Respekt für Franziska Giffey. Statt dem üblichen Geschwätz der Wahlverlierer sagt sie ganz klar: „Die SPD ist nicht die Nummer 1, vielleicht nicht mal die Nummer 2.“ Die Berliner – sie redet brav auch immer von …innen, seien „nicht zufrieden“ mit der SPD. „Die wünschen sich was anderes.“ So weit redet sie mit ihrer leisen Stimme, so atemlos, so leise ist es im Saal; so ein Eingeständnis kennt man sonst nicht. Sonst geben sich Verlierer ja immer als Sieger aus. Darauf verzichtet Giffey.
SPD in der Trotzphase
Aber dann kommt die Trotzphase. Die SPD habe nur ein Jahr Zeit gehabt, jammert sie. Das sei kurz. Zu kurz in einer Phase so vieler Krisen. Auch SPD-Chef Lars Klingbeil singt das Lied der Vergesslichkeit.
Wie bitte? Die SPD regiert in Berlin seit 20 Jahren. Ist das jetzt eine ganz neue SPD, eine ohne Vergangenheit? Hat sie sich neu erfunden unter Franziska Giffey?
Das hat sie natürlich nicht. Giffey muss die Suppe auslöffeln, die die SPD vor ihr mit den Koalitionspartnern von Grünen und Linken angerichtet hat. Und sie muss auslöffeln, dass im Bund entschlossen eine Politik gegen die Bevölkerung geführt wird, die sich der „großen Transformation“, so der Koalitionsvertrag, ausgeliefert sieht – im Namen der SPD.
Bemerkenswert ist, dass damit parallel zur SPD auch die Linke kräftig Stimmen verloren hat.
Nun ist ja immer die Frage nach der Lagerbildung zu stellen. Rot-Rot-Grün wird von der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang schnell als „progressives Lager“ gefeiert, das Klimaneutralität und Wohnungsversorgung befördern will. Möglicherweise hat Ricarda Lang mehr Recht, als ihr und Giffey recht sein kann. Denn: Das progressive Lager hat die soziale Frage aufgegeben. Die soziale Frage, das wäre: Verbesserung der Lebensbedingungen. Das ist das Thema, für das vor 150 Jahren die SPD gegründet wurde.
Es geht ihr nicht mehr um Arbeitsplätze; Wohnungen werden nicht gebaut, obwohl immer neue Migranten in die Stadt strömen. Das Betonfeld des früheren Berliner Flughafens wird nicht bebaut; die Grünen bekämpfen jede Baumaßnahme. Die Stadt verkommt, die innere Sicherheit verfällt, die Schulen sind nicht mehr leistungsfähig, kaum dass die Kinder dort überhaupt noch Deutsch sprechen. Auch die innere Sicherheit ist eine soziale Frage. Wer genügend Geld in der Tasche hat, nimmt ein Taxi; die Verkäuferin, die Kellnerin, wer nicht so viel Geld hat, ist auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen und damit auf Verspätung, Bedrohung, Schmutz und lange Fahrtzeiten.
Das progressive Lager fährt Dienstwagen
Das „progressive Lager“ dagegen will jede Autofahrt zum Luxusgut machen. Parkplätze fallen weg, Fahrbahnen werden verengt, Straßen gesperrt – wer nicht teuer wohnt im Grunewald, hat Pech. Die Deindustrialisierung des Landes verschrottet die letzten Industriearbeitsplätze. Aufstieg wird zum leeren Traum, Bildung als Voraussetzung für beruflichen Erfolg ist eine Idee von gestern.
Wer im Eigenheim wohnt oder in Charlottenburgs großbürgerlichen Wohnungen der Gründerzeit – alles kein Problem. Die soziale Lage verschärft sich da, wo die Inflation die kleinen Einkommen weiter wegfrisst, wo Wohnungen schlicht nicht mehr zur Verfügung stehen und die Kosten für Privatschulen nicht aufgebracht werden können. Alles das spielt in Berlin keine Rolle mehr. Migration ist das soziale Thema schlechthin: Wer Sozialbeiträge zahlt, finanziert die Zuwanderung ein Stück weit mit und verliert Wohnraum und Chance auf Gehaltserhöhung.
Die FDP wurde für ihre Unterwürfigkeit in der Ampel abgestraft. Die AfD hat sehr gut abgeschnitten, und was untergeht: Niedrige Wahlbeteiligung und 9 Prozent für „sonstige Parteien“ zeigen, dass die Bürger sich von diesen rotgrünen Parteien und ihrer ideologischen Verblendung abwenden. Die Grünen-Chefin Bettina Jarasch ärgert sich, dass in der früher geteilten Stadt im Osten noch nicht so einheitlich gewählt werde, wie es sich die Grünen wünschen. Klar, im Osten der Stadt ist das Geld knapper und sind die Wohnungen enger und die AfD doppelt so stark wie im Westen. Aha.
Verlust der Kernwähler – das macht der SPD wenig aus, denn Giffey ist ja erst ein Jahr im Amt. Die SPD hat ihre dominante Rolle verloren, weil sie das grüne Lied singt statt ihren eigenen Text. Sahra Wagenknecht hat ja Recht, wenn sie ihre eigene Partei kritisiert, die ihre Wähler aus den Augen verloren hat. In ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ beklagt Wagenknecht, dass linke Parteien drängende soziale Fragen aus den Augen verloren hätten und so traditionelle Wähler verprellten. „Lifestyle-Linke“ nennt sie die, oder: Die Café-Latte-Fraktion verliert, und die Pils-Trinker haben keine Vertretung mehr.
Da kann jetzt Franziska Giffey sich am Rockzipfel von Bettina Jarasch noch irgendwie in die Regierung retten, sei es als regierend-geduldete Bürgermeisterin oder sonstwie in einer Koalition der Verlierer. Es ändert nichts daran:
Das progressive Lager hat die Wahl verloren; und die Grünen-Wähler mit ihrem Gehalt aus dem öffentlichen Dienst oder einer staatlich finanzierten NGO saugen die alten Linken weiter aus. Die neue Formel von der „stabilen Mehrheit“ soll vergessen machen, dass sich hier Verlierer an die Macht klammern, und dazu gehört auch die Formel von den „demokratischen Parteien“; grenzt nur aus und redet dann wieder von Gemeinsamkeit. Gemeinsamkeit mit den Wählern, die nicht auf der Butterseite des Lebens gelandet sind; das ist übrigens die am schnellsten wachsende Gruppe. Aber die soll ja keine Vertretung haben in der „stabilen“ Verlierer-Koalition der demokratischen Parteien.
Die SPD scheint das zu wollen. Politische Erfahrung scheint ihr zu fehlen. Sie ist ja erst ein kurzes Jahr im Amt. Selbstbetrug ist das neue Lied der Sozialdemokratie.