Wer mit zwei Stimmen wählt, kann beide Stimmen gegeneinander richten. Der Wählerwille ist dann nicht mehr zu erkennen, die Abstimmung deshalb ungültig. Gleichwohl ist die Zwei-Stimmen-Wahl in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 in Gebrauch. Es wurde in nur 20 Legislaturperioden 26-mal geändert. Eine Unzahl von Entscheidungen des Verfassungsgerichts ergingen, brachten aber keinen Rechtsfrieden. Bis heute wagt es niemand, den gordischen Knoten“ zu durchtrennen.
Nicht zweimal in der gleichen Angelegenheit – lateinisch: „ne bis idem“ – ist ein althergebrachter, über das Strafrecht hinaus anerkannter Grundsatz des römischen Rechts. Manche Juristen und viele Politologen im Volk der Dichter und Denker sehen das nicht ein. Denn sie sind besonders stolz darauf, dass die Deutschen in den Wahlkabinen zweimal über die Männer und Frauen abstimmen, die sie im Parlament vertreten sollen. Doch wer mit zwei Stimmen wählt, holt sich den Teufel ins Haus.
Zwei Stimmen sind zwei Wahlen
Zwei verschiedene Stimmen sind immer auch zwei verschiedene Wahlen, die zwangsläufig durch einen tiefen Graben voneinander getrennt sind. Wer zweimal abstimmen darf, kann beide Stimmen gegeneinander richten, kann also die Abgeordneten der Regierungsparteien im Amt bestätigen und gleichzeitig für die Parlamentarier der Opposition stimmen. Vergleicht man bei den verschiedenen Parteien, in den einzelnen Bundesländern, die aus beiden Wahlen erzielten Mandate miteinander, zeigen sich die Unterschiede zwischen Direktwahl und Listenwahl: die sogenannten „Überhänge“.
Diese Unterschiedszahlen zwischen beiden Wahlen werden ohne Grund – über den Kopf der Wähler hinweg – zum endgültigen Wahlergebnis hinzugezählt, obwohl es keine überzähligen Wahlkreise gibt. Niemand weiß warum. Und danach wird diese Aufstockung der Mandate auch noch durch weitere Zusatzsitze ausgeglichen. Zu allem Überfluss ist der Ausgleich meistens größer als der Überhang, also wird etwas ausgeglichen, das es von Anfang an nicht gab und nachträglich wegfällt, wenn ein direkt gewählter Abgeordneter aus dem Bundestag ausscheidet.
So ist zum Beispiel Wolfgang Schäuble (CDU) am 26.12.2023 verstorben. Für ihn ist Stefan Kaufmann von der Landesliste der CDU in Baden-Württemberg nachgerückt. Das Direktmandat von Schäuble im Wahlkreis Nr. 284 (Offenburg) wurde mit einem Listenplatz der CDU in Baden-Württemberg vertauscht und ist seither vakant. Die Zahl der insgesamt 299 direkt gewählten Abgeordneten sank daher um ein Mandat ab. Mit dem Wegfall des Direktmandats von Schäuble verkleinerte sich der Überhang in Baden-Württemberg. Doch die amtierende Wahlleiterin, Ruth Brand, denkt nicht daran, deshalb dort auch den Ausgleich zurückzuführen.
Die Wähler in Offenburg haben aber keinen Anspruch auf einen vakanten Wahlkreis, sie haben Anspruch auf einen direkt gewählten Volksvertreter. Der Wahlgesetzgeber nimmt darauf aber keine Rücksicht. Er lässt den Wahlkreis unbesetzt und erhöht stattdessen einfach die Zahl der Listenplätze. Schlimm genug kommt erschwerend hinzu, dass beim ursprünglichen Wahlgang, am 26. September 2021, in Baden-Württemberg, 12 sogenannte „Überhänge“ entstanden sind, die durch 13 sogenannte „Ausgleichsmandate“ überkompensiert wurden. Der Ausgleich kann aber nicht größer sein als der Überhang. Hier hat sich der damalige Wahlleiter, Georg Thiel, offensichtlich verrechnet, und das muss sofort und auf der Stelle berichtigt werden.
Nur die Spitze des Eisbergs
Das alles ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Das Parlament in Berlin hat insgesamt 598 Sitze (Soll-Zahl). In Deutschland gibt es aber nur 299 Wahlkreise, doch im Plenum des Hohen Hauses sitzen 736 Mitglieder des Bundestages (jetzt 735). Es gibt also nicht nur zu wenige Wahlkreise, sondern gleichzeitig auch viel zu viele Parlamentarier. 104 von ihnen bekleiden ein sogenanntes Ausgleichsmandat. Es gibt aber nur 34 sogenannte Überhänge. Der Ausgleich überragt den Überhang um mehr als das Dreifache – ohne dass irgendjemand daran Anstoß nimmt. Schwer zu glauben, aber in 70 Fällen stand dem Ausgleich gar kein Überhang gegenüber. Also wurden 70 imaginäre Überhänge ausgeglichen, die es nie gegeben hat. Und das ist in der Tat der bisher größte aller denkbaren Unfälle in der leidvollen Geschichte des Wahlrechts seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949.
Die amtierende Wahlleiterin, Ruth Brand, lehnt es ab, diesen kapitalen Rechenfehler zu berichtigen und zu sagen: „Halt! Stopp! Bei diesem Unfug mache ich nicht mit! Ich bin hier die Wahlleiterin. Ich stelle für alle verbindlich das Wahlergebnis fest und garantiere damit die rechtsfehlerfreie Besetzung des Berliner Parlaments. Mit mir gibt es keine 70 Ausgleichsmandate, denen gar kein Überhang gegenübersteht. Ich walte meines Amtes und berichtige den offensichtlichen Zählfehler. Wem das nicht passt, der muss mich in Karlsruhe verklagen.“ Leider kommt die Hüterin der Wahlurnen ihrer Amtspflicht nicht nach und schweigt. Sie nimmt das Unfassbare billigend in Kauf, und im Deutschen Bundestag tummeln sich weiterhin 70 „blinde Passagiere“, die keine Bordkarte haben.
Pro Kopf eine Stimme
Das Prinzip: pro Kopf eine Stimme – englisch: „one man one vote” – ist aus der Entstehungsgeschichte der Demokratie nicht wegzudenken. Das Ergebnis der Wahl wird nicht dadurch besser und gerechter, dass man die Entscheidung, die mit der einen Stimme getroffen wurde, mit einer zweiten Stimme umwerfen kann. Wenn man beide Stimmen gegeneinander richtet, lässt sich nicht feststellen, was die Wähler wirklich gewollt haben. Gegen jede Vernunft der Jurisprudenz sollen gleichzeitig beide Stimmen gelten, obwohl sie sich gegenseitig ausschließen. Statt den Missbrauch der sogenannten „Überhänge“ zu unterbinden, wird er durch Zusatzsitze in einem turmhohen Übermaß ausgeglichen, und das alles, ohne dazu die Wähler zu fragen. – Viel verfassungswidriger geht es eigentlich nicht.
Die Verschiebungen von zwei Listenplätzen (nach Niedersachsen und nach NRW) wie die Entstehung eines Mandats (in Hessen), wie sie vom Landeswahlleiter in seiner Eigenschaft als Hoheitsträger staatlicher Gewalt vorgenommen wurden, verstoßen gegen das Grundgesetz und waren von ihm zu unterlassen. Die Wahlprüfung ist ein Grundrecht. Nach Art. 41 Grundgesetz können alle Staatsbürger, die bei der Bundestagswahl vom 26. September 2021 wahlberechtigt waren, beim Deutschen Bundestag eine Wahlprüfung beantragen. Näheres ergibt sich aus dem Wahlprüfungsgesetz.
Der Autor lebt in München und hat in namhaften Fachzeitschriften zahlreiche Beiträge und mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht. Zu den Fundstellen vgl. hier; zur Vita des Autors hier.