Wikipedia gehört heute zu den meist unterschätzten weil einflussreichsten Meinungsmachern. Bedenkt man, dass Politik und Journalismus dieser nach Selbstauskunft „freien Enzyklopädie“ auf erschreckende Weise unkritisch, in Ermangelung von Alternativen und auch aus großer Bequemlichkeit folgen, lohnt es, diesem „Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten“ einmal etwas genauer hinter die Fassade zu schauen, soweit das möglich ist.
Das folgende Bild, das sich daraus ergibt, ist gut belegbar; die Indizien sind vielfach vorhanden und dankenswerterweise im offenen System der Seite selbst angelegt. Jedenfalls bis zu dem Moment, wo man zweifelsfrei einen Kreis miteinander korrespondierender Personen mit Fantasienamen ausmachen will. Natürlich kann jeder mit etwas IT-Verständnis auch mehrere Profile anlegen, aber dadurch, dass bis zu einem bestimmten Punkt jeder im Wikipedia eingetragene Strich und Komma dokumentiert und nachlesbar bleibt, wird es multiplen Personen erschwert, sich ausschließlich mit sich selbst zu unterhalten.
Nun würde so eine zeitnahe Abbildung dem Sinn und Zweck von Wikipedia entsprechen, dann, wenn es sich um eine Dokumentation dieser erhöhten öffentlichen Wahrnehmung handeln würde. Aber das ist oftmals gar nicht der Fall. Vielmehr wird eine kritische Berichterstattung von bestimmten Wikipedia-Editoren zum Anlass genommen, möglichst diffamierende und diskreditierende Inhalte zu platzieren, unabhängig vom Wahrheitsgehalt. Längst ist im deutschen Wikipedia der wichtigste Grundsatz der Enzyklopädie für Artikel über bestimmte politische Themenfelder und Akteure über Bord geworfen worden, dann, wenn es da noch idealistisch heißt: „Beiträge sind so zu verfassen, dass sie dem Grundsatz des neutralen Standpunkts entsprechen.“
Erleichternd für die Arbeit der politisch motivierten anonymen Wikipedia-Autoren: Erst einmal muss sich jemand finden, der bereit ist, unwahre Einträge gegenüber missliebigen Portalen, Institutionen, Gruppen und Personen zu kritisieren bzw. zu löschen und neu aufzuschreiben. Findet sich so jemand tatsächlich, dann muss er seinen Protest bzw. seine Änderungen erst einmal durchsetzen können. Dafür benötigt er idealerweise eine langjährige Wikipedia-Autorenschaft mit entsprechender Schreibhäufigkeit und den damit zusammenhängenden Autorisierungen. Denn Wikipedia vergibt Rechte an prädestinierte Personen nach bestimmten Kriterien. So kann man beispielsweise „passiver Sichter“, „Sichter“ oder sogar „Administrator“ werden.
Zwar gibt es eine Reihe von Kontrollmechanismen, die Vandalismus ausschließen helfen, es gibt Relevanzkriterien und Löschdiskussionen, dennoch braucht es lediglich eine entschlossene kleinere Gruppe, diese Mechanismen weitestgehend außer Kraft zu setzen; wenn Personen hinter den Avataren nach ihren Wünschen darüber urteilen, was nun Vandalismus, was Relevanz usw. ist und was entsprechend sanktioniert wird.
Machen wir es am Beispiel fest: Als Tichys Einblick jüngst mit einem kritischen Artikel und einer Unterlassungsklage in die Schlagzeilen geriet, stieg mit nur kurzer zeitlicher Verzögerung auch die Aktivität in der Edition der Wikipedia-Artikel „Tichys Einblick“ und auf der Seite mindestens auch eines der TE-Autoren. Allerdings nicht ausschließlich bezogen auf den aktuellen Fall, der eventuell eine enzyklopädische Relevanz hätte haben können. Nein, die Aktivitäten richteten sich insbesondere gegen bereits bestehende und hinreichend diskutierte (jeder Artikel hat eine ihm zugeordnete Diskussionsseite) ältere Absätze des Artikels.
Absätze, die neu zu verhandeln den politischen Editoren offensichtlich neu am Herzen lag. Quasi aufgeweckt durch die aktuelle Kritik der Versuch in ihrem Fahrwasser Diffamierung und Diskreditierung zu erneuern und Passagen des bestehenden Artikels zum Nachteil des Dargestellten umzuschreiben oder vermeintlich zu positive Editionen gleich ganz zu löschen.
Wenn sich nur eine bestimmte Anzahl (fünf Schreiber mit gleicher politischer Ausrichtung, die miteinander korrespondieren, reichen hier bereits aus, Kritik an der Arbeit dieser Gruppe immer erfolgreicher abzuwehren) Wikipedia-Autoren mit ausreichender hierarchischer Autorität (bestenfalls ein Admin dabei) zusammenfinden, ist ihre Arbeit unangreifbar.
Wenn sich jemand zu intensiv mit den politischen motivierten Editionen befasst, gibt es eine Reihe bewährter Methoden, sich dieses Kritikers zu entledigen. Der erste Autor erhebt den Vorwurf, etwas sei unberechtigterweise geschrieben worden. Der so Angegriffene setzt sich zur Wehr. Seine Argumente werden aber auf den Diskussionsseiten diffamiert, er wird „unrechtsmäßig“ verwarnt, ihm wird gedroht, ihn für einen bestimmten Zeitraum zu sperren oder er wird gleich gesperrt oder sein Profil ganz gelöscht.
Auch für diese Sanktionsmaßnahmen braucht es nur eine kleine Zelle, die sich darüber einig ist, wie man vorgeht. Absprachen benötigt es dafür kaum. Zwar gibt es auch im Wikipedia Schiedstellen und Beschwerdemöglichkeiten, aber die Verfahren sind so kompliziert, dass es schon einer kundigen Person als eine Art Anwalt bedürfte, um hier entsprechend erfolgreich gegen Diffamierungen vorgehen zu können.
Kommen wir wieder zum praktischen Beispiel am Artikel Tichys Einblick zurück und zu neuerlichen Änderungen und Löschaktionen am Artikel, nachdem TE in anderer Sache mediale Aufmerksamkeit bekommen hatte. Zunächst bedarf es keiner besonders aufwendigen Recherche, um auch hier eine kleine Gruppe von Autoren zu identifizieren, die übrigens häufiger an den gleichen Artikeln arbeiten und die jeder für sich in den Kommentaren auf den Diskussionsseiten aus ihrer politischen Haltung keinen Hehl machen. Entsprechend dann auch die selektive Auswahl der Artikel, die gemeinsam bearbeitet werden. Dort findet man zusammen, ohne dass einer rufen müsste.
Ein typisches Beispiel auf so einer Diskussionsseite sieht dann so aus:
„Wenn Du Deinen POV per EW versuchst durchzusetzen, wirst Du Dich auf VM wiederfinden. Frag meinetwegen 3M an, aber lass die weißwaschenden Löschungen ohne Konsens.“ Hier also eine Reihe von Kürzeln („EW“ steht hier z.B. für Edit-War, „VM“ für Vandalismus-Meldung) , die ein tiefer gehendes Wissen der Wikipedia-Regeln voraussetzt.
Hier war es das Ziel eines Autors, einen Teil der Diffamierungen im Artikel „Tichys Einblick“ zu entfernen und neutraler zu ersetzen. Explizit ging es hier um die Bezeichnung „rechtspopulistisch“ für das Portal. Hier passiert etwas Interessantes: Es reicht völlig aus, wenn beispielsweise ein Magazin wie Meedia in irgendeinem Meinungsartikel behauptet dieser oder jener sei „rechtspopulistisch“, dann gilt diese Behauptung als belegt und kann so im Wikipedia abgebildet werden. Gedeckt wird das damit, dass nur eine bestimmte Anzahl von Leitmedien als relevant eingestuft werden. Nicht erwähnt werden muss hier, welche Medien in die engere Wahl kommen.
Der anonyme Autor beurteilt also zunächst einmal die Gegenrede von Tichys Einblick als „Falschdarstellung“ und geht noch weiter, in dem er „Tichys Einblick“ selbst als nicht relevant einstuft. Das Portal darf also auf Wikipedia beliebig von als relevant anerkannten Medien diskreditiert und verunglimpft werden, aber der Widerspruch in eigener Sache gilt dann als irrelevant bzw. „fehlender Sekundärbeleg“.
Beispiele für diese Vorgehensweisen gibt es jede Menge, man muss sich nur tief genug eingraben in die Dokumentation hinter den Wikipedia-Artikeln. Wer mehr darüber wissen will, dem sei empfohlen, sich irgendeinen Artikel mit Bezug zu den politischen Themen der Gegenwart auszuwählen und sich in die dazugehörige Diskussionsseite einzulesen bzw. vergleichend mit anderen entsprechenden Artikel darauf zu achten, welche identischen Avatare da immer wieder im Rudel auftauchen. Wer noch tiefer einsteigt, wer sich ein stückweit mit dem komplizierten Dickicht des Regelwerkes von Wikipedia auseinandersetzt, der kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Wie eingangs erwähnt, ist dieses Wikipedia tatsächlich einer der meist unterschätzten und einflussreichsten Meinungsmacher. Wer es darauf anlegt, mit vergleichsweise minimalem Aufwand politischen Einfluss auszuüben, indem er die Inhalte der Themen der Gegenwart setzt bzw. mitbestimmt und den Blick auf bestimmte politischen Akteure der Debatten nach Belieben einfärben kann, der hat ein besonders einflussreiches Machtinstrument in der Hand.
Nun ist das allerdings keine Einbahnstraße. Jeder Akteur jeder politischen Richtung kann hier aktiv werden und sich einarbeiten, wenn er die entsprechenden finanziellen Mittel zur Verfügung hat, ein paar zuverlässige und verschwiegene Autoren längerfristig zu beschäftigen. Und wenn es dafür keine Fördergelder beispielsweise aus dem „Demokratie leben“-Topf des Familienministeriums gibt, dann macht man es eben aus Idealismus.
Tatsächlich hat der Kampf um die Meinungshoheit auf Wikipedia noch gar nicht begonnen. Auf wohl keinem Feld sind die politischen Machtverhältnisse so krass im Missverhältnis: Um das festzustellen, reicht ein Blick in einen beliebigen Wikipedia-Artikel über regierungskritische Personen, Institutionen oder Medien.