteile zu fällen. Einen Rentner oder eine Rentnerin zu töten wird wohl kaum mehr bestraft: Schließlich ist es wohl deren altersbedingt schlechter körperlicher Zustand, der zum Tode führt, nicht die Tat. Maßstab eines Gerichts, folgt man der Richterin im Fall Köthen, ist wohl der fitte, vor Gesundheit strotzende Jüngling. Jeder, der körperlich nicht das Herz eine Marathonläufers, die Muskeln eines Gewichthebers oder die Geschicklichkeit eines Fallschirmspringers hat, ist selber schuld! Schlechter körperlicher Zustand ist strafmindernd bis zum Freispruch.

Sie halten das für übertrieben? Leider häufen sich diese Fälle.

Der Freispruch von Bonn im Falle Niklas P.

Niklas war Schüler und lebte in der Kurstadt Bad Breisig.

Am 6. Mai 2016 besuchte er das öffentliche Feuerwerk »Rhein in Flammen«. Niklas war auf dem Nachhauseweg, zusammen mit einer Freundin und einem Freund, als er von drei »jungen Männern« nahe der Haltestelle Rheinallee in Bad Godesberg angegriffen wurde. Es wurde, so weit man weiß, gezielt gegen seinen Kopf getreten (wdr.de, 4.5.2019).

Am 12. Mai 2016 starb Niklas in der Uni-Klinik Bonn.

Es gibt Verdächtige und es gibt Zeugen der Tat, doch es gibt niemanden, der offiziell am Tod des Schülers die Schuld tragen wird. – Die Ermittlungen wurden nun eingestellt.

In den Nachrichten heißt es:

„Der Täter konnte nicht ermittelt werden, da das gesamte Umfeld eisern schweigt“, sagte der Bonner Oberstaatsanwalt Robin Faßbender. „Wir gehen nach wie vor davon aus, dass viele Leute wissen, wer das getan hat, aber keiner erzählt es uns“, sagte Faßbender. „Wir sind in diesem Fall aber auf die Aussagen von Zeugen angewiesen.“ (bild.de, 4.5.2019)

In der Wohnung von Walid S. fanden Ermittler eine Jacke mit Blutspuren des Opfers. S. gab an, die Jacke nur geliehen zu haben. Der Besitzer der Jacke, der sich wegen eines anderen Delikts in Untersuchungshaft befand, erklärte, die Jacke zwar verliehen zu haben, jedoch nicht an S., sondern an einen anderen Freund. Dieser wurde polizeilich vernommen, dann aber wieder freigelassen.

Kleinreden und hochjubeln
Wortwahl: Zwischen Ausflucht und Absicht
Im August 2016 ergab ein medizinisches Gutachten, dass die Gefäße im Gehirn des Opfers „vorgeschädigt“ waren. Todesursache sei der Riss einer Ader im Gehirn infolge eines Schlags, der „im Normalfall keine schwerwiegenden Folgen gehabt hätte“, noch vor den Tritten gegen den am Boden Liegenden gewesen. Die Staatsanwaltschaft änderte daraufhin den Vorwurf des Totschlags in Körperverletzung mit Todesfolge, Walid S. blieb jedoch wegen Wiederholungsgefahr in Untersuchungshaft. Das war der erste Hinweis darauf, dass die Tat möglichst ungesühnt bleiben sollte, indem die offenkundige Tötungsabsicht mit der Krankheit von Niklas P. bereite gewischt wurde.

Und jetzt also die konsequente Fortsetzung durch die Einstellung des Verfahrens – wegen dieses „eisernen Schweigens“ der Beteiligten und ihres Umfelds. Der Richter hat natürlich Trost auch mitgeliefert. Sollte sich eines Tages doch noch jemand dazu durchringen, sein Schweigen zu brechen, würden die Ermittlungen wieder aufgenommen, versicherte Richter Faßbender.

Warum Walid S. trotzdem sitzt

Der heute 23-jährige Walid S. ist polizeibekannt. Unter anderem wurde er verdächtigt, in mehrere Schlägereien verwickelt gewesen zu sein. So auch in der Nacht zum 10. Februar 2019 am Uni-Hauptgebäude. Dabei wurde ein 26-Jähriger so brutal attackiert, dass er mit Kopfverletzungen ins Krankenhaus kam.

Wenige Tage später wurde Walid S. festgenommen. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft, weil die Justiz Wiederholungsgefahr sieht. Die Staatsanwaltschaft erwirkte Haftbefehl wegen gefährlicher Körperverletzung gegen den 23-Jährigen. „Die Ermittlungen dauern an, liegen aber in den Endzügen“, sagte Faßbender dem GA.

Man kann es auch anders sehen. Hätte man in Bonn wie in Köthen nicht das Opfer zum Täter umgedeutet, hätte man das Schweigen der vermutlichen Täter nicht akzeptiert, wären weitere Verbrechen vermieden worden. In den kommenden Wochen wird der Mord von Chemnitz verhandelt. Wetten können angenommen werden – wird es überhaupt eine Verurteilung geben? Auch in Chemnitz schweigen die der Tat Verdächtigten, und die Tat wird kleingerichtet.

Aber das würde einen Staat voraussetzen, der nicht als höchste Tugend seine „Versagensbereitschaft“ demonstriert.

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