Die FDP spielt eine Art Opposition in der Regierung. Sie kritisiert die gemeinsame Politik, als ob sie damit gar nichts zu tun hätte. Sie lässt kein gutes Haar an Entscheidungen, die sie selbst mitbeschlossen hat. Sie sagt: „So geht es nicht“ – und geht dann doch mit.
Was die FDP in der Ampel ist, ist Wolfgang Kubicki in der FDP.
Der 72-Jährige, das kann man nicht anders sagen, ist eine der unterhaltsameren Figuren im Politikbetrieb. Seit 1990, also fast sein halbes Leben lang, ist er hauptberuflich Abgeordneter. Allerdings hat er darauf geachtet, auch daneben als Rechtsanwalt immer gut zu verdienen. Das ist ihm sehr ordentlich gelungen. Freilich ging das nicht ohne Blessuren ab.
Zum Beispiel bei der Mülldeponie Schönberg. Bei deren Privatisierung beriet er das Land Mecklenburg-Vorpommern. Dabei verdiente sich ein Geschäftspartner von Kubicki eine goldene Nase, während eine landeseigene Gesellschaft fast pleite ging. Kubicki wurde verklagt, letztlich aber freigesprochen.
Als dubios darf man auch Kubickis finanzielle Verbindungen zur Ehefrau des Mobilcom-Gründers und Millionen-Pleitiers Gerhard Schmid empfinden (Banken in Liechtenstein waren im Spiel). Da passt es ins Bild, dass der FDP-Mann zudem als wichtigster politischer Interessenvertreter der deutschen Glücksspielbranche gilt.
Politisch folgt Kubicki seit jeher dem Leitsatz, dass der Drache nur gegen den Wind steigt. Mit dem ehemaligen liberalen Parteichef Otto Graf Lambsdorff trug er jahrelang einen öffentlichen Beef aus. Der Graf war deshalb über die Maßen sauer und sorgte sogar dafür, dass der aufmüpfige Landesvorsitzende von Schleswig-Holstein zeitweilig nicht in den Bundesvorstand gewählt wurde.
Das war eine bemerkenswerte Demütigung. Aber Kubicki steckte das ebenso weg wie die Schönberg-Affäre, den Schmid-Skandal und die Glücksspiel-Connection. Er fiel zwar, aber er stand auch jedes Mal wieder auf.
Ein Comeback-Künstler.
Dass der gebürtige Braunschweiger nie wirklich abstürzt, liegt vermutlich daran, dass bei ihm Reden und Handeln – sagen wir mal: nicht immer zusammenfallen. Nach außen pflegt er das Image des unabhängigen Rebellen, der sagt, was er denkt – auch wenn das nicht der Parteilinie entspricht.
Es kann schon sein, dass Kubicki gerne sagt, was er denkt. Aber dann tut er nicht das, was er sagt.
Denn im Bundestag bleibt der in dritter Ehe verheiratete zweifache Vater in allen wichtigen Fragen brav auf Parteilinie (und strikt vor der Brandmauer). Im Zweifel stimmt er für die Ampel – also für den Verbleib an der Macht. Was er davor oder danach in Interviews von sich gibt, entpuppt sich als Blendwerk.
Beispiel Kernenergie: Kubicki kritisierte mehrfach medienwirksam die Abschaltung der Atomkraftwerke: „Die Abschaltung der weltweit modernsten und sichersten Atomkraftwerke in Deutschland ist ein dramatischer Irrtum, der für uns noch schmerzhafte ökonomische und ökologische Konsequenzen haben wird.“ Im Bundestag sah er das dann nicht mehr so: Er stimmte gegen einen AfD-Antrag, der forderte, die Kernkraftwerke nicht zurückzubauen. Er stimmte sogar gegen einen CDU-Antrag auf Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke.
Beispiel Ferda Ataman: Kubicki unterstützte mehrfach öffentlich die Kritik an der umstrittenen Aktivistin. Die habe „verbale Grenzen überschritten“. Als es darauf ankam, bekam sie bei der Wahl zur Antidiskriminierungsbeauftragten aber auch seine Stimme.
Beispiel Corona: Kubicki inszenierte sich – und inszeniert sich weiter – als aufrechter Kämpfer für die Bürgerfreiheiten. In der Corona-Zeit habe es „schwerste Grundrechtseingriffe“ gegeben. Gesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD müsse zurücktreten. Im Bundestag freilich stimmte der wortgewaltige Mann aus Kiel erst FÜR die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen und dann GEGEN die Abschaffung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht (AfD-Antrag). Der Abstimmung über den ebenfalls von der AfD geforderten Corona-Untersuchungsausschuss blieb er sicherheitshalber gleich ganz fern.
Beispiel Meldestellen: Kubicki attackiert in der Bild-Zeitung öffentlichkeitswirksam die „grünen Zensuranstalten“ unter Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller. Wirtschaftsminister Robert Habeck, dem die Netzagentur untersteht, solle aufpassen, dass hier kein „grüner Rechtskreis entsteht“. Dass die FDP mit Verkehrsminister Volker Wissing auch das Ministerium für Digitales leitet, geht da unter. Ebenso schnell übrigens wie der Anspruch der FDP in der Opposition, gegen das NetzDG anzutreten. Oder dass die JuLi-Vorsitzende ein Start-up gegen Hass im Netz unterhält. Die FDP also mittendrin, nicht nur dabei.
Wenn es brenzlig wird, kneift Kubicki: Er enthält sich – zum Beispiel beim sogenannten „Selbstbestimmungsgesetz“ und bei der beschleunigten Einbürgerung. Oder er geht erst gar nicht zur Abstimmung – zum Beispiel beim Erneuerbare-Energien-Gesetz, beim Aussetzen der Schuldenbremse 2023 und selbst bei der Entscheidung über die Wahlwiederholung der Bundestagswahl in 431 Berliner Wahlbezirken.
Mit der Stimme des selbsternannten Widerstandskämpfers und Volkshelden wurden dagegen unter anderem beschlossen:
- der WHO-Pandemievertrag,
- das Energiewirtschaftsgesetz und das Gebäudeenergiegesetz,
- der vorgezogene Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier,
- die Einsetzung des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“,
- die Einführung des Bürgergelds.
Am Mittwoch nun folgte Kubickis jüngster Streich: In einer Bundestagsrede griff er Medienberichte auf, wonach der Bundessicherheitsrat auf Druck von Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock seit März keine Kriegswaffenexporte an Israel genehmigte, obwohl das Land bekanntlich von Terroristen angegriffen wird. „Sollte dies zutreffen, wäre das ein ungeheuerlicher Vorgang“, rief der FDP-Vize. Man müsse sich „in Grund und Boden schämen“.
Kubicki forderte sogar, „Strafjuristen ins Auswärtige Amt zu schicken“. Und: „Wir werden der Frage weiter nachgehen“, ob auch die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung in die Waffen-Blockade involviert sei. Vorab hatte der Rächer der Ampel-Enterbten schon gesagt: „Ich erwarte Rücktritte, falls die Berichterstattung zutrifft. Unterbleiben diese, kann ich eine Unterstützung dieser Koalition nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren.“
Dabei vergaß der wortgewaltige stellvertretende FDP-Vorsitzende allerdings zu erwähnen, dass alle Entscheidungen im Bundessicherheitsrat einstimmig fallen. Dort sitzen auch Finanzminister Christian Lindner sowie Justizminister Marco Buschmann – beides liberale Parteifreunde.
Kubicki bedient nach außen jenen wachsenden Teil der FDP-Klientel, der zunehmend mit der Ampel fremdelt. Lauterbach- und Ataman-Gegner, Israel-freundliche Baerbock-Gegner, wirtschaftsorientierte Habeck-Gegner, vom Wokismus zutiefst Genervte. Für sie schießt er scheinbar auf die Gegner in der eigenen Koalition.
Was das gemeine Publikum nicht merken soll: Geschossen wird immer nur mit Platzpatronen. Denn die Ampel ist durch Kubickis Show-Manöver nicht auch nur entfernt in Gefahr. Wenn es ernst wird – zum Beispiel bei Abstimmungen im Bundestag über umstrittene und definitiv illiberale Projekte –, dann hebt auch Wolfgang Kubicki stets und verlässlich seine Hand im Sinne der Regierung.
Wenn man nach einem Avatar für Kubicki sucht, dann wird man in einem Kinderbuch fündig. Der Bundestagsvizepräsident ist der Turtur aus „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“. Turtur ist ein Scheinriese: Er wirkt übergroß und bedrohlich in der Ferne.
Doch je näher er kommt, desto winziger wird er.