Tichys Einblick
Undemokratisch

Wogegen demonstrieren eigentlich Politiker?

Der Bürger demonstriert, um mehr Teilhabe an Macht und Gesellschaft zu erhalten. Was aber wollen Politiker, wenn sie demonstrieren? Mehr Macht und Einfluss, als ihnen demokratisch zusteht?!

Odd Andersen/AFP/Getty Images

Ich weiß«, sagte Leo, »aber jetzt will ich den.« – Sein Auftreten war so entspannt wie nachdrücklich.

»Leo, ich habe dich im Laden viermal gefragt, ob du wirklich den Joghurt möchtest, und du hast gesagt, dass du den Joghurt möchtest.«

Leo wollte nun den Pudding seiner Schwester, und kein Hinweis auf die Tatsache, dass er sich doch selbst den Joghurt ausgesucht hatte, konnte ihn davon abbringen.

»Aber Leo«, argumentierte ich, »das sind doch die einfachsten Regeln! Jeder bekommt den Nachtisch, den er sich selbst ausgesucht hat.«

»Ich weiß«, wiederholte Leo, seine Stimme extra langsam, wie man mit einem Welpen spricht, und legte mir eine Hand auf den Arm, »ich weiß, Papa, und ich will den anderen.«

Ich nehme vielleicht in Kauf, hierin paranoid zu wirken, doch kann es eventuell sein, dass Herr Leo zur Überzeugung gelangt sein könnte, die allgemeinen Regeln funktionierenden Zusammenlebens würden nicht für ihn gelten?

Auf ewig (darauf) bestehen

In London waren gestern hunderttausende Menschen auf der Straße; sie sagten, dass sie demonstrierten. (Über die merkwürdigen NGOs gerade hinter Londoner Demonstrationen habe ich bereits im Oktober 2018 geschrieben: Ich glaube den meisten Großdemos heute nicht.)

Es hieß, dass für ein »zweites Referendum« demonstriert wurde (siehe etwa tagesschau.de, 23.3.2019). In ehrlicherem Deutsch: Die NGOs und Politiker hinter den Protesten wollen so lange über den Brexit abstimmen lassen, bis endlich das Ergebnis zustande kommt, dass sich die NGOs wünschen – und dann werden sie auf ewig darauf bestehen.

»NGO« steht ausbuchstabiert für »Non Governmental Organisation« – also eine nicht demokratisch legitimierte Organisation; im Kontext dieser Demonstrationen steht es für wie aus dem Nichts auftauchende Lobbygruppen mit auffallend tiefen Taschen und einigem Propaganda-Knowhow.

Wenn Politiker an der Seite von NGOs demonstrieren (@SadiqKhan, 23.2.2019) oder eine solche Demonstration loben (@PeterAltmaier, 23.3.2019), könnte man sich als Demokrat durchaus wünschen, dass sie uns ihre Absichten etwas genauer erklären.

Gehört werden

Wenn die ersten Menschen ein Mammut töten wollten, mussten sie sich koordinieren, sprich: Einer musste sagen, wo es langgeht. Wenn einer die Richtung vorgibt, wird man noch immer möglicherweise scheitern, wenn aber keiner die Richtung vorgibt, wird man sicherlich scheitern.

Wir Menschen brauchen jemanden, der über uns herrscht, nicht nur psychologisch, sondern auch ganz praktisch (sprich: es hat evolutionäre Vorteile, sich nach einem Herrscher zu sehnen).

Aus dem Bedarf und Wunsch nach Herrschaft ergibt sich die erste Frage: Wie sollen wir bestimmen, wer über uns herrscht?

Ist der Herrscher erst eingesetzt und mit Macht ausgestattet, fragen sich die einzelnen Beherrschten sehr bald, unter anderem: Wie sorge ich dafür, dass der Herrscher meine Sichtweisen und Wünsche zumindest berücksichtigt?

In der Zeit der Fürsten und Könige empfingen die Herrscher täglich diverse Bittsteller und Abgesandte, heute haben wir eigentlich die Demokratie, welche via Wahlen und Ortsterminen sicherstellt, dass der Politiker die Wünsche der Beherrschten kennt und berücksichtigt – doch auch heute kann es nicht schaden, sich mal mit Politikern auf ein Frühstück zu treffen.

Nicht vollständig bedient

Die Demokratie, wörtlich die Herrschaft des Staatsvolkes, ist unsere bislang beste Antwort auf die Frage, wer herrschen soll, und wie wir dafür sorgen, dass jene unsere Sicht der Dinge berücksichtigen.

Der Demokratie-Begriff der Griechen war noch recht exklusiv; als Staatsvolk galten männliche Grundbesitzer.

Mit den Griechen ging auch die Demokratie, bis 1215 in England der revoltierende Adel dem englischen König die Magna Carta aufzwang, die auch den König unter das Gesetz stellte, und jedem Freien wurde das Recht auf einen fairen Prozess zugesprochen (also: nicht den vielen Unfreien) – beides hat sich zum heutigen Rechtsstaat weiterentwickelt.

Eine Demokratie ist von Natur aus unvollkommen. Die teils komplizierten Wege demokratischer Entscheidungsfindung sollen sicherstellen, dass alle Interessen berücksichtigt wurden (nicht: »vollständig bedient«), dass den allgemein akzeptierten Werten und Grundrechten nicht allzu großer Schaden zugefügt wird, dass das allgemeine Gerechtigkeitsgefühl und Grundvertrauen nicht allzu sehr beschädigt wird – und dass bei alldem dennoch das fragile System nicht in und auf sich selbst kollabiert.

Sich Gehör verschaffen

Was sollen Bürger tun, die sich ungerecht behandelt fühlen, die eine Gefahr sehen, die jedoch keine Chance dafür sehen, dass dieses Anliegen im regulären demokratischen Prozess vertreten wird?

Wenn Bürger das Gefühl haben, dass ihre Perspektive nicht genug Berücksichtigung findet bei den Entscheidungsprozessen der Macht, können und werden sie in allen Herrschaftsformen etwas Ähnliches tun: Ob in der Demokratie oder in der Monarchie, im Sozialismus oder im Gottesstaat, die Demonstration ist der bewährte Weg, sich Gehör zu verschaffen, an den etablierten Wegen der Meinungs- und Entscheidungsfindung vorbei.

Gefährliche Gewinner

Ein Bürger, der demonstriert, sagt darin aus: »Ich vertraue den aktuellen Wegen der Entscheidungsfindung unserer Herrscher nicht; durch Lautstärke und zivilen Ungehorsam will ich erzwingen, dass meine Perspektive berücksichtig wird.«

Ein Bürger, der in der Demokratie demonstriert – was aus gutem Grund ein Grundrecht ist! – drückt darin aus, dass er die sonstigen demokratischen Wege der politischen Entscheidungsfindung nicht für geeignet hält, und sie in seinem Sinne umbiegen möchte.

Von der Macht gehört zu werden bedeutet, an der Macht teilzuhaben, bedeutet auch: selbst Macht zu haben. Wenn ein LKW-Fahrer in gelber Weste oder die sprichwörtliche Krankenschwester demonstrieren, drücken sie damit aus: »Ich will mehr Macht oder zumindest Berücksichtigung haben, als die aktuelle Demokratie mir zugesteht!«

Was sagt es aber aus, wenn regierende oder zumindest prominent etablierte Politiker an Demonstrationen teilnehmen? Genau dasselbe: »Ich will mehr Macht oder zumindest Berücksichtigung haben, als die aktuelle Demokratie mir zugesteht.«

Wenn eine unterdrückte Minderheit mehr Teilhabe an der politischen Entscheidungsfindung fordert – und damit an der Macht, dann ist das etwas ganz anderes, als wenn ein regierender oder etablierter Politiker dasselbe verlangt.

Der demonstrierende Bürger fordert mehr Macht, als ihm aktuell zugestanden wird – der demonstrierende Politiker fordert mehr Macht, als ihm aktuell zusteht.

Von der Politik motivierte Demonstrationen kennt man aus Diktaturen (siehe auch »5 Mark und Bratwurst – wenn das System zur Demonstration ruft«), und es ist logisch: Wer bereits über demokratisch legitimierte Macht verfügt, doch weiter mehr Macht fordert, als die Demokratie ihm zugestehen darf, der zielt in der Richtung auf absolute, unkontrollierte Macht, selbst wenn es ihm nicht bewusst ist.

Konservative demonstrieren nicht

Man fragt sich manchmal, warum in Deutschland die Konservativen und Liberalen so selten demonstrieren, und wenn sie es doch tun, warum nur so halbherzig.

Ich wage diese These: Die Konservativen und Liberalen vertrauen den Wegen der Demokratie. Linksgrüne dagegen sind geradezu gezwungen zu demonstrieren, da ihre Ideen im regulären politischen Prozess aufgrund offensichtlicher Absurdität herausgefischt würden (und weil demonstrieren weit einfacher ist als zu verhandeln und Kompromisse zu suchen).

Manche Konservative und Liberale fragen sich inzwischen, ob sie in ihrem Vertrauen auf die Wege der rechtsstaatlichen Demokratie nicht falsch liegen. Merkels offene Grenzen waren nicht die Folge demokratischer Entscheidungsfindung, sondern waren von tagesaktuellen Stimmungs-Umfragen und öffentlicher Hurra-Hysterie begleitet – das Ergebnis ist »eine Großstadt, die jährlich zu uns kommt« (welt.de, 24.3.2019). Braucht es eine konservative Version von Greta, damit die Konservativen demonstrieren gehen?

Mein Pudding, dein Pudding

Herr Sohn beharrte darauf, den Pudding statt des Joghurts zum Nachtisch zu wollen. – Was sollte ich tun?

Man muss wissen, auch ich hatte einen Pudding. Ich bot ihm meinen Pudding an und begnügte mich mit dem Joghurt. Wer weiß, vielleicht hatte er die ganze Zeit darauf gezielt, doch nicht direkt zu fragen gewagt – sie sind ganz schön verschlagen, diese Blagen!

Demokratie ist kein Kindergarten, auch wenn sich derzeit auffällig viele Kinder zu Wort melden – einige der Kinder stehen kurz vorm Rentenalter, andere sollten tatsächlich lieber in der Schule sitzen und noch etwas lernen. In der Demokratie geht es um mehr als Joghurt, in der Demokratie kann und wird es übel enden, wenn man lässig »dann nimm halt meinen Pudding« sagt.

Rätselhafte NGOs spannen Politiker ein. Erschreckend viele Menschen im Westen demonstrieren offen gegen demokratische Entscheidungen und damit de facto gegen die Demokratie.

Es wird allmählich Zeit, für die Demokratie zu demonstrieren. Dieses Jahr bietet sich immer wieder dazu Gelegenheit – in der Wahlkabine. Ich habe nichts dagegen, Plakate zu malen – ich habe es früher selbst getan – doch die wichtigste Demonstration und der wirksamste Protest ist noch immer das Kreuz auf dem Wahlzettel.

In der Wahlkabine lässt sich ganz ausgezeichnet protestieren, zum Beispiel gegen protestierende Politiker.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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