Vorsicht vor der Ausrufung brandneuer Trends. Es gibt fast immer schon hier und da kleine Rinnsale, aus denen ein breiter Fluss entsteht. Lässt er sich nicht mehr übersehen, kann er so neu nicht sein. In der großen länderübergreifenden Bewegung der Erwachten mit der selbstausgestellten Lizenz zur Gesellschaftslenkung verbreiten sich alle neuen Tendenzen blitzschnell zwischen Seattle und Wien. Auch diese relativ neue und gesellschaftlich nicht ganz unwichtige Entwicklung, um die es in diesem Text geht. Vor kurzem erschien in der Financial Times eine Untersuchung mit dem Ergebnis, dass junge Frauen in fast allen westlichen Ländern im Schnitt deutlich weiter nach links tendieren als gleichaltrige Männer.
Die Autoren des Textes sprechen von einer ideologischen Geschlechterlücke. Dafür kommen mehrere Gründe in Frage. Vermutlich spielt es eine Rolle, dass Frauen dank der Identitätspolitik in Wissenschaft, Medien und Politik heute über bessere Aufstiegschancen verfügen als Männer. Ohne die freundliche Resonanz in dieser Gruppe wäre die schnelle westweite Ausbreitung der Erwachtenbewegung jedenfalls nicht möglich gewesen. In der Bewegung selbst spielen Frauen als Rollenmodelle und Einflussagenten eine herausragende Rolle, ihre Botschaften, die sie vor allem an andere junge Frauen richten, senden sie nicht nur über Universitätsseminare und klassische Medien, sondern vor allem über soziale Netzwerke wie TikTok und Instagram.
Aber gerade in dem speziell auf diese Gefolgschaft zugeschnittenen Angebot der Postcolonial-Theoretiker, kritischen Weißseinsforschern, Hamasgutfindern und Transgenderideologen lässt sich neuerdings der Trend beobachten, die Schrauben so fest anzuziehen, dass sie nach dem unvermeidlichen Knacks wieder ganz locker sitzen. Alle in diesem Text gleich aufgelisteten Fälle wirken so, als wären sie von verdeckt operierenden Gegnern der Erwachten in der Absicht ausgeheckt worden, dem harten erwachten Kern ausgerechnet die bisher besten und treuesten Unterstützer abspenstig zu machen und ganz nebenbei noch das Glaubenssystem als Ganzes durch Lächerlichkeit zu erschüttern.
Beginnen wir mit der vom Deutschlandfunk, aber auch anderen Institutionen verbreiteten Forderung, endlich die koloniale Vergangenheit von botanischen Gärten und öffentlichen Grünanlagen überhaupt aufzuarbeiten.
Fachkräften, die unermüdlich nach neuem Stoff für Postkolonialseminare fahnden, fiel auf, was Biologisten schon lange wissen, nämlich, dass es sich bei den allermeisten unserer Nutz- und Zierpflanzen um Migranten handelt. Die Rose stammt ursprünglich aus China, die Lilie aus dem Himalaya, die Tulpe aus dem persisch-türkischen Raum, Tomaten und die von Ferda Ataman als Kosenamen gebrauchten Kartoffeln aus Südamerika, Cannabis vermutlich aus Zentralasien. Diese Gewächse und viele andere Eindringlinge gelangten nach Mitteleuropa, bevor mitteleuropäische Staaten überhaupt irgendwo Kolonien errichteten; sie stammen mehrheitlich aus Weltgegenden, in denen es nie europäische Kolonien gab, schon gar keine deutschen, abgesehen davon gehören sie längst zu den heimatlichen Arten.
Der Kolonialismusbegriff der weißenkritischen Postkolonialisten befasst sich allerdings so gut wie nie mit Kolonien, die irgendwann einmal tatsächlich existierten. Für sie fällt mittlerweile fast jede Berührung des weißen Westens mit irgendetwas von außerhalb in die Kategorie von Unterdrückung, Ausbeutung und damit Schuld. So funktioniert das Prinzip des permanenten Schraubenanziehens generell: Selbst die allermeisten Wohlgesinnten, die sich ganz auf dem Quivive wähnen, die Schuld des Westens für selbstverständlich halten und Bücher von Alice Hasters kaufen, ahnten bis eben noch nicht, dass sie sich schon in einen moralischen Sumpf begeben, wenn sie einen unaufgearbeiteten botanischen Garten besuchen oder einen Strauß Tulpen vom Biowochenmarkt mitnehmen.
Während die Migration von Menschen aus dem sogenannten globalen Süden in den Westen nach neoprogressiver Lehre als alternativlos und wünschenswert gilt, steht inzwischen so gut wie jedes andere Importgut unter Verdacht. Beispielsweise Yoga. Im Guardian, dem Schwestermedium des Deutschlandfunks auf der Insel, erklärte kürzlich eine Yogalehrerin, bei der Adaption von Yoga im Westen handle es sich um cultural appropriation, kulturelle Aneignung, denn sowohl die meisten Yogalehrer als auch -kunden in London seien weiß und was sie unter Yoga verstünden, sei viel zu weit von den Wurzeln entfernt.
„Die Aneignung von Yoga durch die weiße Wellness-Industrie ist eine Form des Kolonialismus im 21. Jahrhundert“, erklärt die Artikelverfasserin Nadia Gilani. Möglicherweise sagt sich an dieser Stelle sogar ein Erwachter: Wenn der westliche Kolonialismus des 21. Jahrhunderts hauptsächlich darin besteht, dass eine weiße Bankerin nach Feierabend irgendwo in Kensington ihre Yogamatte ausrollt, dann liegen die gröbsten Verbrechen vermutlich hinter uns. Um sich dann für diesen Gedanken umgehend zu schämen.
Beiträge über den Pflanzen- und Yogakolonialismus finden sich nicht nur in den hier zitierten Medien, sie stehen stellvertretend für viele andere Leitmedien und -personen, die diese und andere Beschwerden kultivieren. Vor dem kolonialen Ansatz („colonial approach“) beim Pflanzen von Blumenkohl in urbanen Gärten von New York warnte beispielsweise die neoprogressive Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez schon 2019, als selbst Deutschlandfunk-Redakteure noch nicht auf diesem Problemfeld ackerten.
Es kann nicht mehr lange dauern, bis auch hierzulande die große gesellschaftliche Debatte über weiße Yogaaneignung losbricht. Fast jede neue Schraubenumdrehung beginnt in den Vereinigten Staaten, spätestens ein bis zwei Jahre danach kommt sie bei den deutschen Redakteuren und ihren Experten an. So wie die in den USA im erwachten Milieu schon weitgehend vollzogene Verdammung so gut wie aller kulturellen Zitate im Partybereich. Dass eine Faschingsverkleidung als Indianer vor allem weiße Akademiker traumatisiert, wissen auch in Deutschland schon die meisten Wohlmeinenden. In einer Sendung des von ARD und ZDF gemeinsam betriebenen Kanals Funk gingen zwei Fernsehpersonen weit darüber hinaus, indem sie sich wechselseitig die ganz grundsätzliche Schädlichkeit jeder Karnevalteilnahme bestätigten, weil selbst jeder noch so harmlos Kostümierte damit die Traumatisierung marginalisierter Gruppen unterstützt.
Aus vermutlich nur für einen inneren Kreis verständlichen Gründen hockten sie dabei auf rosafarbenen Toilettenbecken; eine von ihnen trug ein osteuropäisch anmutendes Kleid. Wahrscheinlich gibt es auch dafür eine Erklärung. Die Funk-Darbietung changiert in Bild und Ton ästhetisch irgendwo zwischen „Dschungelcamp“ und den „meine Aktfotos im Profil“-Bots auf Twitter. Der beschleunigte Abstieg des Wokismus in Richtung Trash gehört übrigens auch zu den Entwicklungen, die zusammen mit anderen Faktoren den gesamten Erwachtheitskomplex sauber zerlegen könnten. Dazu ganz zum Schluss des Textes noch ein nicht uninteressanter Ausblick.
Mit welchen bis eben noch unkategorisierten Sünden sie ihren Schuldkontostand füllen, bringt auch die Teenagerausgabe von Vogue dem Nachwuchs und damit den mitlesenden Müttern bei: Nach deren Urteil von Anfang 2024 fällt nämlich so ziemlich jede populäre Musik unter ‚kulturelle Aneignung‘, sobald sich in ihr irgendwelche Spuren aus der Kultur „historisch marginalisierter Gruppen“ finden. Das trifft nach dem fachgerechten Vogue-Urteil nicht nur auf Reggae zu, sondern auch Rock und Hip-Hop. Selbst K-Pop kommt nicht davon, weil die Koreaner hier und da Elemente schwarzer Musik verwenden. Dass Weiße auf keinen Fall Dreadlocks tragen und keinen Reggae spielen sollen, gehört schon länger zur Haram-Liste der Wohlgesinnten. Jetzt reicht bereits das reine Hören ohne vorhergehendes kulturelles Sensibilisierungstraining, so, wie schon das Mitmachen beim Karneval in Abgründe führt, auch und gerade im ganz harmlosen Kostüm.
In wohlgesinnten Kreisen der USA entstand vor ein paar Jahren die abfällige Wendung ‚Karen‘ als Sammelbegriff für Vorstadtfrauen, die sich der Lehre von der weißen Schuld verweigern, ihre Pronomen nicht wechseln wollen und Geschlecht für etwas biologisch Begründetes halten.
Spiegelbildlich existiert ein Unterstützermilieu für die Bewegung der Erwachten, den Anti-Karens. Für Deutschland bietet sich als Typusbezeichnung Lena-Sophie an. Lena-Sophies glauben fast an die Existenz von systemischem Rassismus, bekämpfen das Patriarchat und wünschen sich die Migration in den Westen möglichst schrankenlos, solange niemand die dafür nötigen Wohncontainer in ihrer Nachbarschaft aufstellt. Eine Lena-Sophie in den Medien wird einen Grünenpolitiker nie anders als affirmativ befragen, eine L-S als Beamtin im Bundesfamilienministerium wird gern ‚Demokratie-leben‘-Fördergelder auch ohne bürokratische Nachweise durchwinken, da sie der richtigen Sache dienen.
Allerdings pflegt eine Lena-Sophie auch bestimmte Vorstellungen von einem gehobenen progressiven Lebensstil, zu dem eben mehr gehört als das Babboe-Fahrrad. Sie begeistert sich für Urban Gardening, wobei sie meint, dass auch Pflanzen dazugehören sollten, die erst in den letzten 500 Jahren zur europäischen Flora kamen. Sie isst bisher gern in eigens für Kundinnen wie sie entworfenen Lokalen ihre Quinoa-Bowl mit Bambussprossen, trägt gern Ethnoschmuck, geht zum Yoga und gelegentlich Ayurveda, wahrscheinlich auch zum Hiphop-Konzert, um zu zeigen, dass sie im Inneren noch sechzehn ist. Möglicherweise findet sie noch nicht einmal etwas dabei, ihre aus dem Urlaub mitgebrachte Flechtzopffrisur auch im Prenzlauer Berg zu tragen.
Und jetzt erfährt also auch sie, die sich bisher immer für einen ally und das glatte Gegenteil des alten weißen Mannes hielt, dass sie ein weitgehend falsches und vor allem viel zu lustbetontes Leben führt. Es kommen nur wenige Pflanzen zusammen, die selbst bei weitester Auslegung von kolonial als unbedenklich erscheinen. Eichenarten wachsen in Deutschland seit zwölf Millionen Jahren, auch die Echte Kamille stammt aus Europa. Hirse kommt zwar ganz ursprünglich aus Afrika, allerdings schleppte sie irgendjemand schon im Neolithikum zu uns ein. Wer sich an Eicheln-Hirse-Bowl und Kamillenaufguss hält, befindet sich also auf der ziemlich richtigen Seite. Zum Hören empfiehlt sich Campino, etwas Kerndeutscheres findet sich beim besten Willen nicht.
Für Leibesübungen bleibt immer noch Turnen mit dem Rhönrad, Reichspatentnummer 442057. Auch die Frage nach dem Wohnort muss sich Lena-Sophie neu stellen. Vor allem junge urbane Frauen hielten längere Zeit zumindest das Teilzeitleben auf dem Land für besonders naturverbunden, das Landhäuschen in Brandenburg erschien ihnen sogar als Alternative zu Urlaubsreisen ins Ausland. Bis ihnen ein Philosoph aus dem unerschöpflichen Expertenpool der Öffentlich-Rechtlichen erklärte, welche Gefahr für ihre Persönlichkeit auf dem Dorf lauert.
Dass Landleben Neuzugänge reaktionär macht – die dort schon länger Lebenden sind es ja längst –, liegt auf der Hand: Es entfernt Menschen aus dem Wirkungskreis der Erwachtesten unter den Erwachten, die über die Entbotanisierung kolonialer Gärten und weiße Yogaaneignung nachdenken, aber auch darüber, dass es in den Metropolen noch viele Rückstände dunkler Zeiten zu beseitigen gibt, beispielsweise Hochhäuser.
Was die Kleidung angeht – hier werden die Räume für Lena-Sophie und ihr Bedürfnis, alles richtig zu machen, inzwischen wirklich sehr eng. Ethnomuster müssen sowieso aus dem Schrank, siehe oben. Aber nach dem Befund einer Soziologin, mitgeteilt via Deutschlandfunk, bleibt auch sonst kaum etwas übrig.
Wenn rechte Kleidungscodes im Alltag kaum auffallen – außer natürlich dem Adlerinnenauge der Expertin –, dann bedeutet das logischerweise: So gut wie alles kann dazugehören. Selbst die Werber mit ihrem Entwurf für ein großes Versandunternehmen, die eben noch dachten, sie hätten ihre Pflicht beim Aufbrechen von Sehgewohnheiten getan, müssen sich jetzt vorhalten lassen, unverantwortliche Signale in die Gesellschaft zu senden. Rechte Perlenkette und blonder Träger, dazu noch ein notdürftig kaschiertes heteronormatives Familienbild, das ruft schon fast nach einer Gefährderansprache in der Agentur.
Männer sind modisch im Schnitt nicht besonders anspruchsvoll. Aber gerade jüngere Frauen aus den guten Innenstadtvierteln, eben die Lena-Sophies müssten jetzt eigentlich auf dem recht schmalen Grat zwischen dem Ethno-Wallegewand einerseits und Blazer, Bluse und ähnlichen rechten Codeklamotten wandeln. Zu den traditionellen Parolen auf linken Demonstrationen gehört der Ruf: Es gibt kein sicheres Hinterland. Der kehrt sich jetzt gegen die treuesten Unterstützer einer Bewegung, die ein linkes Dekor verwendet bei ihrem Versuch, die Gesellschaft mit Ge- und Verboten für jeden Lebensbereich zu formatieren: Was eben noch bei den Hohepriestern als besonders weltoffen, unverdächtig oder zumindest noch akzeptabel durchging, kann heute oder morgen zur Anklage führen, zumindest zur strengen Ermahnung, das Fehlverhalten durch besonderen Eifer an anderer Stelle wieder abzubüßen.
Bei den Lena-Sophies handelt es sich nicht um wirklich harte Kader, im westhassenden Geist von Frantz Fanon geschweißt, sondern um Personen, die gern bei einer Bewegung dabei sein wollen, mit der sie ihr persönliches Fortkommen in Medien und staatsgeldfinanzierten Apparaten verbinden. Sie möchten per saldo gewinnen, nicht opfern. Schon gar nicht die Möglichkeit, im ganz landläufigen Sinn ein bisschen Spaß zu haben. Nach Botanik, Ernährung, Musik, Yoga und Kleidung ist nämlich noch lange nicht Schluss mit der Rechtleitung. In erweckten Kreisen gibt es sowieso schon den Rat, auf eine nächste Generation zu verzichten, wegen Klima, aber auch wegen der tiefroten Rendite des Anlageobjekts Kind; die Zeit schuf in diesem Zusammenhang schon den völlig ironiefreien Begriff „Eltern ohne Kinder“.
Seit einiger Zeit gibt es aber auch eine weitergehende Botschaft für alle Frauen, die trotz aller Warnungen Nachwuchs möchten oder sogar schon haben: die Problematisierung speziell von Söhnen. Auch hier behaupteten Medienschaffende und ihre Experten wieder wie auf Pfiff von Australien über Westeuropa bis nach Kalifornien, die ganze Gesellschaft müsste darüber diskutieren, wie sich verhindern lässt, dass (männliche, ausschließlich weiße männliche) Kinder sich zu Monstern entwickeln.
Im deutschsprachigen Raum bekam die Autorin Shila Behjat viel mediale Aufmerksamkeit für ihr Buch „Söhne großziehen als Feministin“. Das NDR-Kulturjournal macht der potentiellen Leserinnenschaft in zwei feinfühligen Sätzen klar, warum sie das Werk kaufen soll: „‚Hoffentlich wird er kein Arschloch!‘ So durchfährt es die Autorin Shila Behjat sofort, als sie schwanger ist und sich beim Ultraschall abzeichnet, dass sie Mutter eines Sohnes wird.“ In einem Interview mit dem Verhaltensfachmagazin Vogue, diesmal der Erwachsenenausgabe, umreißt Behjat sicherheitshalber ihre Kernsorge: „Für mich stellte die Existenz (vornehmlich weißer) Männer per se ein gewaltiges Problem dar.“ Den Erzeuger ihrer Kinder wählte sie offenbar gegen ihre Überzeugungen aus, da sie zu Protokoll gibt, ihr Sohn sei blond und hellhäutig. Falls sich das anders verhalten hätte, stünde sie selbstredend mit der öffentlichen Befürchtung, der nichtweiße Spross könnte einmal ein zweiter Malcolm Ohanwe ein Arschloch werden, schon mit beiden Füßen im siebten Kreis der Hölle.
Obwohl die Warnung vor männlichem Nachwuchs mit falscher Hautfarbe ihr letztes Durchnudelstadium noch nicht erreicht hat, rollt aus Übersee schon die nächste Welle heran, natürlich noch größer und konsequenter, als es sich die Lena-Sophies und der heimische Rest überhaupt vorstellen konnten. Die wirklich ganz, ganz neue Lebensempfehlung an junge westliche Frauen lautet konsequenterweise, auf Herrenbekanntschaft ganz zu verzichten. Ohne Klingelwort geht in der Aufmerksamkeitsökonomie nichts; in diesem Fall lautet der Fachbegriff boysober, was so viel bedeutet wie: Frauen im klassischen Paarungsalter sollten sich gegenüber Männern ein ähnliches Vermeidungsverhalten antrainieren wie Antialkoholiker in Bezug auf geistige Getränke. Vor allem auf TikTok erklären junge auch in dieser Hinsicht bekehrte Frauen reihenweise, wie gut und befreit sie sich fühlen würden, seitdem sie in bewusster Entscheidung allein leben. In Deutschland verbreitet sich die Botschaft ebenfalls; nicht mehr lange, und es erscheinen auch dazu die ersten Bücher.
Die US-Komikerin Hope Woodard, stolze Besitzerin der Markenrechte an dem Begriff boysober, erklärt, was alles dazugehört, wenn frau die toxische Männlichkeit an der Wurzel packen und ausreißen will: „Du bist nicht single, wenn jemand in deinem Gehirn Platz wegnimmt. Keine Umarmungen und Küsse mehr!“ Ein bestimmter, aber recht kleiner und konstanter Prozentsatz junger Frauen möchte mit Männern tatsächlich nichts anfangen, ihnen kann also nach wie vor eine andere Person Platz im Kopf wegnehmen. Der Tipp für das zölibatäre Leben kommt vermutlich auch bei allen gut an, deren Chancen auf dem Partnerschaftsmarkt nicht sonderlich gut stehen. Aber die allermeisten jungen Frauen sind nun einmal heterosexuell und verfügen grundsätzlich über gute Aussichten, eine Beziehung mit einem Mann aufzubauen, sogar eine, die über Dating und Affären hinausreicht. Das heißt, sie verfügen jetzt, in ihrer Blüte, darüber. In ihrer Lebensmitte und im Zustand tiefster jahrelanger Verbitterung, den falschen Lebensratschlägen gefolgt zu sein, sieht es schon sehr viel trüber aus.
Das, was die führenden Erwachten ihren treuesten Anhängerinnen einreden, also den jungen progressiven Frauen, lässt sich so zusammenfassen: alles, was unglücklich macht. Es lässt sich darin problemlos das klassische Sektenkonzept erkennen, leicht gewinnbare Opfer durch immer dichtere und detailliertere Vorschriften zu ihrem Privatleben an die Bewegung zu binden, ihnen ständig neue Schuldgefühle aufzuschwatzen und sie gleichzeitig aus allen anderen sozialen Beziehungen herauszulösen, damit, wie es schon oben hieß, nichts und niemand anderes mehr Platz in ihrem Kopf wegnehmen kann. Die ideale Lena-Sophie bemüht sich also nach Kräften, unentwegt neue Achtsamkeitsregeln zu Essgewohnheiten, Kleidung, Freizeitsport, Musik, korrektem Sprechen, Fühlen und Meinen zu befolgen. Trotzdem nagt an ihr die Angst, ständig gegen irgendwelche Codes zu verstoßen.
Sie merkt: Es ist nie genug. Egal, wie sie sich abstrampelt, hinter den sieben Theoriemüllhalden lebt immer noch eine andere, die tausendmal achtsamer ist. Lena-Sophie verinnerlicht die Grundahnung, dass hinter allem, was eventuell Spaß machen könnte, wahrscheinlich eine Sünde lauert. Und sie lebt nicht nur kind- sondern auch partnerlos, weil andere ihr auf TikTok vorschwärmen, dass darin die ultimative Glücksformel der modernen progressiven urbanen Existenz liegt, übertroffen höchstens noch von der operativen Änderung der Geschlechtsidentität.
Der amerikanische Autor und Psychologe Jonathan Haidt weist schon seit einiger Zeit darauf hin, dass sich das psychische Wohlbefinden vor allem der nach 1995 Geborenen, also der Generation Z, im Vergleich zu älteren Altersgruppen deutlich verschlechtert hat, dass die Jüngeren sehr viel stärker unter Angststörungen, Schuldgefühlen und Depressionen leiden, allerdings nicht in gleichmäßiger Verteilung. Nach ihrer Selbsteinschätzung fühlen sich Linke unglücklicher als Moderate und Konservative, am unglücklichsten empfinden sich junge progressive Frauen. Die Ausbreitung des erwachten Denkens im Westen lässt sich durchaus als Revolution beschreiben. Und diese Revolution frisst gerade ihre Kindfrauen. Dieser Befund bildet das notwendige Gegenstück zu den Daten, nach denen junge westliche Frauen im Schnitt weiter nach links tendieren als gleichaltrige Männer. Sie befolgen offenbar Ratschläge, die sie zu unsicheren und neurotischen Menschen machen, ein Zustand, der sie perfekt darauf vorbereitet, mehr vom Gleichen zu schlucken. Manche tun das vermutlich auch noch in Zukunft.
Aber je enger sich das Netz der absurden Lebensanweisungen um sie spannt, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich selbst Lena-Sophies irgendwann dagegen wehren. Dass sie irgendwann den ganz großen Schnitt machen, TikTok und Instagram aufgeben, keine neuen Antirassismus-, Essens-, Degrowth- und andere Ermahnungswerke mehr kaufen und die alten in die Papiertonne befördern, den Deutschlandfunk abschalten und überhaupt auf alle Experten- und Influencer-Ratschläge zur achtsamenprogressivgerechten Existenz pfeifen, weil sie ab sofort nicht mehr zu den psychisch geschädigten Wohlgesinnten gehören wollen. Für diesen Detox brauchen sie weder teure Shakes noch Ratgeber. Sie staunen wahrscheinlich, wie viel besser sie sich plötzlich fühlen, seit der Schuld- und Entsagungskrempel ihren Kopf nicht mehr vermüllt.
Kurzum, sie werden das, was dieser Text zum allerersten Mal als den wirklich großen und wichtigen kommenden Trend unter mitteljungen westlichen Frauen und auch Männern ankündigt: woke sober. Endlich weg von dem Unglücksprogramm. Sie genießen die Wärme und den Geruch, wenn all die Schuldscheine, die sie sich selbst auf Empfehlung ausgestellt hatten, packenweise ins Feuer fliegen. Darin liegt nämlich im Gegensatz zur herkömmlichen Schuldscheinverbrennung in früheren Zeiten das schöne Gefühl, sich selbst befreit zu haben.
Befreit von einer Bewegung, die es nicht nur mit Yogakolonialismus und phallischen Hochhäusern völlig ernst meint, sondern auch mit ihrer immer engeren Verbindung zum Islam, in dem wiederum einige Vertreter es völlig ernst meinen mit ihren Ansichten über Frauen.
Egal, ob sich nun die Wokisten selbst ins Zeug legen, um ausgerechnet ihre wichtigste Fellowtraveller-Gruppe zu vergrätzen, oder ob subversive Gegner der Erleuchteten heimlich daran arbeiten, indem sie die entsprechenden Botschaften einschmuggeln – sobald die Erwachten die jungen urbanen Frauen verlieren, geht es mit dem Einfluss der Bewegung wieder steil nach unten.
Und wenn generell der Nachwuchs aus der nächsten Generation ausbleibt, vollzieht sich der Abstieg noch ein bisschen schneller. Vermutlich schaffen es nur die Erwachten selbst, ihren riesigen Macht- und Einflusskomplex wirklich effizient zu demolieren. Er verschwindet dann vermutlich nicht ganz, schrumpft aber zu einem kleinen und sehr unschönen Rest zusammen, von dem sich gerade die meisten jüngeren, für die Ausstrahlung und eine gewisse Coolness viel zählen, dann ganz von allein fernhalten. Der kommende Roman zu dieser Entwicklung könnte beispielsweise den Titel tragen: Und Lucas floh den Regenbogen. Wie eine Resterampe nach Abzug der Unterstützer später mutmaßlich aussieht, davon vermittelt dieses Video über die Gründung einer Revolutionären Kommunistischen Internationale, kurz RKI, schon einmal eine lebhafte Vorstellung.
Die Endstufe des Wokismus um das Jahr 2030 weicht in Details von dieser Darbietung vermutlich etwas ab. Ästhetisch wird sie sich nur wenig unterscheiden.
Zum letzten Aufgebot möchten die meisten Lena-Sophies vermutlich nicht gehören. Ihre Freunde, die sie dann wieder ohne Angst vor toxischer Männlichkeit haben, noch viel weniger. Den schicken Begriff für ihre kommende Abwendung vom sektenähnlichen Leben haben Sie zuerst in diesem Text gelesen.