Vermutlich ein letztes Mal müssen wir dem Spiegel dankbar sein. Für seine Selbstaufgabe und die Beschreibung seiner inneren, weithin verkommenen Denkstrukturen. In einem denkwürdigen Beitrag verabschiedet er sich vom fairen und faktengebundenen Journalismus. „Die Zeit der Neutralität ist vorbei“, denn
„Neutralitätsjournalismus ist uninteressant und unaufrichtig“, heißt es da.
Was den Spiegel beschäftigt: Die New York Times hatte einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem der (gewählte) Senator Tom Cotton aus Arkansas den Einsatz von Militär erwog, um gegen Anarchie, Gewalt und Plünderungen vorzugehen. Laut Cotton hätte die US-Regierung nicht allein die Möglichkeit, sondern sogar die verfassungsmäßige Pflicht, den Ausbruch von »innerer Gewalt« in den Bundesstaaten zu verhindern. Deshalb hätten die Präsidenten Eisenhower, Kennedy und Lyndon B. Johnson mit Militärtruppen Mobs zerstreut, die in den fünfziger und sechziger Jahren die Aufhebung der Rassentrennung in den damals von den Demokraten regierten Südstaaten verhindern wollten. Und noch 1992 setzte George H. W. Bush eine Infanterie-Division und 1.500 Marines ein, um »Los Angeles gegen die Rassenunruhen zu schützen«.
Was man nicht mehr schreiben darf
Diesen Kommentar kann man mögen oder auch nicht. Der Einsatz des Militärs bei inneren Unruhen ist sicherlich eine höchst umstrittene Entscheidung – aber es gibt auch gute Argumente dafür. Und dass Trump und einer seiner Anhänger dies befürworten, ist eine Nachricht. Nachrichten sind nicht das, was uns gefällt oder unsere Meinung bestätigt. Nachrichten sind Fakten, die für unser Leben bedeutsam sind; sie sind das, was wir als aufgeklärte Bürger wissen sollten, als Basis der Meinungsbildung. Aber diskutiert werden darf offenbar nicht mehr. James Bennet, der verantwortliche Chef der Kommentarseite der NYT, musste gehen. Die Zeitung windet und windet sich seither. Der Spiegel begrüßt das. „Der Meinungschef der „New York Times“ musste gehen, weil er einen Gastbeitrag im Trump-Duktus veröffentlicht hat – und einem überholten Ideal von neutralem Journalismus nachhing.“
Das Vergehen des Journalisten hat also zwei Momente: Er hat es gewagt, die Position des US-Präsidenten zu veröffentlichen, und damit gezeigt, dass er diesem vermeintlich überholten „neutralen Journalismus“ anhängt.
Der Eid des Hippokrates und journalistische Unabhängigkeit
Nun ist es so eine Sache mit neutralem Journalismus: Es ist schwer, dem Ideal zu folgen. Da ist die Sensationsgier der Leser. Sie lesen lieber vom ungewöhnlichen Vorgang, dass der Postbote einen Hund beißt, nicht aber vom Alltäglichen, dem genau Umgekehrten. Sind das News? Die Auswahl der Nachrichten ist immer subjektiv. Ist eine Fassbombe, die über Aleppo abgeworfen wurde (und wenn ja: von wem?) wichtiger als die Information, dass in Dortmund Obdachlose ins Kittchen sollen, weil sie die Distanzregeln der Corona-Zeit nicht befolgt haben? Schon immer schlagen sich Journalisten mit der Aufgabe herum, Wichtiges vom Unwichtigen, Aufgebauschtes vom Sensationellen, Vorgetäuschtes vom Tatsächlichen und Fakten vom Erfundenen zu unterscheiden. Das klappt nicht immer; aber es gibt professionelle Regeln, Gesetze, und in vielen Fällen eine Ausbildung, die das unterstützt; Vorgesetzte überprüfen die Berichte, Gerichte kontrollieren, letztlich entscheiden die Leser.
Ideal in die Tonne?
Denn was tritt an diese Stelle? Gibt man die Neutralität auf, bleibt der Transport von Nachrichten, die einzig und allein dem Journalisten und seiner Haltung Tribut zollen, statt Nachrichten, in denen es um Richtiges und Wichtiges geht. Es entsteht dann ein Journalismus, der sich als „Transmissionsriemen“ versteht, wie es Lenin nannte und in der Sowjetunion und der DDR durchgesetzt wurde: Journalismus soll die Werktätigen dahin lenken, wohin die Partei es will. Journalismus wird eine Unterabteilung der Propaganda, ein Hilfsmittel der Agitation, im windelweichen Westen harmlos als „Belehrungs- und Haltungsjournalismus“ getarnt.
Der steht im strikten Gegensatz zum Fakten-Journalismus, der nüchtern aufschreibt, was ist, und nicht herbei schreiben will, was nach Meinung einer Elite sein soll. Das ist die Wasserscheide zwischen dem aufklärerischen Journalismus, wie ihn eine Demokratie braucht, und einem verschwiemelten „konstruktiven“ Journalismus, der die Menschen umlenken will und sie manipuliert.
Es ist dem Spiegel dafür zu danken, dass er sich klar zum Agitations-Journalismus bekennt. Schließlich praktiziert er den schon lange; und dieses Berufsverständnis hat sich in immer mehr Redaktionen ausgebreitet, längst viele Redaktionen erobert und sorgt dafür, dass die Wirklichkeit und das mediale Bild der Wirklichkeit in Deutschland immer weiter auseinanderfallen.
Immer mehr verschwiegene Nachrichten
Es dauerte Tage, bis nach der Silvesternacht 2015/16 breit bekannt wurde, dass auf der Kölner Domplatte rund 700 Frauen von Zugewanderten sexuell auf das Übelste belästigt wurden. Weil zunächst nur eine Lokalzeitung darüber berichtete, aber beispielsweise der WDR, vor dessen Haustür dies buchstäblich geschah, dazu schwieg, konnte der Polizeipräsident Kölns am Morgen danach noch behaupten, es wäre eine ungewöhnlich friedliche Nacht gewesen. Nur weil neue Medien wie TE die Nachrichtenlücke füllten, wurde das Geschehen bundesweit bekannt.
Wenn aber zukünftig Journalisten ihren Job im Sinne des Spiegels wahrnehmen, können die Regierenden oder Machthaber tun und lassen, was sie wollen. Demokratische Kontrolle braucht kritischen, faktenorientierten Journalismus, oder die Demokratie wandelt sich in eine manipulative Herrschaft, die sich von den Wählern und der Wirklichkeit zunehmend abkoppelt.
Die Vorgänge auf der Kölner Domplatte in der Silvesternacht von 2015 auf 2016 sind eine Art Zeitenwende. Immer mehr Redaktionen haben sich auf die Seite der Regierenden geschlagen und dreschen auf jene Kollegen ein, die ihren Job noch unvoreingenommen ausüben. Statt kritischer zu werden, feiert die Beschönigung mediale Feste. Spätestens seither kann die Bundesregierung ihre Politik mit Hilfe vieler Journalisten in die Tat umsetzen, statt von den Journalisten kritisch hinterfragt zu werden, auch wenn Fakten und Geschriebenes noch so weit auseinander klaffen.
Seither allerdings beschleunigt sich auch der Verfall der Auflagen. Die Leser hassen Verschweigen, sie wollen, dass Sachverhalte aufgedeckt werden. Doch das geschieht immer seltener und wird durch „Framing“, also Meinungsmache, ersetzt.
Ausländerkriminalität ist so ein verschweigendes Thema; gezielt wird seither die Herkunft der Täter verschwiegen oder verschleiert. Wer auf den um den Faktor 10 höheren Anteil zugewanderter Kriminalität verweist, wird von den regierungsnahen Medien als Rassist beschimpft. Energiepolitik ist so ein Thema; in den monatlichen Jubelberichten über den Ausbau der Erneuerbaren Energien werden die irrwitzig hohen Kosten, die zunehmende Umweltzerstörung, der wachsende CO2-Ausstoß des Gesamtssystems und die steigende Gefahr eines mörderischen Black-Outs verschwiegen. Längst wird der „Kampf gegen Rechts“ als polit-mediale Staatsraison geführt, die tatsächlichen Bedrohungen von Rechtsradikalen überzeichnet dargestellt, die linke oder muslimisch motivierte Gewalt verleugnet.
Wenn nicht mehr Fakten im Vordergrund stehen, sondern Wünsche und Vorstellungen in den Redaktionsstuben zum Ideal werden, dann entfernt sich der Journalismus von seiner eigentlichen Funktion: Informationen zu liefern, zu warnen, auch über unangenehme Fakten zu berichten in der Hoffnung, dass auf Grund der neuen Faktenlage richtigere Entscheidungen getroffen werden.
Wie politisch ist das Virus?
Und als TE einen Bericht aus dem Bundesinnenministerium veröffentlichte, in dem auf die Folgen einer zu hektischen Politik verwiesen wurde, reagierte der Innenminister unter dem beifälligen Gemurmel der Hauptstadtpresse mit der Formel, das amtliche Papier sei nur eine „Privatmeinung“ und ließ den Verfasser aus dem Amt entfernen. Horst Seehofer hatte zwar erkennbar die Unwahrheit gesagt – aber was macht es, wenn die Hauptstadtpresse lieber über eine angebliche Privatmeinung fabulieren hilft, statt auch nur in einer Zeile den brisanten, amtlich festgestellten Inhalt zu erwähnen? Die vorerst letzte Wendung dann im Zuge von schicken Ravern mit Schlauchbooten in Berlin und zahlreichen Anti-Rassismus-Demonstrationen: Plötzlich scheint die passende linke Gesinnung gegen das Virus immun zu machen.
Auf die Spitze hat die FAZ diesen Widerspruch getrieben: Über die Hygiene-Demos leitartikelte das Blatt, dass das „Brett vor dem Kopf“ nicht zu den Grundrechten zähle und Hygiene-Demonstrationen angesichts der Ansteckungsgefahr verantwortungslos seien – um kurze Zeit später zu schreiben, Demonstrationen seien „eine Wohltat“. Nach Meinung des Autors beider so konträrer Beiträge, weiß das Virus offensichtlich nach politischer Ausrichtung der Demonstranten zu unterscheiden. So lächerlich wird es, wenn Journalismus sich von der geforderten Neutralität entfernt.
Die Funktion von Debatten in der Demokratie
Nun reicht es nicht, sein Abo zu kündigen. Demokratie braucht Debatte, braucht unterschiedliche Meinungen und Sichtweisen, um schrittweise bessere Lösungen zu finden. Das unterscheidet die offene Gesellschaft von der autoritären: Die offene Gesellschaft braucht Streit, Debatte und Diskurs, um zu lernen. Die autoritäre Gesellschaft braucht Zwang, um das zunehmend als falsch, als kontraproduktiv Erkannte trotzdem durchzusetzen; und je miserabler die Ergebnisse, umso höher der Zwang, bis schließlich nur noch offener Terror hilft.
Demokratie braucht offenen, fairen, streitbaren Journalismus. Ob der Mundschutz hilft oder nicht – wir wussten es auch nicht; allerdings legten unabhängige Berichte aus Asien dies nahe. Ob ganze Stadtviertel abbrennen oder das Militär eingesetzt werden soll: Eine schwierige Entscheidung und keine einfache Antwort ist in Sicht.
Aber wer wie der Spiegel den Versuch aufgibt, klügere Lösungen zu finden und nur noch eine, nämlich seine Meinung, dekretiert und als einzige erlaubte durchzusetzen versucht, zerstört die demokratische Gesellschaft, zerstört die ständige Suche nach der besseren Lösung, führt Land und Leute in die Irre im Glauben, der Mann oder die Frau an der Spitze sei allein im Besitz der richtigen Landkarte. Journalismus ist keine Jubel-Veranstaltung. Kritik ist schwerer als Lobhudelei.
Danke, Spiegel, dass du dich aufgibst und Platz machst für neue, bessere Medien. Und wir müssen gegen einen heimtückischen Kreuzzug kämpfen, der darauf abzielt, zu kontrollieren, was die Öffentlichkeit sieht, hört, denkt und glaubt. Dieses Projekt, das in verschiedenen westlichen Kulturen nach Hegemonie strebt, ist nicht weniger gefährlich als frühere Versuche der Gedankenkontrolle durch totalitäre und theokratische Regime.