„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – von dieser wohl bekanntesten frühromantischen Botschaft, mit der Friedrich Hölderlin im Jahr 1803 mit seiner Hymne unter dem Titel Patmos seinen Landsleuten Mut machen wollte, dürften sich wohl die führenden Politiker der Union bestätigt fühlen, wenn sie die Umfragen zu den derzeitigen Wahlabsichten der Bundesbürger lesen. Forsa berichtet inzwischen von 39 Prozent der Wahlberechtigten, die im Moment die Union wählen würden, wären am kommenden Sonntag Bundestagswahlen. Noch im Februar lagen die Umfrageergebnisse bei rund 25 Prozent. Gleichzeitig verlieren, gemessen an den damaligen Umfragen, vor allem die Grünen deutlich an Zustimmung und liegen laut Forsa mit etwa 15 Prozent wieder gleichauf mit der SPD. Verluste haben aber mit zehn Prozent auch die AfD und mit fünf Prozent die FDP zu verkraften. Allein die Linke bewegt sich weitgehend in ihrer gewohnten Bandbreite zwischen sieben und neun Prozent.
Anders als in der Hymne Höderlins wuchs im Falle der Union das Rettende indes nicht in Gestalt von Gott selbst, sondern in Gestalt eines neuen Virus, der sich weltbreit verbreitet und so inzwischen auch Deutschland in Mitleidenschaft gezogen hat. Religiöse Verschwörungstheoretiker mögen mutmaßen, Gott habe das Virus geschickt, um die Union, die in ihrem Namen ja immerhin das Wort „Christlich“ führt, höchstpersönlich zu retten. Diese Theorie scheint aber etwas weit hergeholt und scheitert als Erklärung daher wohl aus. Naheliegender ist da schon die Vermutung, das eher gottlose Schicksal habe es mit der Union gut gemeint und ihr in Gestalt von Covid-19 eine unverhoffte Gelegenheit verschafft, ihre politischen Kompetenzen wieder unter Beweis zu stellen. An ihnen sind in den letzten Jahren in breiten Bevölkerungsschichten immer mehr Zweifel gewachsen, sei es zum Beispiel aufgrund eines recht laschen Umgangs mit der Verletzung der Maastricht-Kriterien seitens der Euro-Länder, sei es aufgrund des ebenso laschen Umgangs mit dem Grundgesetz und den Dublin-Regeln auf dem Gebiet von Asyl und Migration oder sei es aufgrund einer verfehlten Energiewende.
Davon kann angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse dank Covid-19 und der unter der Federführung der Union und ihrer Kanzlerin praktizierten Corona-Politik keine Rede mehr sein. Auch wenn zurecht kritisiert werden kann, dass die Bundesregierung die Gefahren einer Pandemie zunächst gar nicht auf ihrem Radar hatte und selbst bei ihrem Beginn in China die Gefahren für Deutschland unterschätzte, ist es ihr mit ihren erst seit Mitte März vorsichtig begonnenen, dann schrittweise verschärften Schutz-Maßnahmen gelungen, die befürchtete Überforderung des Gesundheitssystems mit Zuständen wie beispielsweise in Norditalien, Spanien, im Elsass, in Großbritannien oder auch in New York bislang zu vermeiden. Die Bevölkerung dankt ihr dies derzeit mit Zustimmungsraten, von denen die beiden Koalitionspartner trotz Mietpreisbremse, Grundrente, Streichung des Solidaritätszuschlags und anderer Maßnahmen, die breiten Wählerschichten zugutekommen sollen, nur träumen konnten.
Im Ausnahmezustand des Jahres 2015 betrieb die Regierung zweifelsfrei eine aktive Schutzpolitik. Ihr ging es dabei aber nicht um den Schutz der eigenen Bürger, sondern von ausländischen „Schutzsuchenden“, wie die Zuwanderer inzwischen nicht nur von der Asyllobby, sondern auch regierungsamtlich genannt werden. Die Interessen und Befürchtungen in der einheimischen Bevölkerung, ein zu großer Zustrom von unqualifizierten Zuwanderern könne das Land überfordern und nachhaltig beschädigen, wurden seitens der Regierung im Vergleich zu den Interessen der Zuwanderer als nachrangig erklärt und im Verein mit den Medien als fremdenfeindlich und rechtsextremistisch gebrandmarkt. Große Teile der Bevölkerung sahen sich deswegen von der Regierung nicht nur verunglimpft, sondern auch nicht ausreichend vor einer ungebremsten Massenzuwanderung geschützt, die mit erheblichen Kosten und möglichen Nachteilen für sie auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten einhergeht. Was von der Regierung als moralisch gebotene Schutzpolitik inszeniert war, empfanden zahlreiche Bürger als Bedrohung. Sie entzogen den drei Regierungsparteien deswegen ihr Vertrauen, was sich in den folgenden Landtagswahlen und der Bundestagswahl 2017 in deren deutlich verschlechterten Wahlergebnissen niederschlug.
Der SPD ist mit dem Arbeitsministerium und dem Finanzministerium zeitgleich die Rolle zugefallen, den Lockdown für die Bürger und die Unternehmen finanziell abzufedern und die entsprechenden staatlichen Gelder dafür bereitzustellen. Interessanterweise hat dies der SPD bislang gegenüber den Umfrageergebnissen des letzten Jahres nur ein Zustimmungsplus von wenigen Prozentpunkten eingebracht, während die Union sich über mehr als zehn Prozentpunkte freuen kann. Offenkundig belohnen die Wähler die ihrer persönlichen Gesundheit dienenden Schutzmaßnahmen mehr als die zu ihrer finanziellen Absicherung ergriffenen Maßnahmen. Sie ahnen oder wissen wohl, dass das Versprechen einer weitreichenden finanziellen Absicherung während eines wirtschaftlichen Lockdowns zwar leicht zu geben ist, jedoch durch Schulden finanziert werden muss und sie deswegen am Ende viel kosten kann. Da liegt es nahe, den regierungsamtlichen Schuldenmachern nicht zu viel politischen Kredit einzuräumen.
Den von Forsa-Chef Manfred Güllner vor einigen Monaten betitelten „schwarz-grünen Block“ im deutschen Parteiensystem hat die Corona-Pandemie also nicht aus dem Spiel genommen, dafür aber die Kräfteverhältnisse innerhalb dieses Blocks wieder kräftig zugunsten der Union verschoben, nachdem Markus Söder Anfang des Jahres noch vor einer grün-schwarzen Koalition gewarnt hat. Den Grünen hat Covid-19 ihre „Unique Selling Proposition“ (USP) in Gestalt der Klimakrise vorerst geraubt, die sie mit Hilfe von Greta Thunberg und Fridays for Future im letzten Jahr zu einem echten Verkaufsschlager machen konnten. Darauf waren sie nicht vorbereitet und mussten gleichzeitig weitgehend tatenlos mit ansehen, wie sich ihre Vorstellungen von „No Border, No Nation“ und transnationaler politischer Steuerung aufgrund eines Virusses innerhalb weniger Wochen nicht nur durch Grenzschließungen weitgehend in Luft auflösten. Plötzlich sahen auch sie sich praktisch genötigt, einer Politik des Schutzes der einheimischen Bevölkerung und nicht mehr einer Politik der Zuwanderung von ausländischen „Schutzsuchenden“ Vorrang einzuräumen.
Die von der Union praktizierte Politik zum Schutz der einheimischen Bevölkerung vor gesundheitlichen Gefahren hat laut den Umfragen allerdings nicht nur die Grünen, sondern auch die AfD Stimmen gekostet. Die damit einhergehenden Verluste fallen allerdings nicht nur absolut, sondern auch relativ deutlich geringer aus. Dies mag auf den ersten Blick erstaunen, ist doch auch die „Unique Selling Proposition“ (USP) der AfD durch Covid-19 stark ins Hintertreffen geraten, und sind doch gerade AfD-Wähler Verfechter einer Schutzpolitik für die einheimische Bevölkerung, wie sie die Union nun erstmals seit 2015 wieder stärker praktiziert. Bedenkt man jedoch die ursprüngliche Herkunft der AfD, die auf die Finanzkrise der Jahre 2008 bis 2010 und die daraus resultierende EURO-Krise der Jahre 2011 bis 2015 zurückgeht, dann ist es recht naheliegend, wenn ein Großteil der AfD-Wähler nicht wieder zur Union wechseln will. Von ihr weiß man im Moment nicht, ob sie innerhalb der EU nicht erneut weitere Schritte in Richtung einer Politik des lockeren Geldes und der Vergemeinschaftung von Schulden mittragen wird, wie sie vor allem Frankreich, Italien und Spanien fordern. Es ist nicht auszuschließen, dass wir auf einen weiteren, dieses Mal wirtschaftlichen Ausnahmezustand zusteuern, ausgelöst zum Beispiel von der faktischen Zahlungsunfähigkeit Italiens. Er wird den Streit über wirtschafts- und finanzpolitische Fragen nicht nur innerhalb der EU, sondern auch in Deutschland immens befeuern. Ein Umstand, der nicht nur der AfD, sondern auch der FDP wieder Auftrieb geben könnte, soweit sie es verstehen werden, ihn für sich zu nutzen und das Thema Wirtschaft und Finanzen nicht der Union überlassen.
Als einigermaßen sicher kann wohl gelten, dass bis zur nächsten Bundestagswahl das Thema Klimawandel selbst dann nicht erneut die Bedeutung erhalten wird wie vor Corona, wenn auch dieser Sommer wieder heißer ausfallen sollte als frühere. Deutschland wird nicht nur in diesem Jahr, sondern auch im kommenden vorrangig mit der Bewältigung der schon beginnenden schweren Wirtschafts- und Finanzkrise beschäftigt sein. Da treten Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes notgedrungen eher in den Hintergrund. Deutlich ungewisser ist hingegen, ob neben der Wirtschafts- und Finanzkrise nicht die Asyl- und Migrationskrise erneut die politische Agenda bestimmen wird, zieht man in Betracht, dass nicht nur im Nahen Osten diesbezüglich weiterhin eine Zeitbombe tickt, die jederzeit explodieren kann und Deutschland erneut direkt treffen würde.
Der aktuelle Umfrage-Höhenflug der Union kann sich vor diesem Hintergrund schnell als ein ähnlicher Hype erweisen wie der Höhenflug der SPD nach der Wahl von Martin Schulz zum neuen Parteivorsitzenden oder der Höhenflug der Grünen nach dem plötzlichen medialen Auftauchen von Greta Thunberg, je nachdem, wie sie auf die sich anbahnenden Probleme und Krisen reagieren wird. Die Corona-Pandemie ist in Deutschland nicht nur hinsichtlich ihrer gesundheitlichen, sondern noch mehr ihrer wirtschaftlichen Folgen alles andere als überwunden. Die vom Lockdown in den wichtigsten Industrienationen dieser Welt verursachte wirtschaftliche und finanzielle Krise steht erst am Beginn und wird die politischen Parteien schon bald nicht mehr nur mit der Frage konfrontieren, wie die Bürger vor einer Infektion und tödlichen Erkrankungen, sondern wie europäische Unternehmen und Länder vor dem Bankrott zu schützen sind, ohne mittels der Druckerpresse der EZB in Siebenmeilenstiefeln auf eine Währungsreform zuzusteuern. Sollte darüber hinaus der Migrationsdruck Richtung Deutschland wieder zunehmen, stünde die Union zudem vor der Frage, wie sie angesichts einer steigendenden Staatsverschuldung und steigender Arbeitslosigkeit weiterhin ihre Politik der Arbeitsmigration mittels des Asylwegs gegenüber den Bürgern rechtfertigen will.