Tichys Einblick
Wir sind selbst schuld

Wir Wunschträumer – Corona und der politische Idealismus

Die Anti-Corona-Politik von Merkel, Söder & Co. bedient den Wunsch nach einfachsten Lösungen. Das ist maximal populistisch – und ein Erbe des politischen Idealismus, von dem sich Deutschland einfach nicht lösen kann.

picture alliance / SvenSimon

„Das Wesen des Idealismus besteht darin, dass das Psychische zum Ausgangspunkt genommen wird; aus ihm wird die Natur abgeleitet – und dann erst aus der Natur das gewöhnliche menschliche Bewusstsein.“
(Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus,1908)

Am Anfang steht ein Rollentausch.

Stellen Sie sich kurz vor, Sie wären Autor. Bitte, nur ganz kurz. Dann wird Ihnen sofort einleuchten: Wenn Sie mit dem Schreiben Ihren Lebensunterhalt verdienen wollen und es nicht nur als Hobby machen, werden Sie auf Ihr Publikum achten – so wie jeder Hersteller von irgendwas auf seine Kunden achten muss, wenn er im Geschäft bleiben will. Dazu gibt es ein paar Grundregeln. Für Autoren lautet eine wichtige (überprüft und validiert in 25 Berufsjahren): Verärgere nicht Dein Publikum.

Trotzdem werde ich gleich vermutlich genau das machen. Und Sie als Autor werden verstehen, warum.

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„Das Virus aufhalten“: Das ist das Ziel von Angela Merkels Anti-Corona-Politik – die Leitidee, seitdem die Bundesregierung nicht mehr auf Beschwichtigung setzt (also etwa seit März 2020).

Unumstritten war der Ansatz nie. Vor allem Epidemiologen wiesen schon recht früh darauf hin, dass eine Pandemie im klassischen Sinn nicht „aufhört“.

„Die Pandemie wird nicht verschwinden, wenn der Impfstoff zur Verfügung steht. Sie wird dann zu Ende gehen, wenn das Virus alle Menschen gefunden hat“.

Das erklärt schon seit Monaten geduldig, ja geradezu gebetsmühlenartig der Epidemiologe Klaus Stöhr allen, die ihm zuhören wollen. Der Mann weiß, wovon er spricht: Er war Leiter des weltweiten Influenza-Programms der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Im Bundeskanzleramt wollte man ihm nicht zuhören – und will es bis heute nicht. In der Regierungszentrale verlässt man sich seit knapp einem Jahr quasi exklusiv auf den Rat einer kleinen Gruppe um den Virologen Christian Drosten. Der verfolgte von Anfang an das Konzept, das Virus dadurch „zu stoppen“, dass es möglichst nicht weitergegeben wird.

Gegenmeinungen von anderen, auch hochkarätigen Wissenschaftlern nahm Kanzlerin Merkel schon sehr früh nicht mehr zur Kenntnis – etwa die von Hendrik Streeck, ebenfalls Virologe und als international führender HIV-Experte eine absolute Autorität. Die regierungsnahen Medien (also die öffentlich-rechtlichen und beinahe alle anderen) folgten und ignorierten Streeck, Stöhr und deren wissenschaftliche Mitstreiter weitgehend.

Gehört wurden und werden stattdessen Menschen wie Melanie Brinkmann. Die Virologin gehört zu dem kleinen – sehr kleinen – Beraterstab der Kanzlerin in Corona-Fragen. Und sie ist Aktivistin für „ZeroCovid“.

Zur Erinnerung: Im Manifest „ZeroCovid“ wird verlangt, durch „einen solidarischen europäischen Shutdown“ die Zahl der COVID-19-Infektionen „auf Null“ zu bringen. Anders: Wir sperren in der ganzen EU alles für ein paar Monate zu – Wirtschaftsbetriebe aller Art, öffentliche Verwaltungen, Schulen, Kindergärten. So lange, bis es keine, absolut keine Neuinfektionen mehr gibt: „Das Ziel heißt Null Infektionen.“

Man verfolgte – und verfolgt immer noch – also das einfache Ziel: Virus besiegen. Dazu griff man – und greift immer noch – zu den einfachen Mitteln: Lockdown extrem.

„Lockdown wie im Mittelalter. Wo man die Türen und Fenster der Pestkranken zunagelte.“
(Franz Josef Wagner, „Bild-Zeitung“ am 17. Januar 2021)

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Lassen Sie uns über einen klitzekleinen Umweg fahren. Es ist die landschaftlich schönere Strecke, versprochen.

Bildmedien sind dazu übergegangen, ihr Angebot mit Warnhinweisen zu versehen, wenn sie befürchten, die Fotos oder Videos könnten vielleicht einen Teil des Publikums verstören. Es gibt Fälle, in denen man das ganz gut verstehen kann: Bekennervideos islamistischer Terroristen etwa, in denen gezeigt wird, wie Fanatiker ihren Geiseln den Kopf abschneiden.

Das ist in der Tat verstörend (ich habe ein paar Jahre bei einer Nachrichtenagentur gearbeitet und kann das unmittelbar aus eigener Erfahrung bestätigen). Es ist ganz gut, wenn man darauf vorbereitet ist, so etwas zu sehen. Auch eine Enthauptung ist zwar eine Menschen-Handlung – aber eine seltene (heutzutage), und eine abartige dazu. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Menschheit wird jemals im richtigen Leben außerhalb des TV-Geräts oder des Internets mit einer solchen Barbarei konfrontiert. Das gehört nicht natürlicherweise zu unseren Lebenserfahrungen.

Nach und nach wurde der Bereich der Wirklichkeit, den man dem Publikum nur noch mit Warnhinweisen oder auch gar nicht mehr zumuten wollte, allerdings immer stärker ausgeweitet. Zu Beginn des Jugoslawien-Konflikts in den 1990er-Jahren zum Beispiel zeigte das deutsche Fernsehen den Schrecken des Krieges noch ungeschminkt: nicht nur zerstörte Häuser, sondern auch tote und durch Waffen verstümmelte Menschen.

Zehn Jahre später waren die Toten, Verstümmelten und schwer Verwundeten mindestens bildtechnisch verfremdet, sodass man sie kaum noch erkennen konnte. Mittlerweile sind sie praktisch ganz verschwunden. Begründet wird das immer mit „Verantwortung gegenüber dem Zuschauer“: Man wolle verhindern, dass das Publikum „traumatisiert“ werde.

Auf den ersten Blick wirkt das vernünftig – auf den zweiten nicht mehr unbedingt. Krieg ist grausam, aber er ist ein anthropologisches Grundmuster des Homo Sapiens (und seiner Vorfahren). Nur sehr wenige Menschen werden jemals mit einer Enthauptung konfrontiert, aber sehr viele Menschen mit Krieg. Außerdem kann man mit einiger Berechtigung argumentieren, dass gerade die Verantwortung für das Publikum es verbietet, Kriegsfolgen kosmetisch aufzuhübschen und dadurch den Menschen nur eine geschönte, ästhetisch leicht verdauliche Version der Wahrheit anzubieten. Verliert Krieg nicht seinen Schrecken, wenn man die Schrecken des Krieges nicht zeigt?

Doch die Weigerung, sich der Wirklichkeit zu stellen, wie sie ist – und nicht, wie man sie sich womöglich wünscht – hat längst neue Ausmaße erreicht. Vor kurzem verbreitete die internationale Videoagentur EBU einen Bericht aus Schweden über einheimische Jäger, die versuchen, die Wälder vor einer Überpopulation von Elchen zu schützen.

Dem Bericht war ein Warnhinweis vorangestellt: „Achtung, es werden tote Tiere gezeigt.“ Tote Tiere. Nicht tote Menschen. Nicht das Töten von Tieren. Einfach nur: tote Tiere, in freier Wildbahn legal bejagt.

Dass inzwischen auch die Darstellung eines völlig normalen, geradezu archetypisch natürlichen Vorgangs (schwedische Jäger erlegen Elche) mit einem Warnhinweis versehen wird, zeigt die wachsende Unfähigkeit eines wachsenden Teils des Publikums, mit der Welt so umzugehen, wie sie ist.

Das hat längst Schule gemacht: In manchen Zoos werden Wildtiere nur noch unter Ausschluss des Publikums gefüttert, weil Besucher sich ernsthaft darüber beschweren, dem Anblick eines Fleisch fressenden Löwen ausgesetzt zu sein. (Das ist auf so vielen Ebenen absurd, dass man allein darüber einen eigenen Text schreiben möchte.)

Dasselbe gilt für veganes Hunde- und Katzenfutter. Kein Witz, das gibt es wirklich – und es gibt Frauchen und Herrchen ein gutes Gefühl: Es lässt die von der Wirklichkeit enttäuschten Menschen vergessen, dass ihre Fellnasen von Natur aus Fleischfresser sind und im Garten sofort Mäuse, Vögel oder Eichhörnchen jagen (und töten), wenn man sie denn lässt.

Damit wären wir wieder bei Corona.

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Denn „ZeroCovid“ ist wie veganes Tierfutter.

Das Erschütternde daran ist, dass die Anti-Corona-Politik der Bundesregierung die Kernidee teilt – die Idee (besser: die Illusion), dass es darum gehe, „das Virus zu besiegen“.

„ZeroCovid“ entspringt dem Wunsch nach einfachen oder auch einfachsten Lösungen – und die Arbeitshypothese der Bundesregierung in der Anti-Corona-Politik bedient diesen Wunsch. Die Behauptung, auch für komplexe Probleme gebe es einfache Lösungen, ist ein Merkmal des Populismus.

Tatsächlich sind sowohl „ZeroCovid“ als auch die derzeitige Anti-Corona-Politik maximal populistisch.

Sie suggerieren die (nicht vorhandene) Möglichkeit von einfachen Lösungen. Sie erwecken die (surreale) Hoffnung darauf, dass man das Virus „besiegt“ – also, dass es sozusagen irgendwann einfach aufhört.

Das ist schon weit jenseits der Grenze zur Esoterik. Denn es geht nicht darum – konnte nie darum gehen – das Virus zu besiegen. Vielmehr geht es darum, mit dem Corona-Virus zu leben, so wie wir mit anderen Viren zu leben gelernt haben: AIDS oder Hepatitis, Grippe oder Masern, Herpes oder Röteln, Mumps oder Windpocken.

Das Virus ist wie das Internet: Es geht nicht mehr weg.

Für diese Einsicht aber müssten wir uns mit der Welt befassen, wie sie ist – und nicht, wie wir sie uns vielleicht wünschen. Wir brauchen nicht Idealismus, sondern Realismus (politisch und auch sonst).

Doch dazu sind wir in Deutschland offenbar nicht mehr in der Lage. Die Regierenden regieren nur mehr mithilfe von Zirkelschlüssen: Man hat eine politische Linie. Man lädt nur solche Berater ins Kanzleramt, die diese Linie stützen. Man erklärt dem Volk, die politische Linie werde ja durch die Berater gestützt.

Es ist nicht völlig klar, ob man damit vor allem das Volk täuschen will oder sich selbst, oder beides. Jedenfalls ist es der vollständige intellektuelle Offenbarungseid.

Und das Volk nickt, jedenfalls zum großen Teil.

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„Ich fürchte, unsere allzu sorgfältige Erziehung liefert uns Zwergobst.“
(Georg Christoph Lichtenberg, zugeschrieben)

Jetzt kommt der Teil, mit dem man möglicherweise das Publikum verärgert.

Denn wir sind selbst schuld: Schuld daran, dass der selbstmörderische politische Idealismus, der Deutschland (und den Rest der Welt) schon mal ruiniert hat, wie ein Untoter wieder die Macht über unser Land an sich reißt.

Wir sind selbst schuld: Weil wir es zugelassen haben, dass man sich bei den sogenannten Baby-Boomern (also grob bei den in den 1950er- bis 1970er-Jahren Geborenen) mehr darum kümmert, den maßgeblich von den Eltern erarbeiteten Wohlstand zu verfrühstücken – als darum, diesen Wohlstand durch Arbeit zu erhalten und vielleicht sogar zu mehren.

Wir sind selbst schuld: Weil wir es zugelassen haben, dass mit den sogenannten Millenials, (also grob mit den zwischen 1980 und 2000 Geborenen) eine Generation heranwächst, die die unteren Stufen der Bedürfnispyramide nicht mehr kennt; die Fühlen mit Denken verwechselt – und Wissenschaft mit Wahrheit; die bürgerlich nicht von rechtsextremistisch unterscheiden kann – und Wunsch nicht von Wirklichkeit.

Wir sind selbst schuld: Weil wir uns dem politischen Idealismus nicht genug entgegengestellt haben – nicht als Großeltern, nicht als Eltern, nicht als Geschwister, nicht als Kinder, nicht als Nachbarn, nicht als Bürger.

Sie als Autor werden verstehen, warum das einmal gesagt werden musste.

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