Tichys Einblick
Corona-Aufarbeitung ist notwendig

Zu den Opfern der Corona-Politik gehörten vor allem Kinder und Jugendliche

Schäden der Coronamaßnahmen-Politik treten immer häufiger zutage. Die Verantwortlichen versuchen, sich aus der Verantwortung zu reden. Und diejenigen, die unkritisch alles zuließen und mitmachten, wollen am liebsten gar nicht mehr darüber reden. Aber die Aufarbeitung muss beginnen.

IMAGO / CHROMORANGE

Das Schließen der Schulen war nicht nur unnötig, wie es der scheidende RKI-Präsident Lothar Wieler vor Kurzem zugab – nein, das Schließen von Schulen war sogar ein Fehler. Das gestand Gesundheitsminister Karl Lauterbach nun also im Morgenmagazin ein. Vorher hatte er bei einer Pressekonferenz bereits mitgeteilt – ganz lapidar in einem Nebensatz –, dass die Kita-Schließungen unnötig waren. Da fällt einem nur – wie allzu häufig in letzter Zeit – die berühmte Filmszene mit Louis de Funès ein: Nein! Doch! Ohh!

Es ist ja nicht so, dass es keine mahnenden Stimmen gab, ernst zu nehmende Stimmen von Experten, die das Schließen der Kitas und Schulen von Anfang an für unnötig hielten, davor warnten und deshalb davon abrieten. Aber man wollte in der Regierung und auch in den Medien diese Stimmen gar nicht hören. Im Gegenteil: Wer auf die Gefahren hinwies und Alternativen vorschlug, wurde öffentlich verurteilt. Viele verloren ihren Ruf und einige auch ihre berufliche Position.

Kommentar
Wie Karl Lauterbach versucht, sich aus der Verantwortung zu stehlen
Mittlerweile werden die negativen Auswirkungen der Schul-Lockdowns immer offensichtlicher. Sie führten nicht nur zu Bildungseinbußen. Sie richteten bei vielen Kindern und Jugendlichen auch psychosoziale und physische Schäden an: Die Vereinsamung führte zu Depressionen, der Bewegungsmangel zu Übergewicht und die Isolation zu einem geschwächten Immunsystem. Auch dem letzten sollte so langsam klar geworden sein: Kinder und Jugendliche, die am wenigsten gefährdet waren, an Corona schwer zu erkranken, gehören zu denjenigen, die mit am meisten unter den Corona-Maßnahmen litten und noch leiden werden. Sie sind die Opfer der Pandemie-Politik.

Werden Lauterbach und Co bald auch verkünden, dass das ununterbrochene, stundenlange Tragen von Masken im Unterricht (sogar beim Sport), in den Pausen, auf dem Schulweg unnötig war, vielleicht sogar schädlich? Dass das Verbieten von Schlittenfahren und Absperren von Spielplätzen mit Flatterbändern, damit Kinder sich auch ja nicht im Freien austoben konnten, übertrieben war? Dass die meist anlasslosen Corona-Tests überflüssig waren, zumal sie häufig falsch positiv anzeigten, und von denen doch so viel abhing: die Teilnahme an der Klausur, an der Klassenfahrt, an einer Geburtstagsfeier, und die zu tagelanger Isolation führten, auch wenn das Kind gesund war? Dass das Frieren während des Unterrichts bei offenen Fenstern – trotz Kniebeugen und in die Hände klatschen, wie es Kanzlerin Merkel damals empfahl, um sich warm zu halten –, dass das alles eigentlich nicht hätte sein müssen?

Dass es ein Fehler war, Kindern Ängste und Schuldgefühle einzureden, weil sie ihre Oma und ihren Opa anstecken könnten, auch wenn sie gesund sind? Und dass sie sich impfen lassen sollten, um andere zu schützen? War die Impfung von Kindern und Jugendlichen vielleicht ein Unrecht, weil diese Maßnahme die weitreichendsten Auswirkungen und Risiken mit sich brachte? War es etwa ein Fehler, diesen immensen sozialen Druck auszuüben, indem Nicht-Geimpfte stigmatisiert und ausgegrenzt wurden, und dass sich viele Kinder und Jugendliche den Impfstoff verabreichen lassen mussten, um am Tanzkurs, Klavierunterricht, Vereinssport, Studenten, um an der Vorlesung und Prüfung teilnehmen zu können, Azubis, um ihre Ausbildung beenden zu können?

Distanzierungsschnellspurt
Lauterbach gibt "Experten" die Schuld an Schulschließungen
Werden Lauterbach und Co nun nach und nach in Interviews und Pressekonferenzen zugeben, dass das alles ein Fehler war? Wieler und Lauterbach sind zwei der Hauptverantwortlichen für die Corona-Maßnahmen und nun wollen sie sich davonstehlen, indem sie so tun, als hätten sie auf „die Wissenschaft“ gehört und wären nur mal eben falsch beraten worden oder hätten nicht genug Gespräche geführt. Auch der Vorgänger von Lauterbach, Jens Spahn, war nicht minder verantwortlich für die Corona-Politik. Er hatte sich selbst vorsorglich bereits einen Freibrief erteilt, als er ankündigte, dass wir uns viel werden verzeihen müssen. So einfach ist das aber nicht mit dem Verzeihen.

Zur Aufarbeitung und zur Schließung dieser gesellschaftlichen Spaltung in der Dimension des Grand Canyon gehört es, die verantwortlichen Politiker für ihre falschen Entscheidungen nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Zur Aufarbeitung gehört auch, diejenigen zur Rede zu stellen, die diese Politik zuließen, befürworteten und nicht hinterfragten. Das waren neben Politikern auch Journalisten, Juristen, Ärzte, Erzieher und Lehrer. Die Berliner Zeitung veröffentlichte kürzlich einen Artikel, verfasst von einem Lehrer, der selbstkritisch fragt: „Wieso haben wir nicht protestiert? Wo ist die Aufarbeitung?“ Er kritisiert: „Die Verhältnismäßigkeit der Anti-Corona-Maßnahmen im Schul- und Bildungsbereich wurde viel zu lange öffentlich gar nicht kritisch hinterfragt.“

Der Autor stellt viele Fragen, die in der Tat berechtigt sind, und wirft den einzelnen Fachlehrern vor, diese Fragen nicht gestellt zu haben. Allerdings: Für manch eine dieser Fragen hätte man kein Fachmann sein müssen. Man musste kein Mathematiker sein, um stutzig zu werden, „als man einzig und allein anhand der täglichen Zahl an positiven PCR-Testergebnissen Inzidenzen, R-Werte usw. berechnet hat“. Man musste kein Statistiker sein, um zu widersprechen, „wenn mithilfe von Zahlen der ‚im Zusammenhang mit Corona‘ Verstorbenen regelmäßig beängstigende Szenarien entworfen wurden (‚Jeden Tag ein abgestürzter Jumbo-Jet!‘)“.

Man musste kein Biologe sein, um „die Behauptungen bzw. Prophezeiungen über die Wirkung der Impfung gegen Covid-19“, den angeblichen Fremd- und Eigenschutz, kritisch zu hinterfragen, als es hieß, dass der Impfstoff „praktisch nebenwirkungsfrei“ sei.

Man musste kein Deutschlehrer sein, um „den damit verbundenen verbalen Entgleisungen wie ‚Tyrannei der Ungeimpften‘ (Frank-Ulrich Montgomery), der Forderung, dass ‚die ganze Republik mit dem Finger auf sie zeigen (solle)‘ (Nikolaus Blome), oder dem Vergleich von Kindern mit den Ratten während der Pest (Jan Böhmermann) zu widersprechen“.

Wer wird zur Verantwortung gezogen?
Wielers verspätetes Eingeständnis: Schulschließungen waren unnötig
Man musste kein Politik-Lehrer sein, um „auf die Interessengeleitetheit politischer Entscheidungen“ hinzuweisen und „die konstitutive Bedeutung des Meinungspluralismus für die Demokratie“ zu unterstreichen. Denn: „Kritik am Inhalt und am Zustandekommen dieser politischen Entscheidungen wurde schnell öffentlich als Schwurbelei, Querdenkertum oder gar rechte bzw. rechtsradikale Meinung betitelt“, so dieser Lehrer.

Kurz: Man musste kein Fachmann sein, um Maßnahmen zu hinterfragen, skeptisch zu werden, so manch eine Entwicklung zu missbilligen und sich für das Wohl der Kinder und Jugendlichen einzusetzen. Es hätte schon gereicht, seinen gesunden Menschenverstand zu nutzen und ein klein wenig Mut zu zeigen. Ja, es gab diejenigen, die sich getraut haben zu widersprechen, um ihre Kinder sich sorgende Eltern, um ihre Schüler sich sorgende Lehrer, die protestiert haben, die auf Demonstrationen gegangen sind, die sich haben dafür beschimpfen und verurteilen, in die rechte Ecke stellen lassen.

Die allermeisten haben aber weggeschaut und alles hingenommen: darunter Juristen, Ärzte, Erzieher, Lehrer und auch Eltern. Sie sollten außer der Frage, warum sie nicht protestiert haben, wenigstens vor sich selbst die Frage beantworten: Ab wann hätten wir denn protestiert? Wie weit wären wir gegangen? Bei welchen Maßnahmen hätten wir nicht mehr weggeschaut und einfach mitgemacht? Ab welchem Zeitpunkt hätten wir den Finger gehoben? Welchen Maßnahmen hätten wir die Kinder und Jugendlichen nicht mehr ausgesetzt? Wo wäre meine rote Linie gewesen? So geht Aufarbeitung.

Eine ehrliche und verlässliche Antwort ist wohl nicht zu erwarten. Deshalb bleibt die Unklarheit darüber, wozu diese Gesellschaft noch fähig gewesen wäre – und das Misstrauen, die Sorge, dass es wieder geschehen könnte. Um abschließend den Lehrer zu zitieren: Der fragt zurecht danach, was zu ändern wäre, „sodass Einschränkungen im Schulbetrieb und damit Bildungschancen nicht erneut davon abhängen, ob ein Virologe den Beginn oder das Ende einer Pandemie verkündet“?

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