Tichys Einblick
Gillamoos

In Bayern gewinnt Aiwanger die Bierzelte für sich

Das Volksfest Gillamoos wird seit dem 16. Jahrhundert gefeiert. Am Montag aber ist es eine höchst aktuelle Abstimmung im Konflikt SPD/GRÜNE und Süddeutsche Zeitung gegen Hubert Aiwanger und seine Freien Wähler.

IMAGO

Alle reden vom Internet, aber politische Mehrheiten werden im Bierzelt herbei geredet, herumgeschrien, herbeigesoffen. So war es immer und so ist es auch im Digital-Jahr 2023. Politik ist Emotion pur, Gefühl, Vertrauen und im Bierzelt sieht man: Hat der eine Steh‘, oder auf Hochdeutsch: Steht der da vorn, oder fällt er um im Gegenwind? 

Bericht von der Ägidius-Wallfahrt

Der Ursprung des Gillamoos liegt in einer Ägidius-Wallfahrt zu einer kleinen Kirche nahe der Einöde Gilla, welche im Jahr 1313 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Es ist also eine Kirchweih, das traditionelle Fest um die Kirche mitten im Dorf in Bayern. 20.000 bis 30.000 Besucher werden 2023 gezählt, und jeder von ihnen wird daheim, in der Familie und am Stammtisch berichten von dem, was vorgefallen ist, was geredet wurde und wo die Gaudi am höchsten war. Die Wallfahrt zum Ägidius-Zelt und Dank seiner Gnade schäumender Maßkrügen wirkt glaubwürdiger als Kurzmeldungen der sozialen Medien.

Schon um 8.00 Uhr meldet ein TE-Leser: „Die längsten Schlangen stehen vor dem Zelt der Freien Wähler“. Das Zelt wird schon zwei Stunden vor Beginn wegen Überfüllung geschlossen. Im Zelt bei der SPD, wo aus Berlin Parteichef Lars Klingbeil angereist ist, um mit seiner Taschenlampen-Strahlkraft den Bayern-Spitzenkandidat Florian von Brunn zu unterstützen, der ein kleines Licht ist, waren zu dieser Zeit kaum mehr als nur die Bedienungen zu sehen. Auch bei den Grünen, wo Spitzenkandidatin Katharina Schulze den Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann als Hauptredner erwartete, leiden die Bierbänke Hunger.

Es ist eine Abstimmung mit den Füßen, Trillerpfeifen und Stimmbändern.

„Hubert, Hubert“ schreien die Gäste, es sind ein paar Tausend. Nachdem Aiwanger in den Zeitungsspalten und TV-Sendungen geprügelt und durch die Radiosendungen gejagt wurde, hört und spürt man, wie er die Energie vor und im Zelt aufnimmt, von ihr getragen wird. Am Sonntag um 19.20 Uhr noch wurde er von Markus Söder im ZDF zum Schuljungen klein gemacht, den er, Söder, aus seiner Gnade und Weitsicht noch mal weitermachen lässt. Geschickt wurde Aiwanger verteidigt, und gleichzeitig geschrumpft, ein Meisterwerk von Söders Rhetorik. Kann Aiwanger noch aufholen, seine Eigenständigkeit wiedergewinnen? In Gillamoos fliegen ihm jedenfalls die Sympathien zu.

Die Angst vor der Pfeife bei den Grünen

Anders ist die Stimmung im kleineren Zelt der Grünen. Prophylaktisch wurden aufgrund der jüngsten Erfahrungen wohl schon einmal Schilder angebracht. Da klebt eine kleine Verbotstafel mit einer verdrucksten Sonnenblume, aber ihre Botschaft ist nicht fröhlich: „Das Mitführen und die Nutzung von Trillerpfeifen, Hupen, Vuvuzelas oder ähnlichen Gegenständen ist aus gesundheitlichen Gründen im Weinstadl untersagt. Bei Verstoß behalten wir uns vor, vom Hausrecht Gebrauch zu machen“.

Was sind denn das für gesundheitliche Gründe? Hat Katharina Schulze von den Grünen Angst vor dem Gepfeife wie im August, wo sie schon einmal im Bierzelt bei Chieming ausgepfiffen wurde? Die Grünen sind angetreten als Partei, die die Demonstration zum politischen Zweck kultiviert hat – vor Kernkraftwerken bis hinein in den Bundestag. Jetzt muss sie sich vor Bierzeltbesuchern fürchten. Die aggressivste deutsche Partei wird zur defensivsten. Sie hat das verloren, was ihre Macht ausgemacht hat: die kulturelle Hegemonie. Die hat sie nur noch bei der Süddeutschen Zeitung, aber nicht mehr bei den Bürgern. Und just als sich Schulze als Vertreterin bürgerlicher Tugend darstellt, pfeift es dann doch von ganz hinten.

Die SPD hat eines ihrer Kernländer verloren

Auch im Sozi-Zelt wird geschrien, und wie, vom Spitzenkandidat der SPD in Bayern, von Brunn, von dem man nicht weiß, ob der wirklich die Fünf-Prozent-Hürde schafft. Und das in einem Land, das traditionell ganz früher nach dem Ruhrgebiet die größte sozialdemokratische Bewegung hatte, die mit ihrem früheren Mitglied Kurt Eisner den ersten Ministerpräsidenten nach dem 1. Weltkrieg, und mit dem legendären Wilhelm Hoegner auch nach dem 2. Weltkrieg stellte. „Dieses wunderbare Land gehört nicht der CSU“, ruft Parteichef Klingbeil mit dem Charme einer Büroklammer. Dabei hat er Recht. Bayern ist nicht von Natur aus ein CSU-Land, es wurde dazu durch Generationen menschenferne Politiker wie von Brunn gemacht, und jetzt kriegt er das Zelt kaum voll. Von Brunn wirft Aiwanger doch allen Ernstes vor, die Widerstandskämpferin Sophie Scholl, die für ihre Anti-Hitler-Flugblätter ermordet wurde, werde von Hubert Aiwanger „verhöhnt“. Im Bierzelt zu sprechen ist, wie vom Hochseil aus zu sprechen: Es muss populär, aber es darf nicht hundsgemein sein. Der Adelige von Brunn ist vom Hochseil in die Odelgrube gestürzt, wenn er ohne Begründung einen politischen Gegner als Nazi-Helfer bezeichnet. Draufhauen allein reicht nicht. Klingbeil behauptet, niemand werde zum „Gendern“ oder Fleischverzicht gezwungen. Er vergisst die Studenten und Schüler, die ohne Benutzung  des Sprachkrampfs schlechtere Noten erhalten und die Fernsehzuschauer, die sich den Schluckauf jeden Abend anhören müssen. Er vergisst auch die ständige Veggie-Propaganda von Cem Özdemir, vermutlich, weil sie für einen Privilegierten wie ihn niemals gilt, während den kleinen Leuten der Sonntagsbraten immer weiter verteuert wird. Die Lebenswirklichkeit bleibt wie immer draußen. Klingbeil will noch mehr Staat, sagt er. Freiheit und Wirtschaft sollen weiter reduziert werden.

Stattdessen überschüttet die SPD den virtuellen Raum mit jubelnden Tweets und Facebook-Posts. Das wirkt blutleer, weil sie keine Antwort findet auf die Sorgen des Großteils der Menschen, die sie wählen sollen und kämpft um Zielgruppen im Promille-Bereich.

Friedrich Merz für Markus Söder

Natürlich hat die CSU das größte Zelt; und Friedrich Merz verbeugt sich so tief er kann vor dem Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. „Das ist Deutschland. Nicht Berlin. Nicht Kreuzberg. Gillamoos ist Deutschland!“ Dann streichelt der CDU-Chef die Söder-Seele: Viele Bürger in Deutschland würden gerne mit den Menschen in Bayern tauschen – dem „am besten regierten Bundesland“. Merz: „Danke CSU!“

Das wir man sich merken, wenn es um die Kanzlerkandidatur geht.

Söder bedankt sich artig, schließt wieder eine Koalition mit den Grünen kategorisch aus und sagt, dass die Grünen vor der eigenen Tür kehren und Bayern in Ruhe lassen sollen, wo übrigens viel mit Holz geheizt werde. Das versteht man: Holz statt Habeck und seine elektrische Wärmepumpe, der der Strom abgeschaltet werden kann, wann immer Habeck will. Er umschmeichelt die Zuhörer: „Weil in jedem bayrischen Dorf mehr Verstand steckt als im ganzen Berliner Regierungsviertel!“ Und verspricht, die stillgelegten Kernkraftwerke wieder anzuwerfen, bis die Energiekrise überwunden ist.

Das tut gut in Gillamoos, eine dieser Ecken Deutschlands, in der gearbeitet wird, auf dass die Politiker im fernen Berlin in gefüllte Kassen greifen können für Maßnahmen, die in der ganzen Welt wirken, aber nicht in der Hallertau. Die Berliner Blase trifft wenigstens für zwei Stunden auf die Wirklichkeit. Söder lässt die Flugblatt-Affäre beim Gillamoos unerwähnt. Lieber will er die Grünen auf den Mond schießen: „Ich will nie zum Mond“, sagt der CSU-Chef. „Ich wollte nie zum Mond, aber wenn wir einige Grüne da hinschicken können, dann wäre mir ein Shuttle recht.“

Winnetou ist zurück in Gillamoos

Und dann ist da der frenetisch begrüßte Hubert Aiwanger. Er winkt seinen Fans zu, vor dem Zelt. Sichtbar bemüht ist er, die Finger beim Winken nur ja auseinander zu spreizen. Er weiß, dass nur eine falsche Geste als Hitlergruß gedeutet und ihn vernichten würde. Er wirkt angespannt, kein Wunder, fast defensiv.

Er erinnert an den Auftritt eines Winnetou-Doubles bei seiner Gillamoos-Rede vor genau einem Jahr. Die Freien Wähler hätten damit Stellung bezogen in einer Zeit, als es „plötzlich nicht mehr politisch korrekt erschien, Cowboy und Indianer zu spielen“. Damit habe die Partei dokumentiert, „dass wir für Meinungsvielfalt stehen“. Er habe sich auch beim Thema „Papa und Mama“ gegen die „vorgegebene Meinung“ gestellt und die Forderung nicht mitgetragen, dass vom „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ geredet werden müsse oder von „K1“ oder „K2“ statt „Sohn und Tochter“. Aiwanger beklagt eine politische Entwicklung in Deutschland, in der Ideologie statt Vernunft im Vordergrund stehe.

Damit spricht er seine Wähler an, deren Welt von immer neuen Ideen von Roten und Grünen und Woken aus den Angeln gehoben werden soll. Die Kosten der Habeck-Heizung sind das eine, aber noch teurer für die Menschen wird die angestrebte Zerschlagung von Familien dargestellt, die absurde Trans-Propaganda, die Zensur und Umschreiberitis, die selbst vor Kinderbüchern nicht aufhört, im Gegenteil: Es sind ja gerade die Kinder, deren Sicherheit untergraben werden soll, um sie anfällig zu machen für die sexuellen Phantasien eine seltsamen Minderheit. Ansonsten hält er eine brave Rede: „Existenzängste treiben Menschen zu Radikalen“, sagt er beispielsweise. Er braucht nicht mehr auf den Tisch hauen. Er hat seine Steh‘ bewiesen. Er hat der großen Zeitung und den Staatsmedien getrotzt. Er braucht kein blutleeres Internet. Seine Anhänger brauchen einen Aiwanger. Das gilt jetzt.


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Annahmeschluss ist der Wahlsonntag (08.10.2023) um 17:35 Uhr. Das Wettergebnis wird bis einschließlich Montag, den 09.10.2023, veröffentlicht. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Auf die Gewinner wartet:
1. Platz: eine Flasche Champagner von Roland Tichys Tante Mizzi aus Verzy
2. Platz: zwei Bücher aus dem Shop nach Wahl
3. Platz: ein Buch aus dem Shop nach Wahl

++ Abstimmung geschlossen ++
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