„Das Bermuda-Dreieck“ – so nannte man im ersten Regierungsjahr 1983/84 von Bundeskanzler Helmut Kohl den Leitungsbereich des Kanzleramts: Gewichtige Akten verschwanden auf rätselhafte Weise wie angeblich Flugzeuge und große Schiffe im gleichnamigen, rätselhaften Wasser. Termine wurden verstolpert. Fragwürdige Interviews abgesegnet. Es waren mehr als Pannen, manche trug den Keim einer Staatskrise in sich.
Nach der Präzisionskanzlerhochleistungsmaschine Helmut Schmidt entstand schnell die Frage: Kann der chaotische Pfälzer Kohl das? Einen Staat richtig regieren, der doch etwas größer ist als Rheinland-Pfalz und die Staatskanzlei von Mainz, die eigentlich nur ein vergrößertes Landratsamt darstellt und wo er durchaus erfolgreich, aber territorial begrenzt regierte?
Kohl konnte nur mit Schäuble regieren
Helmut Kohl konnte regieren, indem er Wolfgang Schäuble holte. Von 1984 bis 1989 war Schäuble Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes. Das Amt kehrte zur leisen Effizienz eines perfekten bürokratischen Apparats zurück, zu dem es ursprünglich Adenauer entworfen und Schmidt vervollkommnet hatte. Ungemein fleißig wie Schäuble war, sorgte er nicht nur dafür, dass keine Vorlage mehr verschlampt wurde, im Zweifelsfall hatte er die Aktenvorgänge im Kopf oder den Verfasser persönlich angerufen. Die Hierarchien des Amtes achtete er nicht, wenn ihn ein Thema interessierte – dann trug eine wissenschaftliche Hilfskraft komplexe volkswirtschaftliche Botschaften vor. Schäuble hörte genau zu und steuerte Kohls Politik aus dem Hintergrund; der perfekte zweite Mann an der Spitze, der die Bühnen für den ersten Mann aufbaut, Regie führt und für den Kartenverkauf sorgt. Das Theater Kohl war immer voll unter dem Impresario Wolfgang Schäuble.
Überarbeitung bis zur Erschöpfung galt als Normalfall. Sein Bundestagsmandat rund um das heimatliche Gengenbach bei Offenburg, das er immer direkt gewonnen hat, wollte er trotzdem nicht aufgeben. „Dann weiß ich doch gar nicht mehr, was die Leute denken. Im Wirtshaus sagen mir das die Menschen. Ihr sagt es mir ja nicht ins Gesicht, wenn ihr glaubt, dass mir die Wahrheit nicht passt.“ Schäuble konnte direkt sein. Immer unterhielt der regen privaten Briefverkehr auch mit Kritikern, Wissenschaftlern, Künstlern und Buchautoren, versuchte so die Papierwände der Bürokratie zu durchstoßen. Es folgten glanzvolle Ministerämter; er war Minister des Innern von 1989 bis 1991, von 1991 bis 2000 Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und von 1998 bis 2000 auch CDU-Parteivorsitzender, von 2005 bis 2009 erneut Bundesminister des Innern sowie von 2009 bis 2017 Bundesminister der Finanzen.
Meisterstück: Die halbvollendete Wiedervereinigung
Was von Schäuble wirklich bleiben wird, ist der Einigungsvertrag mit der DDR, den er maßgeblich gestaltet und verhandelt hat. Auch wenn andere daran großen Anteil hatten wie Innenstaatssekretär Hans Tietmeyer sowie der FDP-Vorsitzende und Justizminister Kinkel: Es war Schäuble, der die gärige, chaotische, impulsive, verwirrende Umbruchphase buchstäblich in einen gewaltigen Verwaltungsakt umorganisierte. Das soll man nicht gering schätzen. Es klappte. Alles und jedes wurde bundesdeutschem Recht unterworfen, das einzige Zugeständnis blieb die Übernahme der Rechtsabbiegerampel aus der DDR in die gesamtdeutsche Straßenverkehrsordnung. Mit Paragraphen wurden jedes Aufmucken gefesselt, jedes Abweichen verhindert, jeder Revolutionär und Illusionär in ein unsichtbares Streckbett gesteckt. Westdeutschland wurde über Ostdeutschland gestülpt.
Man mag darüber meckern – es klappte, es wärmte, es funktionierte. Die Wiedervereinigung wurde zum Verwaltungsakt, die Montagsdemonstrationen zum Vorgang eingedickt. Schäuble organisierte den Triumph der Verwaltung über den Aufstand, blockte jede Suche nach einem dritten Weg ab, verhinderte jede Irritation von Politik, Wirtschaft oder Bevölkerung im Westen, indem dieser sich einfach ausbreitete wie zäher Brei und mit seinen Abkömmlichen alle Schaltstellen besetzte. Es funktioniert bis heute – um den Preis, dass jede Reform erstickt wurde, die das gewohnte Räderwerk im Westen hätte zum Stocken bringen können. Um den Preis, dass der Osten bis heute ein maskierter Westen ist und kaum irgendeine Chance für Kreativität eigener Entwicklung oder gar gefährlicher Experimente in Anspruch nehmen konnte. Es ist eine halbvollendete Wiedervereinigung, die daran leidet, dass denen, die die Initiative ergriffen hatten, die gerade eroberte Macht abgekauft und deren Visionen durch eine vorhandene Struktur ersetzt wurden.
Schäuble verehrte preußische Tugenden. Der straff gelenkte Zentralstaat ohne nörgelnde Föderalisten war sein Idealbild. Deshalb kämpfte er erfolgreich für sein zweites Ziel: Berlin als Bundeshauptstadt. Er wusste sehr wohl, dass die Abkehr vom gemütlich-rheinischen Bonn zu Gunsten des auftrumpfenden Berlin mehr sein würde als nur eine Rückkehr zur historischen Normalität. Schäuble war geradezu verliebt in den perfekt tickenden Militärstaat, der denen, die ihre Gehorsamspflicht erfüllten, auch liberal erscheinen mag.
Schäubles Glanz und Gloria ist seine Grenze
Im Management der Wiedervereinigung und der Rückkehr nach Berlin liegt Schäubles Größe und Herrlichkeit, aber auch seine Begrenzung. Der mächtige Chef der Verwaltung bleibt eben derselbe, wenn ihm Chuzpe, Frechheit und Mut zur eigentlichen Machtergreifung fehlen. Der Untertan der Paragraphenwelt bleibt Untertan, wenn er nicht begreift, dass der Griff zur Macht letztlich immer ein Akt der Usurpation bleibt; dass Machtergreifung rücksichtslos ist.
So bleibt Wolfgang Schäuble bei allem Glanz als Bundestagspräsident, der ihm das protokollarisch zweitwichtigste Amt verlieh, ewig der „Hinwartende“, wie ihn Fritz Goergen nannte. Er wartete hin, bis ihn Helmut Kohl als Nachfolger ausrufen sollte, nur ließ Kohl seinen treuen Gefährten so lange warten, bis sich die Nachfolge erledigt hatte. Er jonglierte und changierte in der Parteispendenaffäre, bis ihn Angela Merkel endgültig aus dem Rennen warf. Er wollte als Finanzminister Griechenland aus dem Eurosystem werfen, aber wartete hin, bis ihn Bundeskanzlerin Angela Merkel zurückpfiff und die Chance einer grundlegenden Reform vertan war. Er wollte zum Bundespräsident berufen werden, aber der Anruf kam nicht, weil Angela Merkel einen intellektuell ihr weit überlegenen politischen Vollprofi im höchsten Staatsamt scheute. Trotzdem blieb der ihr loyal, und Merkel beließ ihn in hohen Ämtern, selbst als Bundestagspräsident kam er ihr nicht in die Quere. Viel wurde gerätselt – was wussten die beiden voneinander, dass sie so erkennbar schonend miteinander umgingen und Schäuble der ewig treu dienende Zweite blieb, der Gaul, der den Karren zieht, während Merkel im Scheinwerferlicht stand? Die Fehler Merkels sind auch die Fehler von Schäuble. Weder in der Corona-Krise noch in der Zuwanderungspolitik hat er eine auch nur haarfein abweichende Haltung vertreten. Insofern wurde er vom Kohl-Minister zu Merkels Vollstrecker, zusammen mit Volker Kauder brachte er Partei und Fraktion auf Kurs, und brach deren Selbstbewußtsein und Eigenstädnigkeit. Wolfgang Schäuble ist tot. Er war machtvoll, aber dann doch ein Zauderer. Das ist ihm zum Verhängnis geworden.So geht er als Merkels Hilfspolizist bei allen ihren katastrophalen Fehlern von Migration über Atomausstieg bis hin zur Coronalpoitik in die Geschichte ein, nicht als Gestalter, der er hätte sein können und den früher viele in ihm gesehen haben. Was hat ihn daran gehindert, in so wichtigen Fragen eine eigene Position einzunehmen?
Schäuble besiegt Schäuble
Seine Lähmung war es nicht. Schäuble, der Geistesmensch, besiegte den geschundenen Körper im Rollstuhl. Nach dem Attentat, das ihn 1990 an den Rollstuhl fesselte, blieb Schäuble mit eiserner Disziplin aktiv. Er perfektionierte noch einmal seine Perfektion. Jeder Auftritt musste sorgfältig geplant werden, denn Schäuble wollte demonstrieren, dass er im Rollstuhl durchaus autonom war – aber jede ungeplante Stufe, jede erhöhte Plattform ohne Rampe hätte diese Illusion zerstört. Er blieb beherrscht, eine eiserne Maske, die die kochende Wut, das emotionale Magma in diesem schwer geschlagenen Mann verbergen sollte.
Manchmal blitzte das auf – es reichte, dass der Rollstuhl im zu flauschigen Teppich einer Veranstaltungshalle stecken blieb wie die Bahn im Schnee, und die Jovialität entlud sich als Wutausbruch. Sie wurde zum Politikum, als er einen führenden Mitarbeiter wegen fehlender Fotokopien öffentlich vorführte. Man sah besser weg, wenn er auf den Armen seines Leibwächters in ein Linienflugzeug getragen werden musste. Man durfte ihn nicht bemitleiden, wenn er wegen der Folgen einer Unterleibsentzündung nicht an EU-Gipfeln der Finanzminister teilnehmen konnte, und der immer noch kräftige Mann im Rollstuhl buchstäblich zu seiner gebrechlichen Winzigkeit schrumpfte. War diese Verbitterung die Ursache dafür, dass er vom jungen Mann Kohls zum bösen Geist Merkels wurde?
Schäuble bekämpfte jede Form der Schwäche an sich und jede Depression, die unweigerlich lähmen mag in dieser qualvollen Situation. Er trainierte hart, um den Rest an Beweglichkeit zu perfektonieren, wirkte souverän, und diese Darstellung mag ihn unendlich Kraft gekostet haben. Nicht mehr er füllte die Ämter aus, sondern die Ämter ihn. Dass er zuletzt das Amt des Bundestagspräsidenten an Bärbel Bas abgeben musste, deren Intelligenz wirkt wie das Teelicht vor dem Stadionscheinwerfer, hat ihn zuletzt gekränkt. Er sagte, mit 81 sei er zufrieden, nicht viele erreichten dieses Alter in seiner Situation. Das mag richtig analysiert sein, intellektuell. Aber der Mann in ihm, der frühere Sportler, glänzende Tennisspieler, Machtmensch, der in diesem bisschen Körper eingesperrt war und daraus keinen Ausweg fand trotz aller Anstrengungen, der handlungsorientierte Zweckoptimist, der zuletzt die Grenzen der Medizin akzeptieren musste: Dieser Mensch hat zuletzt doch aufgeben müssen. Zufrieden kann er nicht gewesen sein, diese Gnade wurde ihm verwehrt wie das höchste Amt.