Die nächsten Wahlen zum EU–Parlament (EP) sind eine Weichenstellung. Der bisherige Kurs „mehr Europa“ steht auf dem Prüfstand. Daher wird der Wahlkampf mit härteren Bandagen ausgetragen. Annegret Kramp-Karrenbauer, Markus Söder und Manfred Weber haben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.Februar 2019) skizziert, wie sie sich die zukünftige Europäische Union (EU) vorstellen. Die Überschrift ihres Artikels – „Wir stehen gegen die Feinde Europas auf“ – klingt so, als ob sie ein dichotomes Weltbild hätten: Bei uns ist das Licht, bei den anderen die Finsternis. Hat man den politischen Gegner in eine solche Schublade gesteckt, kann man sich die argumentative Auseinandersetzung sparen. Doch wollen sie diesen Weg nicht gehen. Sie schreiben: „Wir freuen uns auf den lebendigen demokratischen Streit über die zukünftige Richtung Europas.“ Auch Annegret Kramp-Karrenbauer will in ihrer Antwort auf Emmanuel Macrons Aufruf vom 4. März 2019 („Für einen Neubeginn in Europa“) darüber streiten, wie die EU künftig handlungsfähig werden kann. Wir nehmen diese Einladung zu einem politischen Streitgespräch an.
Politiker aus CDU/CSU wollen verhindern, dass linke Kräfte die EU zu einer Umverteilungs-Union umbauen. Wenn Staats- und Regierungschefs vor dem EP den zukünftigen Weg der EU skizzieren und dabei von der Notwendigkeit eines sozialen Europa sprechen, das dem Europa des freien Kapital- und Warenverkehrs an diese Seite gestellt werden müsse, prasselt der Beifall. Wenn andere Regierungschefs die Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit anmahnen, ist der Beifall eher dünn. Auch Jean-Claude Juncker, der der Parteienfamilie der EVP angehört, fordert das soziale Europa. Dies gilt sogar für Manfred Weber, wenn er zu mehr Empathie in der EU aufruft. Präsident Macron fordert eine soziale Grundsicherung für die gesamte EU und einen gemeinsam verhandelten europaweiten Mindestlohn. Das wird die Bürokratie gehörig aufblähen. Solange die Wohlstandsniveaus in der EU auseinanderklaffen, geht das nur über eine massive Umverteilung.
Ein oft gehörter Schlüsselsatz lautet: „Die EU ist die einzige Lebensversicherung für eine gute Zukunft Deutschlands.“ Eine Stärkung der EU schwäche die Mitgliedsstaaten nicht – ganz im Gegenteil. Das ist eine Feststellung, die wir oft im EP hören, besonders deutlich von Emmanuel Macron. Annegret Kramp-Karrenbauer stimmt mit ihm überein, wenn sie die rhetorische Frage stellt, ob wir künftig durch strategische Entscheidungen in China oder den USA bestimmt werden oder ob wir die Regeln des künftigen globalen Zusammenlebens selbst aktiv mitgestalten wollten. Das gehe nur gemeinsam in der EU. Bei einem nationalen Souveränitätsverzicht könnten auf zentraler Ebene Konzepte entwickelt und Instrumente geformt werden, die für die Mitgliedsstaaten im globalen Wettbewerb wirkungsvoll eingesetzt werden könnten. So stünden sie sich auf jeden Fall besser, als wenn sie auf sich selbst gestellt wären. Der Verzicht auf nationale Souveränität sei in Wahrheit ein Gewinn. Dies hat Wolfgang Schäuble mehrfach vor dem Bundesverfassungsgericht vorgebracht. Doch zeigt die Entwicklung in der Währungsunion, dass der Verzicht auf nationale Souveränität, um EU-Europa handlungsfähiger zu machen und um die Interessen der Bürger besser vertreten zu können, den Ort der Willensbildung zwangsläufig von den Bürgern entfernt.
Macron behauptet in seinem Aufruf, wir könnten ohne den Euro, der die gesamte EU stark mache, den Krisen des Finanzkapitalismus nicht widerstehen. In Wahrheit hat der Euro die EU schwach und die Eurozone in Gläubiger- und Schuldnerstaaten gespalten. Die Einkommensniveaus haben sich in der Eurozone gegenläufig entwickelt. Sie ist die weltwirtschaftliche Region mit dem geringsten Wachstum. Hätten die Mitgliedsstaaten während der Weltfinanzkrise noch ihre nationalen Währungen gehabt, hätten sie elastisch auf die Herausforderungen reagieren und gegebenenfalls abwerten können. Die negativen Konsequenzen des Verzichts, Wechselkurse und Zinsen im nationalen Interesse steuern zu können, erleben die Bürger in der südlichen Peripherie der Eurozone tagtäglich. Ist das Wechselkursventil verstopft, so vollzieht sich der Anpassungsprozess über Arbeitslosigkeit, Steuererhöhungen, Kürzung von Sozialleistungen, Einkommenseinbußen und Abwanderung der Jugend, die im eigenen Land keine Perspektiven mehr für sich sieht. Im EP hören wir von Abgeordneten aus der südlichen Peripherie der Eurozone den Satz: „Wir wollen unsere Volker nicht auf dem Altar Europas opfern.“
Auf europäischer Ebene sollen die für Währung und Finanzen zuständigen Kommissare, Pierre Moscovici und Valdis Dombrovskis, sowie Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, die Interessen der Mitgliedsstaaten wahrnehmen. Die Opposition von Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank, gegenüber Nullzinspolitik und negativen Zinsen zeigt, dass Draghi den Zusammenhalt der Eurozone, aber nicht die Interessen deutscher Sparer und Banken im Auge hat. Wer die Einlassungen von Moscovici und Dombrovskis zur Entwicklung in der Eurozone verfolgt, bemerkt rasch, dass sie die Welt in der Eurozone so darstellen, wie sie sie sehen wollen. Dies gilt insbesondere für Griechenland. Auch die Verhandler aus dem IWF haben das schon kritisch angemerkt. Wie oft schon haben die Kommissare das rettende Ufer für dieses Land in Sicht gehabt und wurden immer wieder von der Realität widerlegt. Statistiker nennen den Versuch, mit geschönten Zahlen Politik zu betreiben, „Zahlendemagogie“.
In Brüssel erleben wir, dass die EVP und S&D in „mehr Europa“ den Weg sehen, den die Bürger mit ihnen gehen sollen. Er ist verknüpft mit einem Zuwachs an Kompetenzen für die EU-Kommission. Das geht einher mit Zentralisierung und Bürokratisierung. Dabei ist das EP der natürliche Verbündete der Kommission, weil „mehr Europa“ auch den parlamentarischen Einfluss stärkt. Einen mächtigen Schub in Richtung “mehr Europa” gäbe es im Rahmen des Aufrufs von Macron. Er will einen europäischen Innovationsrat installieren, der mit eigenem Budget Innovationen vorantreiben und finanzieren soll. Das wird wiederum die Bürokratie aufblasen. Dabei gibt es dafür seit langem Konzepte und Institutionen auf supranationaler Ebene mit klangvollen Namen wie ESPRIT (European Strategic Programme for Research in Information Technologies) mit entsprechenden Programmen und finanziellen Anreizen. Mit mäßigem Erfolg. Vom Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, wie F.A. von Hayek es formuliert hat, redet in Brüssel, vor allem aber in Paris niemand.
Die Briten haben wir dagegen in unserer Fraktion der “Europäischen Konservativen und Reformerparteien” als Verfechter von dezentralen Lösungen und Freihandel erlebt. Den Weg zu “mehr Europa” wollten sie nicht mitgehen. Sie wurden deshalb von allem von Abgeordneten der EVP, der S&D. den Grünen und auch der “Liberalen”als Störenfriede gesehen. Das galt auch für führende Vertreter der Kommission. Für den Verbleib Griechenlands in der Eurozone haben sie jede neu auftretende rote Linie überschritten. Dagegen waren sie noch nicht einmal bereit, über Camerons Punkt nach mehr Autonomie in der Frage der Freizügigkeit für Arbeitskräfte zu sprechen. Dabei war dieses Prinzip zuvor nie sakrosankt gewesen.
Wenn unsere Politiker die EU wieder näher zu den Menschen bringen wollen, müssen sie den bisher eingeschlagenen Weg ein gutes Stück zurückgehen. Sie wollen die EU raus aus den Hinterzimmern in die Debatte der politischen Diskussionen holen. Jeder Parlamentarier kann da auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Im Haushaltsausschuss plädieren deutsche Abgeordneten der EVP und der S&D, die sich in Deutschland für deutsche Interessen stark machen, für einen höheren Haushalt. Wenn ihre Kritiker sagen, die EU müsse zunächst prüfen, ob denn die gesteckten Ziele bisher erreicht worden seien und wo gespart werden könne, werden sie in die rechte Ecke gestellt und als Rechtspopulisten bezeichnet. Wie können sich Bürger eine Meinung über Politiker und Parteien bilden, wenn diese so unterschiedlich argumentieren? Im Ausschuss für Beschäftigung und Soziales trifft sich die große Koalition der Umverteiler – quer durch die Fraktionen. In der Öffentlichkeit lehnen Manfred Weber und die Abgeordneten der EVP eine europäische Arbeitslosenversicherung ab, während sie bei den Beratungen zur Einrichtung einer europäischen Arbeitsagentur die Pflöcke dafür einschlagen. Natürlich streiten sie das ab; das seien bloß technische Details. Aber die Erfahrungen lehren, dass so die Grundlagen für weitergehende Initiativen gelegt werden. Juncker hat uns gelehrt, wie man das macht (27. Dezember 1999): „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
Bei einer offenen Diskussion über die Zukunft Europas muss die Absicherung der Europäischen Währungsunion ein zentrales Thema sein. Wenn Mario Draghi vor Europaparlamentariern den Euro ein fragiles Gebilde nennt und nach einer politischen Absicherung ruft, so stellt er damit auf die Vergemeinschaftung von Risiken ab. Als nächste Schritte sind geplant: Europäische Einlagensicherung (European Insurance Deposit Scheme – EDIS), zentraler Haushalt für die Eurozone samt Finanzminister und eine europäische Arbeitslosenversicherung. Daraus wird ein unübersehbarer finanzieller Transferstrom werden. Politiker werden es nicht hören wollen, dass der Transfer von Mitteln aus produktiven Arbeitsplätzen in Sozialkonsum die Produktivität und internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU schwächt und ein europäisches Mezzogiorno entstehen lässt.
Hans-Olaf Henkel, Bernd Kölmel, Joachim Starbatty und Ulrike Trebesius sind Mitglieder der Fraktion „Europäische Konservative und Reformerparteien“ im Europäischen Parlament. Sie treten bei den Wahlen zum Parlament der EU nicht wieder an.