Ein Blick in die Geschichte der CDU zeigt, dass sie nicht von Anfang an die Partei der Sozialen Marktwirtschaft war, sondern es erst nach harten innerparteilichen Auseinandersetzungen wurde. Im Ahlener Programm, das die CDU in der britischen Besatzungszone am 3. Februar 1947 unter dem Motto „CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus“ beschlossen hat, heißt es: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden… Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“
In der CDU gab es unter dem Stichwort „christlicher Sozialismus“ immer ein Faible für eine Gemeinwirtschaft. Mit dem Ahlener Programm wäre das Wirtschaftswunder ausgeblieben. Schließlich setzten sich Ludwig Erhard und die Ordoliberalen mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft durch. Doch das deutsche Erfolgsmodell soll nun unter dem Stichwort „Große Transformation“ durch eine rotgrüne Kommandowirtschaft ersetzt werden. Da man das Attribut „christlich“ inzwischen getreu einer neuen Heilslehre durch den Begriff „klimaneutral“ austauschen kann, stünde einer Vereinigung der Grünen auch mit der CDU nichts mehr im Wege.
Doch bleiben wir bei der inhaltlich entkernten CDU. Die Wahlniederlage wird deshalb in weit schwärzeren Farben gemalt, als man es bei Lichte besehen eigentlich müsste, weil es nicht um das knappe Prozent geht, mit dem die Union hinter der SPD liegt, sondern um den Machtverlust. Es geht um Macht, um Posten, um Einkommen. Diejenigen, die den Schlamassel angerichtet haben, rufen nun nach schonungsloser Aufarbeitung der Wahlniederlage. Es ginge um die Positionierung der Partei – und um die geht es tatsächlich.
Leute wie Peter Altmaier, wie Paul Ziemiak, wie Daniel Günther rufen nun nach Reformen, wollen das arme, zurückgebliebene Deutschland modernisieren, als würden sie nicht das arme zurückgebliebene Deutschland seit Jahren regieren. Hat Peter Altmaier schon vergessen, dass er noch Bundeswirtschaftsminister ist, Ralph Brinkhaus, dass er der größten Fraktion im Deutschen Bundestag vorsteht, Daniel Günther Ministerpräsident und Paul Ziemiak Generalsekretär der Regierungspartei ist, die den Bundeskanzler stellt? Sie klingen – oh Wunder – plötzlich wie Oppositionspolitiker. Doch die christdemokratische Moderne nach der Postmoderne kann nur eine reaktionäre Wendung ins Linksliberale, die De-Industrialisierung nach der Industrialisierung, das Wirtschaftsinferno nach dem Wirtschaftswunder, das Elend nach dem Wohlstand sein.
Die CDU kann sich dann zwar noch liberal nennen, ist es aber nicht mehr. Wird die CDU im linken Lager heimisch, dann bringt sie einen Prozess zum Abschluss, der zur Bildung eines Parteien-Blocks links von der Mitte führt. Unterschiede, die mit der Lupe zu suchen sind, sind im Politischen keine mehr.
Mitte-rechts-Positionen würden nicht mehr repräsentiert. Durch die Übernahme linksliberaler und linker Positionen, durch die Verortung im linksliberalen Spektrum wird es dann der CDU zukommen – welch Ironie der Geschichte –, tatsächlich und faktisch die AfD zur Alternative in Deutschland zu machen, weil schlicht keine andere politische Vertretung von politischen und gesellschaftlichen Themen rechts von links mehr existierte. Die Quittung dafür würde die CDU zunächst bei den anstehenden Wahlen im Osten erhalten. Und mittelfristig nicht nur im Osten. Die Probleme im Osten sind nur „Avantgarde-Probleme“, sie werden auch den Westen erreichen, wenn die wirtschaftliche Stabilität, die Energiesicherheit und der Wohlstand nachgeben.
Theoretisch ergeben sich aus diesem Szenario zwei Möglichkeiten: Entweder wird die AfD weitgehend unabhängig von ihrem Programm mittelfristig gestärkt und zunächst im Osten stärkste Kraft werden, oder die CDU zerfällt. Zerfällt die CDU, werden politische Kräfte frei, die derzeit noch durch die Parteidisziplin gebunden sind. Aus der Meuthen-AfD und aus Politikern der CDU könnte eine neue Partei entstehen, eine Partei der Mitte, die die große Repräsentationslücke, die sich zwischen der Merkel-CDU und der Höcke-AfD auftut, schließt.
Zweitens will Paul Ziemiak sich um Ostdeutschland kümmern und einen Ostgipfel veranstalten. So wie man sich in Ungarn, in Polen, in Tschechien über den dekadenten Westen ärgert, der immer noch glaubt, die Völker, die die Demokratie und die Freiheit erkämpft haben, von oben herab als „neue EU-Mitglieder“ bevormunden zu können, so müssen sich die Ostdeutschen in puncto Demokratie nicht von einer West-CDU belehren lassen.
Was wollen Paul Ziemiak und Daniel Günther und Tobias Hans den Ostdeutschen denn erklären? Wie toll es mit der Partei der Linken, wie toll es mit der Planwirtschaft ist? Es war nicht der Westen, der den Osten befreit hat. Aber der Westen hat königlich verdient an der Selbstbefreiung des Ostens. Dem CDU-Establishment ist dringend zu empfehlen, sich die Erfahrung des Ostens bezüglich Planwirtschaft und ideologischer Bevormundung anzuhören. Wobei man nicht dem Irrtum verfallen sollte, dass Karriere-Politiker wie Marco Wanderwitz oder Carsten Körber für den Osten sprächen.
Aufhorchen lässt drittens Ziemiaks Ankündigung, dass man sich von externen Experten beraten lassen möchte, die der CDU ferner stehen. Es darf daran erinnert werden, dass sich Angela Merkel vom Experten Matthias Jung beraten ließ. Jungs Strategie der asymmetrischen Demobilisierung führte im Ergebnis zum politischen Verfall der Union. Intellektuelle und Experten, die nicht links oder linksliberal sind, hat die CDU ohnehin in der Vergangenheit zunehmend gemieden. Sie weiter zu ignorieren, wäre also nichts Neues. Im Gegenteil, die CDU hat jegliche theoretische und intellektuelle Arbeit verachtet und keine konservativen Think-Tanks unterstützt. Nicht einmal die Konrad-Adenauer-Stiftung hat sie zum Think-Tank ausbauen lassen. Im Gegensatz unterstützt die CDU mittelbar linksliberale Think-Tanks oder NGOs – auch finanziell.
Wenn die CDU weiter linke und linksliberale „Experten“ – oder Linksliberale, die sich als Konservative ausgeben, um die wirklichen Konservativen als ganz Rechte auszumanövrieren – befragen möchte in der Hoffnung, die Transformation zu einer erfolgreichen linksliberalen oder grünen oder sozialistischen Partei zu meistern, muss sie das tun. Eine Partei, die sich den Aufgaben, die ihr von der Geschichte gestellt werden, verweigert, schafft sich selbst ab. Sie hat sich überlebt.
Einer Partei, die jahrelang den politischen Gegner unterstützt – auch finanziell –, wird in der Stunde der Not vor den verschlossenen Türen ihrer Freunde und den tauben Ohren ihrer früheren Wähler stehen. Irgendwann ist auch der letzte Vertrauensvorschuss, die letzte Sympathie aufgebraucht. Dann ist es Zeit für etwas Neues. Und das Neue wird dann auch kommen – so viel ist sicher. Noch hat die CDU die Wahl, doch ich fürchte, sie hat sie bereits getroffen.