Wer am Montag die Aufstellung einer 2,50 Meter hohen und vier Tonnen schweren Säule auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude beobachtete und nicht zu den Eingeweihten gehörte, der brauchte wahrscheinlich einige Zeit, um zu verstehen, dass es sich um eine Zurschaustellung angeblicher Überreste von Holocaust-Opfern handelte, inszeniert von dem Verein „Zentrum für Politische Schönheit“ (ZPS), das von Philipp Ruch geleitet wird, den etliche Medien als „Aktionskünstler“ bezeichnen.
Nach Angaben des „Zentrums für Politische Schönheit“ enthält der Kern der Säule „Asche und Knochenkohle“ von ermordeten Juden, die die Aktivisten an 23 Orten aufgesammelt haben wollen, darunter in der Umgebung von Auschwitz. Vor die Säule platzierten die Mitglieder des Zentrums eine Tafel mit Namen aller Abgeordneten der Unionsfraktion. Sie sollen – so fordern die Mitarbeiter des Zentrums – vor der Säule antreten und den Schwur leisten, niemals mit der AfD zu kooperieren. Zu diesem Zweck verschickte das ZPS eine gefälschte Hausmitteilung mit der nachgemachten Unterschrift von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, in der es heißt, er, Schäuble, habe für die Parlamentarier schon einen verbindlichen Termin für den Besuch an der Säule vereinbart. Eine Sprecherin des ZPS erklärte, die Säule solle an den Standort der Kroll-Oper erinnern, wo eine Reichstagsmehrheit 1933 das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten auch mit den Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei, der Zentrumspartei und der Deutschen Staatspartei verabschiedet hatte.
In verrutschter Rhetorik sagte die ZPS-Sprecherin, dass an diesem Platz „die Machtergreifung möglichst gemacht wurde durch die Konservativen und Hitler sozusagen deren Steigbügelhalter waren“. Die Installation sei eine „Widerstandssäule“ gegen die AfD und Unionspolitiker, die angeblich eine Zusammenarbeit mit der Partei vorbereiten würden.
Auf seiner Webseite bietet das ZPS eine Auswahl an Merchandising-Produkten zu seiner Aktion an: Wer will, kann dort einen „Schwurwürfel“ kaufen – eine angebliche „Bodenprobe“ aus der Umgebung von Auschwitz oder anderen vorgeblichen Suchorten, eingegossen in Plexiglas. Zusammen mit einem Poster, einem Buch und einer Postkarte kostet das Gebinde 50 Euro. Ein „kleines Weihnachtpaket“ (Würfel mit Erde, drei Poster, darunter ein „Überraschungsmotiv“, Buch und Postkarte) gibt es für 75 Euro.
Wem das noch nicht reicht, der kann über die ZPS-Seite für 500 Euro vier Säcke Zement bezahlen, mit denen am kommenden Samstag ein Fundament für die „Judenreste-Säule” gegossen werden soll. Die Einbetonierung der Stele soll laut ZPS am 7. Dezember um 15 Uhr vor dem Reichstag mit einem „zivilgesellschaftlichen Zapfenstreich“ und mutmaßlich reger Medienbeteiligung stattfinden.
„Sei dabei, wenn sich am Samstag um 15 Uhr ganz Deutschland zum zivilgesellschaftlichen Zapfenstreich am Mahnmal versammelt“, heißt es in einem Aufruf des ZPS: „Gemeinsam leisten wir im Angesicht der Toten einen ewigen Schwur des Widerstandes gegen jede Machtoption des AfD-Faschistenpacks. Wir werden die Demokratie bis aufs Messer verteidigen […] Im Anschluss werden Facharbeiter unserem Mahnmal ein anständiges Betonfundament gießen.“
Die Betonierung der Säule auf der Reichstagswiese wäre rechtswidrig. Eine Genehmigung besitzt der Verein nur zur temporären Aufstellung bis zum 7. Dezember.
„Wir hoffen, dass die Angehörigen wertschätzenkönnen das wir die Opfer des Holocaust der Lieblosigkeit entrissen haben“, twitterte eine Vertreterin des ZPS (Rechtschreibung wie im Original).
Allerdings erhielten die ZPS-Aktivisten die erwartete Wertschätzung für ihre Mischung aus Politkitsch und „Judenreste”versilberung – Überraschung – von jüdischer Seite gerade nicht.
„Auschwitz-Überlebende sind bestürzt darüber, dass mit diesem Mahnmal ihre Empfindungen und die ewige Totenruhe ihrer ermordeten Angehörigen verletzt werden“, kommentierte Christoph Heubner, der Vizepräsident des internationalen Auschwitz-Komitees.
Die jüdische Schriftstellerin und Journalistin Ramona Ambs schrieb auf Facebook über den Satz von Salmen Gradowski, der als einer der Anführer des Aufstands in Auschwitz-Birkenau am 7. Oktober 1944 starb, und den das ZPS als Legitimation für seine Aktion benutzt („Suchet in der Asche. Die haben wir verstreut, damit die Welt sachliche Beweisstücke von Millionen von Menschen finden kann“).
Ambs kommentiert: „Er wollte, dass die Welt erfährt, was passiert ist. Er wollte, dass man weiß, wer verloren ging […] Er hat nicht gesagt: ‘Nehmt unsere Toten, grabt sie aus, stopft sie in eine Säule und beleuchtet sie, damit die Nachfahren der Täter mal wieder moralische Selbstbesoffenheit feiern können.’ Und wie Ihr an den jüdischen Reaktionen bisher darauf sehen könnt, finden die Angehörigen das überhaupt nicht lustig, was Ihr da mit unseren Omas und Opas treibt. Wenn Ihr Euch nur ein wenig mit jüdischer Ethik befasst hättet, könntet Ihr wissen, dass das, was Ihr da macht, NULL mit Judentum zusammen geht. Aber wozu sich mit Juden auseinander setzen, wenn man die Opfer doch prima zweitverwerten kann, um eine politische message zu verbreiten und sich gleichzeitig noch als Retter der toten Juden fühlen?“
Elio Adler, Vorsitzender der Werteinitiative jüdisch-deutsche Positionen, nannte die Säulenaufstellung in einer Pressemitteilung eine „pietätlose Inszenierung“, und forderte das ZPS auf, „ihre Aktion sofort zu beenden“.
Der Herausgeber der Jüdischen Rundschau Rafael Korenzecher sagte auf Anfrage von TE: „Es geht nicht obszöner, geschmack- und pietätloser. Auch wenn ich kein Rabbiner bin, sehe ich darin eine obszöne und judenverächtliche Störung der jüdischen Totenruhe. Für mich persönlich ist dieser rücksichtslose Versuch, um jeden Preis medien-auffällig zu werden, in jedem Falle widerwärtig und inakzeptabel.“
Nach seiner Meinung zu der Aktion befragt, nannte der Berliner Autor Henryk Broder die ZPS-Truppe am Dienstag „nekrophile Antisemiten“.
Ziemliche Begeisterung herrscht dagegen im nichtjüdischen Politik- und Medienbetrieb. Die Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement Sawsan Chebli retweetete die Meldung des ZPS.
Auch die ehemalige NDR-Journalistin Edith Rohs, die sich irgendwann in Lea Rosh umbenannte und lange mit einer tatsächlich nicht vorhandenen jüdischen Identität kokettierte, lobte die Säulenaufstellung überschwänglich auf Spiegel Online: Die ZPS-Aktion gehe “tiefer, als unser Holocaustmahnmal es ist”. Sie sei „bewegt und angefasst“ von der Idee und ihrer Ausführung: “Es ist unglaublich.”
Unglaublich gut findet auch Spiegel-Online-Autor Arno Frank die Widerstandssäule: „Mit dieser Aktion kehrt die Gruppe erneut zum Holocaust zurück, den sie als ‚moralischen Glutkern’ dieser Republik” bezeichnet“. Wahrscheinlich meinte er „kehrt erneut zum Holocaust zurück“ nicht wirklich so, sondern hatte nur Pech beim Formulieren.
Sollte die Einbetonierung der Säule tatsächlich stattfinden, wäre das – siehe oben – rechtswidrig. Allerdings gehörten Gesetzesverstöße auch schon früher zum Markenkern des „Zentrum für Politische Schönheit“. Im Jahr 2014 stahlen Ruch und seine Mitstreiter 14 Kreuze für Mauertote an der Gedenkstelle vor dem Reichstag und widmete sie unter dem Motto der Aktion „Erster Europäischer Mauerfall“ in Kreuze für Migranten um, die beim Versuch, Europa zu erreichen, ums Leben kamen.
Unter der Bezeichnung „Soko Chemnitz“ rief das ZPS 2018 dazu auf, die Namen derjenigen, die an der Demonstration in Chemnitz nach der Tötung von Daniel Hillig durch Asylbewerber teilgenommen hatten, auf einer eigens eingerichteten Internetplattform zu melden, und auch die Arbeitgeber der Demonstrationsteilnehmer zu informieren. Für die Denunziation lobte das ZPS Geldprämien aus. Damals sorgte die Polizei für die Schließung eines Büros, von der Ruch und seine Leute offenbar die Fahndung nach den Chemnitz-Demonstranten steuern wollten.
Trotz seiner Methoden genießt das ZPS einen großen politischen und medialen Rückhalt. Die mit staatlichen Geldern geförderte Amadeu-Antonio-Stiftung verlieh dem ZPS im Jahr 2015 den Amadeu-Antonio-Preis.
In der Begründung hieß es: „Der Zusammenschluss von ca. 70 Künstlern versteht es, den Kampf für Menschenrechte öffentlichkeitswirksam mit Aktionskunst zu verbinden.“
Die Demontage und Umwidmung der Mauerkreuze durch das ZPS fand eingebettet in ein Festival des Berliner Maxim-Gorki-Theaters statt, das mit 100.000 Euro aus dem „Hauptstadtkulturfonds“ der Bundesregierung gefördert wurde. Auf Anfrage der AfD erklärte die Bundesregierung 2018, sie habe von der mittelbaren Mitfinanzierung der ZPS-Aktion vorher nichts gewusst – das habe nicht im Förderantrag gestanden. Trotzdem werde sie nicht anteilig Geld zurückfordern. Die Entwendung der Gedenkkreuze falle aus ihrer Sicht unter Kunstfreiheit.
Finanzielle Unterstützung bekamen Ruch und seine Leute auch von Linkspartei-Politikern. Die Linken-Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko und Inge Höger spendeten 800 Euro an das Zentrum. Bei Höger handelt es sich um eine der Linkspartei-Politikerinnen, die aus ihrer Gegnerschaft gegen Israel keinen Hehl macht; 2014 schaffte sie es sogar auf die Simon-Wiesenthal-Liste der engagiertesten Antisemiten.
Beim ZPS war ihre Zuwendung willkommen.
Nach eigenen Angaben finanziert sich das ZPS größtenteils über Spenden, die dank der zuerkannten Gemeinnützigkeit steuerlich absetzbar sind. „Sie erhalten bis zu 50% des Betrags, den Sie in uns investieren, vom Finanzamt zurück. Aufruhr und Dissens mit staatlichem Hebel? Das gibts nur bei uns. Sie überweisen – wir übertreiben“, wirbt die Organisation auf ihrer Webseite.
Die Erlöse für Bodenproben aus Auschwitz und anderen Holocaust-Orten aus dem ZPS-Shop ergänzen das Budget des Zentrums.
In vielen Medien gilt der „aggressive Humanismus“ (Ruch) als etwas ganz besonderes – politisch wertvoll, dazu noch verwegen und künstlerisch veredelt. Im Berliner Tagesspiegel konnte Ruch im Juni 2019 als Gastautor seine Vorstellungen skizzieren. „Wenn wir überhaupt demonstrieren“, schrieb Ruch, „dann sollten wir das Innenministerium besetzen, bis der Verfassungsschutz aufgelöst ist.“
Den Denunziationsaufruf gegen die Demonstranten von Chemnitz lobte das ARD-Magazin „Titel, Thesen. Temperamente“ als „Clou“ und „Verwirrspiel mit doppeltem Boden“.
Die Wertschätzung des politisch wohlmeinenden Milieus ist Ruchs Zentrum sicher, ziemlich unabhängig davon, was es als nächstes tut, solange es Aufmerksamkeitsökonomie mit dem Kampf gegen Rechts kombiniert.
In einem Interview mit der Welt sagte Ruch einen Satz, der sein Selbstverständnis umreißt: „Politische Schönheit ist moralische Schönheit, aber im Quadrat.“