Tichys Einblick
Es geht ein Zug nach nirgendwo

Wolfgang Thierse und das Elend der Identitätspartei SPD

Die Farce um den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse offenbart, was aus der Sozialdemokratie geworden ist. Er versuchte für Mäßigung zu werben – und wurde als Reaktionär und alter weißer Mann mit heterosexueller Orientierung beschimpft. Nun bietet er seinen Partei-Austritt an.

imago images / Emanuele Contini

Die SPD ist eine Partei von blassen Funktionären ohne intellektuelles Profil geworden, die die inkohärente Aneinanderreihung von Phrasen für eine Aussage halten. Sie huschen durch die verwaisten Räume der Theorie und Praxis einer Partei, in der einst der intellektuelle Diskurs fast bis zum Exzess und zuweilen um des Diskurses Willen gepflegt wurde und die sich stolz als Programmpartei empfand. Vorbei, vergessen, nie wieder. Wer auch nur drei Gedanken geordnet in logischer Folge zu formulieren weiß, sucht das Weite. So nun auch der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der in eine Farce geriet.

Wolfgang Thierse versuchte in einem Beitrag für die FAZ, so honorig wie illusionär, für eine Mäßigung in der gesellschaftlichen Debatte zu werben, weil er erkannt hat, wie sehr Genderismus, Aktivismus, Woke-Esoterik und Identitätspolitik den gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstören.

Was er nun erlebt, ist, dass die Linksliberalen längst die Debatte durch Diskursherrschaft, Cancel culture oder besser Culture Cancel und durch Deplattforming zerstört haben. Aus dem Kampf gegen rechts wurde die versuchte Delegitimierung von all dem, was nicht woke oder linksliberal ist. Der SPD-Politiker erlebt – wahrscheinlich augenreibend – am eigenen Leibe, wie rigide und totalitär die Identitätspolitiker agieren, wie der Versuch, mäßigend auf eine Debatte einzuwirken, ins Leere geht, weil keine Debatte mehr existiert. So stellt er im Interview mit dem Deutschlandfunk erstaunt fest: „Ich werde als reaktionär beschimpft, als Mann mit neurechtem Sprech, gewissermaßen AfD-Positionen. Vom Schwulen- und Lesbenverband wird das getrieben. Mir wird vorgehalten, das sind ja die Ansichten eines alten weißen Mannes mit heterosexueller Orientierung, heteronormativer Orientierung. Da erleben Sie genau das. Eine Ansicht, die einem nicht passt, die wird identitär zurückgewiesen. Mein Alter, meine „Rasse“, mein Geschlecht, meine sexuelle Orientierung – also ist die Sache erledigt. Man muss sich mit der Ansicht nicht befassen. Man kann sie einfach ablegen, weil sie so von einem Menschen, der ja immer definiert ist mit einer bestimmten Identität, vorgetragen worden ist.“

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Thierse ist von der Ausbildung her Germanist, ist also von der wissenschaftlichen Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur geprägt worden, außerdem hat er in der DDR Zensur und den Versuch erlebt, über Begriffsbesetzung und über Sprachregelungen Ideologien durchzusetzen. Die Grenze, die in Wahrheit die DDR-Bürger einsperrte, wurde „Antifaschistischer Schutzwall“ genannt, die Bezeichnung „demokratisch“ war für die DDR reserviert und die Kommunisten folglich die demokratischen Kräfte, weil die Verwirklichung der vollkommenen Demokratie die Diktatur des Proletariats sein sollte. Kleinbürger, Bürger generell galten als minderwertig, Intellektuelle stets als potentiell ideologisch unzuverlässig, rein im Sinne der reinen Lehre war nur die Arbeiterklasse mit ihrer Vorhut, ihrem bewusstesten Teil, ihrer Avantgarde, der Partei der Arbeiterklasse, die progressiv war, alles Alte und Reaktionäre, alles Rechte, alles, was voriges Jahrhundert war, eisern der Zukunft zugewandt hinter sich ließ. Über Albernheiten wie geflügelte Jahresendfiguren für Engel und Fußgängererlebnisbereiche für Boulevards braucht man gar nicht mehr zu sprechen.

Der Genderismus steht in dieser Tradition der Sprachbemühungen der Kommunisten, allerdings auf noch weitaus niedrigerem Niveau. Gegen dieses aktivistische „Miniwahr“, das sich informell und teils von Steuergeldern finanziert gebildet hat, positionierte sich nun Wolfgang Thierse. Er wies auf die gesellschaftssprengende Konsequenz der Identitätspolitik und Woke-Esoterik hin. Und er offenbarte damit, dass inzwischen die Gebildeten unter den Linksliberalen selbst über das erschrecken, was auch sie ermöglicht haben. Es ist schließlich Thierses SPD, die den Schulterschluss im neuen Klassenkampf als Identitätskampf zur linksextremistischen Antifa sucht. Thierses Genossin Franziska Giffey hat ein Vorwort zu einer Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung beigesteuert, in der in Stasimanier Kitaerzieherinnen angeleitet werden, die ihnen anvertrauten Kinder auszuspionieren, um die politische Auffassung der Eltern zu ermitteln. Thierses Genossin Manuela Schwesig hat das Programm „Demokratie leben“ gestartet, das grundgesetzfeindliche Slogans steuerfinanziert verbreitete, wie: „Es heißt Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und nicht Grundrecht auf Scheißelabern.“ Wer urteilt darüber, was Meinung und was Scheiße ist? Die Antifa? Die Amadeu Antonio Stiftung?

Es ist inzwischen nicht mehr überraschend, dass Wolfgang Thierses gutmütiger und bedächtiger Essay in der FAZ hypertrophe Reaktionen hervorruft. Der SPD-Politiker Alfonso Pantisano twitterte mächtig aufgeregt: „Dass jetzt heute, ein paar Tage nach dem Desaster im „Talk“ mit der Feuilleton-Chefin der FAZ in selbigem Blatt ein Gastbeitrag von Wolfgang Thierse erschienen ist, lässt mich erstarren…Vor Wut und vor Verzweiflung, denn das, was Thierse, übrigens auch ein Mitglied der SPD-Grundwertekommission, heute dort niedergeschrieben hat, ist neurechter Sprech. Nicht inkludierend, sondern exkludierend. Nicht wegweisend, sondern reaktionär.“

Vorausgegangen war eine Glosse der FAZ-Journalistin Sandra Kegel über die Marketing-Kampagne einiger Schauspieler unter dem Hashtag #ActOut. In einer Art Manifest hatten 185 Schauspieler ihre sexuelle Orientierung offen gelegt und sich als Opfer dargestellt, behauptet, dass sie sich aus „Karrieregründen“ nicht trauten, ihre Sexualität publik zu machen, „auch finden sie, dass ihre Welt in Kino, Fernsehen und Theater unerzählt bliebe“. Kegel wies daraufhin, „dass Unterzeichner wie Ulrich Matthes, der natürlich ungezählte Familienväter spielte, oder auch Udo Samel, Mavie Hörbiger oder Maren Kroymann“ nicht „an Unterbeschäftigung litten aufgrund verschlossener Türen.“ Sie kritisierte allerdings an der Kampagne: „Was dort befremdet, ist die Aufmachung, die nicht nur im Layout der vielen kleinen Porträts, sondern auch in der Wortwahl – „Wir sind schon da“ – auf den legendären „Stern“-Titel „Wir haben abgetrieben“ anspielt. Da zeigt sich Kalkül im Ringen um Aufmerksamkeit bei Verkennung der Verhältnisse. Als sich am 6. Juni 1971 im „Stern“ 374 Frauen öffentlich dazu bekannten, abgetrieben zu haben, verstießen sie damit gegen geltendes Recht und riskierten viel – nicht zuletzt mehrjährige Haftstrafen. Bei einer Rolle übergangen zu werden, mag ärgerlich sein und sicherlich auch kränkend, aber lebensgefährlich ist das nicht.“

Was Pantisano in seinem Tweet als Desaster bezeichnete, war der Onlinetalk „Kultur schafft Demokratie“, zu dem die Grundwertekommission der SPD und das Kulturforum der Sozialdemokratie Sandra Kegel bereits vor der Publikation ihrer erwähnten Glosse eingeladen hatte.

Happy birthday, Mr. Gorbatschow
Die Wiederauferstehung des Sozialismus durch deutsche Geschichtsvergessenheit
Nach der Publikation der Glosse in der FAZ lief die SPDqueer Sturm und wollte die Ausladung der Journalistin durchsetzen. Soviel zum demokratischen Verständnis von SPDqueer. Soviel zum Dialog, auf den Wolfgang Thierse einzuwirken gedachte. Soviel zu Cancel culture und Deplattforming, die angeblich ja gar nicht existieren. Schließlich wurde als Kompromiss ausgehandelt, dass Kegels Kommentar thematisiert werden sollte und zusätzlich als Gäste die beiden Schauspieler und „#ActOut-Unterzeichner*innen“ Heinrich Horwitz und Bettina Hoppe sowie Nollendorfblogger Johannes Kram eingeladen wurden. Heinrich Horwitz größtes Problem war dabei, dass er „gemissgendert“ und im Talk falsch angesprochen wurde. Das Gespräch gipfelte schließlich in Beschimpfungen, besonders aggressiv vom „Nollendorfblogger“ vorgetragen. Sandra Kegel hielt wacker stand, machte am Ende aber doch so etwas wie einen Kotau.

Obwohl die verfehlte Politik der großen Koalition wirtschaftlichen Niedergang, soziale und psychische Schäden, verödete Innenstädte, zerstörte Lebenswerke und eine Generation junger Menschen hinterlassen wird, denen die Jugend gestohlen wird, obwohl der Wohlstand sich nur halten lässt, wenn wir uns in der internationalen Konkurrenz behaupten, kreisen die LGBT-Community und die SPD, diesen Eindruck hinterlässt jedenfalls der Talk, nur um sich, um ihre angebliche Unterdrückung, darum, richtig angesprochen und nicht „gemissgendert“ zu werden. Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) kommentierte den Talk mit den Worten: „Die drei Eingeladenen kritisierten die Vorwürfe Kegels deutlich. Eindrucksvoll berichteten sie von ihren Erfahrungen und erzählten von ihrer Wut und ihrem Schmerz angesichts der Negierung ihrer Erfahrungen und der Unterstellung, Diskriminierung zu erfinden, weil sie lediglich Aufmerksamkeit bekommen wollen. Heinrich Horwitz, nicht-binäre Schauspieler*in, wurde dabei von den Verantwortlichen konsequent falsch angekündigt und angesprochen. Schon das erste Indiz dafür, wessen Wünsche in der Veranstaltung respektiert wurden….Ausgerechnet in der SPD-Grundwertekommission haben die Verantwortlichen klargemacht, auf wessen Seite sie stehen und wer mit ihrer Unterstützung rechnen kann: Es sind nicht die Betroffenen. Aber die Verantwortung reicht weiter. Es war eine Veranstaltung der SPD, auf dem Kanal ihrer Zeitschrift „vorwärts“…Gestern Abend wurde klar, dass viele in der SPD Homophobie und Transfeindlichkeit lieber leugnen, kleinreden oder verharmlosen statt diese deutlich zu kritisieren und für die Menschen hinter #actout und queere Menschen Partei zu ergreifen. Die regelmäßigen Beteuerungen auf der Seite der queeren Community zu stehen sind nichts wert. Hier hat die SPD versagt.“

Die SPD hat wahrscheinlich versagt, weil sie Sandra Kegel nicht ausgeladen, weil sie möglicherweise zum letzten Mal kein Deplattforming und kein Culture cancel betrieben hat. Das wird sich wohl ändern, denn: „Als LSVD fordern wir ein glaubwürdiges Aufarbeiten innerhalb der Partei. Wie konnte dieser Talk so stattfinden? Die SPD-Verantwortlichen sollten bei den Redner*innen, bei #actout und der queeren Community, um Entschuldigung bitten, die durch diesen Auftritt entstandenen Wunden anerkennen und sich mit lsbti-feindlicher Diskriminierung ernsthaft auseinandersetzen.“

Wer Argumentieren als „Wunden schlagen“ versteht, der weiß nicht nur nicht, was eine Debatte ist, der hat auch in einem demokratischen Diskurs nichts verloren, denn der lebt vom Meinungsstreit, von konträren Positionen.

Darüber, dass öffentlich-rechtliche Medien immer weniger die gesellschaftliche Realität abbilden, muss man sich indessen nicht wundern, wenn sie von Funktionären wie der Bundessprecherin von Die Linke.queer, Jenny Luca Renner, die ZDF-Fernsehrätin ist, kontrolliert wird, die eine kontroverse Diskussion als Sakrileg, als unentschuldbar betrachtet: „Ich bin entsetzt! Das, was da gestern passiert ist, ist ekelhaft und macht mich als Betroffene wütend, sprachlos und sehr sauer.“ Kontroverse Diskussionen sind also für sie „ekelhaft“. Die Vorgänger der Linken haben übrigens auf Gegenargumente mit Gefängnis, Gulag und Genickschuss reagiert. Vielleicht setzt sich Frau Renner einmal mit ihrer Parteigeschichte auseinander. Da gibt es einiges, was mehr als „wütend, sprachlos und sehr sauer“ macht.

Vorwärts nimmer, rückwärts Antifa und Coimmer
Die SPD als Partei reicher Funktionäre
Wolfgang Thierses Befund in seinem FAZ-Beitrag, dass „Fragen ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität dominieren“, und dass „Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender … heftiger und aggressiver“ werden, bestätigte sich also an ihm selbst. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken und Vize Kevin Kühnert baten artig und kniefällig wie vom LSVD gefordert bei der LGBTI-Community um Entschuldigung und luden zu einem Treffen am 11. März ein. Der Termin solle dem Vorstand „die Chance geben, Euch im direkten Austausch zu versichern, dass Queerness und überhaupt gesellschaftliche Vielfalt in der SPD so viel empathischer und solidarischer betrachtet werden, als es in den vergangenen Tagen den Eindruck gemacht hat“. Vor allem entsteht der Eindruck, dass Queerness der einzige Inhalt der Partei ist. Kevin Kühnert badete förmlich in der Asche, die er sich eigentlich nur aufs Haupt werfen wollte, wenn er über eine „mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Gäst*innen aus Euren Reihen, manche Rechtfertigung im Nachgang“ klagte, die „uns zutiefst “ „beschämt.“

Esken und Kühnert erwähnten zwar Wolfgang Thierse nicht namentlich, doch stellten sie klar, dass „Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik, die in den Medien, auf Plattformen und parteiintern getroffen wurden“ „insbesondere im Lichte der jüngsten Debatte ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD“ zeichneten, „das Eure Community, Dritte, aber eben auch uns verstört“. Daraufhin richtete Wolfgang Thierse einen Brief an die SPD-Vorsitzende Esken, in dem er schrieb, dass er von Kühnerts und Eskens Entschuldigung aus dem „SPD Medien- und Informationsdienst“ erfuhr. „Ich entnehme dass Du „verstört“ über mich seist, dass Du Dich meiner (und vor allem Gesine Schwans) schämst und Dich von mir (von uns beiden) distanzierst.“ Er bitte darum, ihm öffentlich mitzuteilen, ob sein „Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich“ sei. Er selbst habe Zweifel, „wenn sich zwei Mitglieder der Parteiführung von mir distanzieren“

Wie zur Bestätigung hatte Aziz Bozkurt, Bundesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt in der SPD, zu dem FAZ-Text bereits getwittert: „Ach Wolfgang…traurig, wie sich einige entwickeln, einfach im letzten Jahrhundert verharren.“

Eigentlich hätte es in diesem Artikel auch um das Wahlprogramm der SPD gehen sollen. Aber das ist überflüssig. Irgendwie beschriebenes Papier. In der SPD hat der identitätspolitische Flügel über den Arbeitnehmerflügel gesiegt. Die einstige Arbeiterpartei interessiert sich nicht mehr für die Arbeitnehmer, nicht mehr für die reale Welt der Bürger, der Familien. Sie ist angekommen im queeren Universum und hat im LSVD ihr Politbüro gefunden. Eigentlich würde gerade jetzt eine Partei gebraucht, die sich für die Interessen der Arbeitnehmer, ihrer Familien, der Kinder in Kinderarmut einsetzt und gegen den Bildungsnotstand, den sie mitverschuldet hat, angeht. Man kann die SPD nicht zu ihrer Pflicht zwingen. Sie hat die soziale Frage durch die Geschlechterfrage ersetzt.

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