Die Invasion Russlands in der Ukraine ist zugleich das Erfolgsergebnis eines neuen Armeekonzeptes, eines hybriden Krieges. Da rollen nicht mehr nur Artillerie und Panzer auf, unterstützt von einer Luftwaffe, sondern hybrider Krieg bedeutet, den sogenannten Cyberraum zu nutzen, um Banken, Medien, die kritische Infrastruktur eines Staates anzugreifen. Zu diesem Schluss kommt Ralph Thiele, Oberst a.D., im neuen TE-Gespräch, das Sie sich als Podcast in voller Länge anhören können.
Thiele weiß, wovon er spricht. Er hatte Schlüsselpositionen beim Nato-Oberbefehlshaber und im deutschen Verteidigungsministerium inne, ist heute Präsident von EuroDefense Deutschland, CEO von StratBird Consulting und Vorsitzender der politisch militärischen Gesellschaft zu Berlin.
In seinem neuen Buch über die hybride Kriegsführung beschreibt Thiele die Angriffe aus dem Cyberspace, dem Weltraum und dem elektromagnetischen Spektrum. Die sind weithin unbemerkt zu einer wesentlichen Bedrohung für die westlichen Gesellschaften geworden. Sie werden jetzt etwa in der Ukraine sichtbar.
Eine deutliche Sprache spricht der Aufruf des ukrainischen Verteidigungsministeriums, dass Zivilisten mit Molotow-Cocktails gegen die technisch überlegenen Invasionstruppen kämpfen sollen. Zumal nur noch ein Teil dieser Truppen mit Panzern und Flugzeugen durch die Straßen rollt, der andere mit Informatik und IT-Technologie von irgendwoher aus dem Cyberraum angreift. Der Aufruf, mit Molotow-Cocktails gegen die russische Armee anzukämpfen, mutet mittelalterlich an.
Holger Douglas: Sind das jetzt die hochpräzisen Schläge, von denen das russische Verteidigungsministerium spricht?
Ralph Thiele: Erst einmal ist es ein hybrider Krieg, bei dem man den anderen mürbe macht und dann, wenn er reif ist, ihn übernimmt. Das ist jetzt also die Übernahmephase, die jetzt gerade stattfindet.
Dies sieht mir überhaupt nicht nach einem großen Krieg aus. Der Truppeneinsatz ist vergleichsweise klein, wenn man diese großen Gebiete betrachtet. Das ist tatsächlich ein kleiner, militärisch tendenziell feiner Ansatz, bei dem man vorher modelliert haben wird, was man erreichen möchte. Man hat also das, was bei dem Führungssystem des anderen kritisch ist, abgebildet, hat dann von Satelliten, über Cyber, über elektronische Kampfführung, über Präzision, Raketen, Drohnen, Kampfhubschrauber, Panzer ausgewählt, mit welchem Mix man an diese Sachen geht, und nimmt jetzt diese Teilziele Schritt für Schritt.
Ich sehe nichts von einer großen Materialschlacht, auch die Verluste sind für die Besetzung eines Landes bisher klein. Also es sieht mehr nach dieser schnellen Enthauptung mit einer überlegenen, systemisch organisierten Streitmacht aus.
Dahinter steht ja das Konzept des hybriden Krieges, das Russland schon vor langem entworfen hat. Dazu gehört auch, dass nicht nur Panzer rollen und Kanonen schießen, sondern dass vor allem im Internet und im Cyberraum ein heftiger Krieg stattfindet. Nicht umsonst wurde vor Kurzem bekannt, dass auch das ukrainische Finanzsystem angegriffen wurde. Wir können also davon ausgehen, dass neben den Bildern, die wir sehen, auch eine heftige Schlacht im Internet und natürlich auch in den kritischen Infrastrukturen stattfindet?
Es sind natürlich auch Spezialkräfte unterwegs, also Leute, »kleine grüne Männer« sozusagen. Wenn wir uns noch an die Einnahme der Krim erinnern, zum Teil vielleicht sogar auch normal in Zivil gekleidet, die zum Teil auch mit Schusswaffen und kleinen Bomben die Dinge danach sortieren oder mit Ziel-Beleuchtung mit Infrarot beleuchten.
Das ist ein komplexes Gebiet, das sich darauf richtet, in allen möglichen Bereichen, in Finanz-, in Wirtschaftsgebieten, in der öffentlichen Meinung den anderen zu zersetzen und handlungsunfähig zu machen.
Können Sie sagen, wie hochentwickelt die Cyber-Fähigkeiten der russischen Armee sind? Gespannt dürften ja vor allem die Vereinigten Staaten zuschauen und detailliert analysieren, was die russischen Streitkräfte können und was nicht?
Das ist immer das Problem bei den Cyber-Dingen. Wenn man sie einmal benutzt hat, dann weiß der andere, was man hat und was man kann. Von daher gehe ich davon aus, dass Russland hier auch nicht alle Karten auf den Tisch legt, sondern sich ein Portfolio bereithält für den Fall, dass Interventionen seitens Dritter – also seitens Amerikaner, Franzosen, Briten, wem auch immer – mit stattfinden, sodass man weiter eskalieren kann.
Da ist Putin, denke ich, gut vorbereitet. Er weiß, dass sie alle zuschauen. Die Amerikaner haben zweieinhalb Milliarden US-Dollar in die Bewaffnung der Ukraine investiert. Das ist natürlich auch eine Erprobung für Putin, wie weit die amerikanischen Systeme russischen Systemen standhalten. Das ist unter vielen Gesichtspunkten auch eine Art Testumgebung.
Können Sie eine Einschätzung wagen, wie denn die Kräfteverhältnisse derzeit verteilt sind?
Also jetzt mit Blick auf die Ukraine ist das Thema durch. Ich wäre wirklich überrascht, wenn jetzt noch ein bemerkenswerter Widerstand gegenüber der Invasion stattfindet. Widerstand mag sich hinterher in asymmetrischen Auseinandersetzungen dann verfestigen, auch hässlich und blutig und verlustreich werden. Aber diese große Operation ist jetzt im Grunde durch.
Ich bin nicht davon überzeugt, was wir tatsächlich gegenüber Russland aufzubieten hat. Das hat der Inspekteur des Heeres deutlich gemacht, das wir jetzt schon mit dem wenigen, das wir geben, am Rande des Möglichen sind. Ich glaube, das ist eine sehr zutreffende Feststellung. Sie ist nicht übertrieben, und sie ist auch nicht untertrieben. Unsere Alliierten sind auch nicht dramatisch besser aufgestellt.
Auf diesen Hightech-Gebieten, die heute von Bedeutung sind – also elektronischer Kampf -, sind die Russen auch den Amerikanern sehr überlegen. Am oberen Ende des Spektrums sind die Hyperschall-Raketen, die deswegen so bedrohlich sind, weil sie so schnell kommen, dass wir keine Verteidigung dagegen haben.
Es gibt also keine Waffen derzeit, mit denen wir uns vor diesen Überschall-Waffen schützen könnten. Da sind die Russen den Amerikanern mehrere Jahre voraus. Die Amerikaner werden noch Jahre brauchen, bis überhaupt solche Träger zur Verfügung haben. Die Russen haben sie schon, die Chinesen auch. Die können damit die klassischen Mittel amerikanischer Machtprojektion versenken: Flugzeugträger. Diese Waffen sind sozusagen perfekt geeignet zur Versenkung von Flugzeugträgern.
Also wir haben im Augenblick ein großes Problem – insbesondere wir Europäer. Aber selbst die Amerikaner haben ein Problem.
Befürchtungen gibt es, dass im Schatten dieser Krise China sich auf den Weg machen kann und das ungeliebte Taiwan übernehmen kann. Bilder sieht man ja, wie angeblich Schiffe schon Richtung Taiwan dampfen. Wie ernst sehen Sie denn diese Gefahr?
Das ist eine weitere Keule. Wir müssen sehen, Russlands Interesse richtet sich auch nicht nur auf die Ukraine, sondern insgesamt auf ein sichereres Vorfeld, sodass jetzt auch andere Länder, insbesondere außerhalb der EU und der NATO ins Visier rutschen werden.
Die Beschäftigung für uns ist noch nicht zu Ende mit der Ukraine, sondern das ganze Thema geht weiter. Dadurch, dass sich nun China und Russland zunehmend enger aneinander anlehnen und China mit Sicherheit auch von dem groben Ablauf, der jetzt stattfindet, informiert war – man hält dort Biden für schwach – und mit Blick auf die derzeitige Ablenkung durch Putin ist nicht auszuschließen, dass China den Angriff auf Taiwan wagt.
Wie geht es denn jetzt in der Ukraine weiter? Der russische Außenminister Lawrow hat der Publizität trächtig gesagt, man könne jetzt Verhandlungen aufnehmen.
Das ist sozusagen Teil der Informationskriegsführung, Teil der strategischen Kommunikation, überzeugende Narrative in die Welt zu setzen. Für Russen oder Chinesen gehören Cyberkrieg und Informationskrieg in ein Gebinde hinein. Von daher ist das eine beschäftigungstherapeutische Maßnahme für uns, die uns beschäftigt und Putin in Ruhe seine Suppe weiterkochen lässt. Der Kern seiner Suppe besteht im Grunde in einer strategischen Sondierung des Vorfeldes und an einer Neutralisierung der Teile der Ukraine, die ihn nicht interessieren.
Wie geht es bei uns weiter? Mit einer weiteren Volte bereitet Russland ja Europa und vor allem Deutschland die nächsten erheblichen Probleme.
Wir werden eine neue Regierung in der Ukraine sehen. Wir werden Flüchtlingsbewegungen sehen. Das geht jetzt gerade los. Wir wissen, dass sich an Flüchtlinge immer auch Kriminelle andocken, die jetzt im Augenblick gut ausgestattet mit Samsonite, Koffern und anderen sich auf den Fluchtweg machen, dann ohne die Koffer und deren Inhalte hier ankommen, medizinisch und mit Unterkünften mäßig versorgt werden müssen.
Also, wir kriegen jetzt ein richtig großes Beschäftigungsgebinde, das auch Europa wieder stresst mit dem Thema »Aufnahme von Flüchtlingen in Europa«. Da werden wir auch genug Gesprächsstoff untereinander in Europa bekommen. Das ist eigentlich der hybride Ansatz, der sich jetzt erwarten lässt.
Der Puls steigt in den baltischen Ländern, in Polen. Wie stark sehen Sie denn diese Länder gefährdet?
Also die Nächsten sind erst mal die Länder außerhalb der EU und NATO. Appetit kommt auch vom Essen. Sollte das Ganze aus Putins Perspektive gelingen, dann wären sicherlich die baltischen Staaten ein übernächstes lohnendes Ziel.
Deswegen werden wir jetzt sicherlich in der NATO und EU viel damit zu tun haben, diese Staaten zu stärken.
Zeitgleich wären wir aber auch gut beraten, unsere eigenen militärischen Potemkinschen Dörfer, die wir haben oder die von außen noch gut aussehen, aber innen hohl sind, nun auch zu füllen mit Fähigkeiten, Ausrüstung und Munition.
Tatsächlich ist es ja so, dass wir bei der derzeitigen Planung, die ja eigentlich schon besser ist als in früheren Jahren, jedes Jahr Fähigkeiten verlieren. Wir haben hier noch keinen Stopp oder gar eine Trendumkehr in den Streitkräften, sondern es geht weiter abwärts. Das muss nun auch rapide gestoppt und dann umgedreht werden.
Auch hier geht es dann im Wesentlichen um systemische Fähigkeiten, weil alle Waffensysteme an und für sich können einer systemisch orchestrierten russischen Streitmacht nicht standhalten, insbesondere nicht, wenn die dann hybrid agiert und uns den Treibstoff wegnimmt und den Strom wegnimmt.
Mit dem politischen Personal, das wir im Moment sehen, ist das aber sehr schwer vorstellbar. 5000 Helme sprechen eine deutliche Sprache!
Die 5000 Helme sind ja schon ein paar Mal erklärt worden. De facto haben wir tatsächlich der Ukraine viel gegeben – über zwei Milliarden an Sachleistungen und Dienstleistungen. Das ist jetzt, denke ich, irreführend.
Tatsächlich zielführender ist eine andere Beobachtung für mich. Ich habe notiert, dass im Verteidigungsministerium die neue Staatssekretärin Sudhof ihr Büro »demilitarisiert«. Das wird ihr natürlich ihre Aufgabe sehr schwer machen, als einer beamteten Hauptleistungsträgerin »Verteidigung« die richtigen Entscheidungen auf dem Weg der Umkehr zu treffen. Hier sieht man: Es gibt wirklich dramatischen Korrekturbedarf.
Und man sieht das auch bei dem Inspekteur des Heeres, dem seine Ministerin gleich gesagt hat, er soll nicht so sehr schauen, was er nicht hat, sondern sich darauf konzentrieren, was er mit dem, was noch übrig ist, machen kann. Wenn wir diese Mängel ja gar nicht ansprechen, ernst nehmen, wie sollen wir die korrigieren? Also ich denke, das Wachstumspotenzial der neuen Administration ist riesig, und wir können ja für uns nur hoffen, dass sie dieses Wachstumspotenzial dann auch nutzen.
Das informative Gespräch mit Ralph Thiele können Sie sich in voller Länge im TE-Podcast anhören.