In der Welle der Corona-Berichterstattung fand ein Beitrag der Süddeutschen Zeitung vom 28. März über die Ermittlungen des Bundeskriminalamts zu dem Täter von Hanau, Tobias Rathjen, bundesweit zunächst nur geringe Aufmerksamkeit. Das lag möglicherweise auch daran, dass die Erkenntnisse der Ermittler nicht in das politisch und medial geprägte Bild der Morde von Hanau am 20. Februar passten. Denn anders, als es etliche Politiker und Kommentatoren sofort nach den zehn Morden reflexartig behaupteten, unterhielt der Täter Tobias Rathjen offenbar keine Kontakte zu rechtsradikalen oder rechtsextremen Kreisen oder Organisationen. Nach Durchsicht seiner Dateien und Unterlagen und Zeugenbefragungen konnten die BKA-Ermittler auch keine Hinweise auf ein einschlägig rechtsextremes Weltbild von Rathjen finden. Dafür aber Hinweise auf eine massive Paranoia.
Er habe zwar eine rassistisch motivierte Tat verübt, sei aber kein Anhänger einer rechtsextremistischen Ideologie gewesen, so das Fazit des BKA. Der Amokschütze habe seine Opfer vielmehr ausgewählt, um maximale Aufmerksamkeit für seinen Verschwörungsmythos von der Überwachung durch einen Geheimdienst zu erlangen.
„Die BKA-Ermittler haben mehr als 100 Videodateien auf dem Computer und Handy des Attentäters sicherstellen können“, schrieb die Süddeutsche: „Eine Auswertung soll ergeben haben, dass nahezu alle Aufnahmen nicht ‚tatrelevant’ seien. Es seien keine Hinweise darauf gefunden worden, dass Tobias R. sich mit rechter Ideologie, mit Rechtsterroristen wie etwa Anders Breivik oder deren Taten beschäftigt habe.“
Die Ermittler fanden in Rathjens Leben auch keine Anhaltspunkte für eine Radikalisierung als rechtsextremer ‚einsamer Wolf“, auch keine Ausländerfeindlichkeit. Er habe beispielsweise einem dunkelhäutigen Nachbarn mehrfach geholfen, so das BKA-Papier. In seiner Freizeit habe er in einer Fußballmannschaft gekickt, die überwiegend aus Spielern mit Migrationshintergrund bestand.
Seine Vernichtungsfantasien gegen Migranten und ganze Völker habe der Täter von Hanau laut BKA offenbar erst sehr spät in sein Manifest eingefügt. Dafür gibt es einen objektiven Anhaltspunkt: Im November 2019 schickte Rathjen sein Manifest, das sich um die von ihm befürchtete Gedankenkontrolle drehte, an Generalbundesanwalt Peter Frank und verlangte, Ermittlungen wegen seiner angeblichen Überwachung durch einen Geheimdienst einzuleiten. Die damalige Anzeige ist nahezu identisch mit dem späteren Manifest, ihr fehlten nur die rassistischen Passagen. Die Ermittler gehen deshalb davon aus, dass er sie einfügte, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
Die Bundesanwaltschaft ging dem Schreiben Rathjens damals nicht nach, um herauszufinden, ob von ihm Gefahr drohen könnte. Er verfügte über eine Waffenbesitzkarte und zwei Sportwaffen, die ihm die zuständige Behörde wegen des Schreibens, das auf eine massive geistige Störung hinwies, wahrscheinlich ohne weiteres abgenommen hätten.
Für diejenigen, die Manifest und Videobotschaft des Täters damals analysierten, kommt der Befund des BKA nicht überraschend. Der Profiling-Experte Mark T. Hoffmann sagte am 20. Februar gegenüber BILD: „Er scheint ein Einzelgänger gewesen zu sein, der sich im Internet seine eigene Ideologie zusammengebaut hat.“
Tichys Einblick gehörte zu den Medien, die damals feststellten, Rathjen habe wohl aus rassistischem Hass gehandelt, es gebe allerdings in seinen Verlautbarungen weder einen Bezug zum organisierten Rechtsextremismus noch zur deutschen Politik überhaupt. In einem zwei Tage vor der Tat aufgenommenen Video wandte sich Rathjen vielmehr auf Englisch an „all americans“, und sprach von Morden an Kindern, die auf unterirdischen Militärbasen stattfinden würden. In seiner schriftlichen Erklärung geht es auch um Zeitreisen, Gedankenkontrolle durch einen Geheimdienst, dem er seit seiner Geburt ausgesetzt sei, und darum, dass Jürgen Klopp und Donald Trump ihm seine Ideen gestohlen hätten. Außerdem erklärte er, er hasse Ausländer und Nicht-Weiße, halte aber auch die Halbierung der deutschen Bevölkerung „für durchaus möglich“.
Obwohl schon damals nichts für eine Verbindung zu Rechtsextremisten oder der AfD sprach, versuchten Politiker und Medien genau diese Verbindung sofort herzustellen und in Forderungen umzumünzen. Die stellvertretende SPD-Chefin Serpil Midyatli forderte beispielsweise die Beobachtung der gesamten AfD durch den Verfassungsschutz. „Der Rechtsstaat muss jetzt mit aller Härte zurückschlagen“, meinte Midyatli – wobei sie mit dem Bild eines gegen einen zu diesem Zeitpunkt schon toten Attentäter ‚zurückschlagendenden’ Rechtsstaats ein seltsames Rechtsstaatsverständnis offenbarte. „Alle demokratischen Parteien in allen Ländern müssen die Kooperation mit der AfD auf allen Ebenen ausschließen“, forderte Midyatli: Die AfD sei „der politische Arm des Rechtsterrorismus“. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil nannte Björn Höcke einen „Katalysator für rechten Terror wie in Hanau“; er verlangte ebenfalls die Verfassungsschutz-Beobachtung der AfD. Etliche andere Politiker äußerten sich in gleicher Richtung.
Die Ergebnisse des BKA passten offensichtlich so wenig in das damalige Narrativ, dass der Autor des Berichts in der Süddeutschen Georg Mascolo auch noch den Jenaer Soziologen Matthias Quent dazu befragte. Quent hatte zwar mit der Untersuchung des Hanauers Falls nicht zu tun und auch sonst keine besonderen Erkenntnisse. Er gehört allerdings zu dem Pool von Zitatgebern, die zuverlässig erwartbare Einschätzungen abgeben. Wer als Journalist lobende Worte über die Energiewende braucht, fragt seit Jahren Claudia Kemfert; wer wissen will, dass die Kriminalität in Migrantenmilieus überschätzt wird, ist bei Christian Pfeiffer gut aufgehoben. Wer eine Mahnung zu Rechtsextremismus zitieren möchte, ruft Quent an. Der Soziologe hatte sich erst vor kurzem daran versucht, in der ZEIT die Covid-19-Epidemie und die AfD thematisch engzuführen.
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„Der Jenaer Soziologe und Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent“, zitiert ihn die Süddeutsche, „warnt davor, die gesellschaftliche Botschaftswirkung eines Anschlags wie in Hanau zu unterschätzen – und vom Täter getrennt zu betrachten. Tobias R. habe seine Opfer ganz klar nach ‚rassistischen Kriterien ausgewählt’, so Quent. Damit sei der Anschlag auch nach den Kriterien der Polizei ohne Zweifel als rechtsextrem motivierte Straftat einzuordnen.“ Dabei hatte das BKA offensichtlich gar nicht Tat und Täter voneinander getrennt, allerdings das private Umfeld des Täters gründlich – für manche vielleicht zu gründlich – ausgeleuchtet.
Gegen den BKA-Vorabbericht machten auch andere mobil, etwa der weit links außen stehende Autor und langjährige Spiegel-Journalist Hasnain Kazim – allerdings, ohne ein Argument gegen den kolportierten BKA-Vorabbericht anzuführen.
Am Dienstag dieser Woche geschah etwas ungewöhnliches: BKA-Chef Holger Münch äußerte sich zu den mehrere Tage zurückliegenden Medienberichten und erklärte:
„Zum Artikel der SZ vom 28. 3. 2020 über einen angeblichen Abschlussbericht des BKA zu den taten von Hanau stellen wir fest: Einen solchen Bericht gibt es derzeit nicht. Die Ermittlungen dauern an. Das BKA bewertet die Tat als eindeutig rechtsextremistisch. Die Tatbegehung beruhte auf rassistischen Motiven.“
Eine solche Erklärung, drei Tage nach dem Artikel, ist bemerkenswert. Von rassistischen Motiven Rathjens gehen offenbar auch die BKA-Beamten aus, sie ergeben sich auch aus der letzten Fassung des Täter-Manifestes. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass sie kein rechtsextremes Weltbild bei dem Schützen feststellen konnten. Münchs Hinweis, die Ermittlungen dauerten noch an, deuten darauf hin, dass es zwischen der vorläufigen Version des BKA-Berichts und der endgültigen Fassung nicht nur redaktionelle Unterschiede geben dürfte. Es drängt sich der Verdacht auf, dass er nachbearbeitet werden soll, da sonst die von dutzenden Politikern und Leitartiklern behauptete These der geistige Anstiftung durch die AfD in sich zusammenfallen würde.
TE fragte beim BKA nach, ob die Zitate in dem Bericht der Süddeutschen authentisch seien, und wenn ja, auf welche Unterlagen des BKA sie sich beziehen. Eine Mitarbeiterin sagte, dazu werde das Amt keine Stellung nehmen, und verwies auf die Bundesanwaltschaft, die für den Fall zuständig sei. Auf Anfrage von TE sagte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft, die Ermittlungen zu Hanau dauerten noch an. Mit einem Abschlussbericht sei nicht in den nächsten Tagen zu rechnen. Er werde noch mehrere Wochen in Anspruch nehmen.
Die nachträgliche Änderung eines Ermittlungsergebnisses wäre nicht einmalig. Sie gab es schon einmal: nach dem Amoklauf von Davut Ali Sonboly (in den meisten Medien abgekürzt als David S.) im Münchner Olympia-Einkaufszentrum im Juli 2016. Nach den Erkenntnissen des bayrischen LKA tötete Sonboly, um sich für das Mobbing an seiner Schule zu rächen. Der Schüler war außerdem in einer psychosomatischen Klinik in Behandlung. Von der Amadeu-Antonio-Stiftung, den Grünen und anderen gab es nach Vorlage des Abschlussberichts einen wachsenden Druck, die neun Morde als rechtsextremmotiviert einzustufen. Das geschah tatsächlich – im Oktober 2019. Die Behörde stufte die Tat drei Jahre danach als zumindest teilweise rechts motiviert ein – zur Befriedigung der Grünen.
Die Neubewertung hatte ein Gutachten der Stadt München eingeleitet, das 2017 schon vorformulierte, es habe sich um eine rassistische Tat gehandelt. Einer der Gutachter damals: Matthias Quent.