Tichys Einblick
Trauma Hartz IV

Wieso die SPD in die Katastrophe Bürgergeld schlittert

Das Bürgergeld ist die Katastrophe, die von der Ampel in Erinnerung bleiben wird. Erklären lässt diese sich nur mit dem Trauma, das die SPD nach den Hartz-Gesetzen durchlitten hat. Durch ihr Beharren bereitet die Partei ihr nächstes Trauma vor.

picture alliance / dts-Agentur | -

Das Glück ist eine launig Geliebte. Sie verlässt einen, wenn Mann sich ihr am sichersten ist. So wie die SPD. Die war 2002 noch einmal davongekommen. Lange sah es so aus, als ob Rot-Grün die Wahl gegen Schwarz-Gelb klar verlieren würde. Selbst noch am Wahlabend feierte sich Union-Kandidat Edmund Stoiber (CSU) als Sieger. Doch den Sozialdemokraten gelang der späte Triumph. Es sollte für 19 Jahre der letzte auf Bundesebene bleiben.

Die Flut ist als Ursache für den Erfolg in Erinnerung geblieben. Auch Gerd Schröders entschiedenes Nein zu einer deutschen Beteiligung am Krieg George W. Bushs im Irak. Was heute vergessen ist: Einer der Momente, mit denen Schröder die Wahl noch einmal kippte, waren die Hartz-Gesetze. Die hatte er schon im Wahlkampf von 2002 angekündigt. Sozialdemokraten in Politik und Medien feierten sie da noch enthusiastisch. Die Hartz-Gesetze sollten der Staubsauger werden, mit dem Rot-Grün den Mehltau beseitigt, der sich nach 16 Jahren Helmut Kohl (CDU) über das Land gelegt hatte. Sie sollten den „Ruck durch Deutschland“ bringen, den Bundespräsident Roman Herzog (CDU) eingefordert hatte.

Es ist alles andere als ein Zufall, dass dieser Teil des sozialdemokratischen Wahlerfolgs von 2002 heute vergessen ist. Die Genossen haben ihn verdrängt. Ebenso wie die Journalisten, die das Tamtam um das Theater geliefert haben. Ein typischer Mechanismus nach einer psychischen Belastung. Denn nachdem die Hartz-Gesetze tatsächlich umgesetzt waren, wurden sie zum Trauma für die SPD und ihre befreundeten Journalisten. Zu Unrecht. Aber danach fragen Traumata nicht.

Die Grundidee der Hartz-Gesetze war richtig: Die soziale Hängematte sollte nicht so bequem sein, dass sie der Arbeitswelt vorzuziehen ist. Auch zeigten die Hartz-Gesetze Erfolge: Es gelang, brach liegende Arbeitskräfte zu mobilisieren. Der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands nach der Bankenkrise von 2008 wäre ohne diese Gesetze nicht denkbar gewesen.

Allerdings wiesen die Gesetze auch handwerkliche Fehler auf. Grundsätzliche: Wer nie am Arbeitsleben teilgenommen hatte und wer auch nicht beabsichtigte, je an diesem Leben teilzunehmen, der fand im Hartz-System immer noch Wege, sich in der sozialen Hängematte auszuruhen. Die Auflagen und Sanktionen trafen stattdessen vor allem die, die schon ein anständiges Berufsleben hinter sich hatten und nun – oft unverschuldet – in Arbeitslosigkeit geraten waren.

Anderer Fehler: die Leiharbeit. Die entfristeten SPD und Grüne. In grenzenloser Naivität gingen sie davon aus, dass Firmen die Leiharbeit nur nutzen würden, um kurzfristige Auftragsspitzen abzuarbeiten. Nie würden sie dieses Instrument missbrauchen, um Mitarbeiter dauerhaft in prekäre Arbeitsverhältnisse zu zwingen. Aber genau das passierte. SPD-Chef Franz Müntefering wetterte über Heuschrecken, die sich so verhalten würden. Aber es waren auch Unternehmen im Teilbesitz der SPD, die genauso vorgingen: Die Frankfurter Rundschau zum Beispiel ließ den Pressedienst Frankfurt gründen, dessen Zweck es war, FR-Mitarbeiter zu Dumpinglöhnen zu verpflichten, um sie dann an die FR wieder dauerhaft zu verleihen. Die Frankfurter Rundschau zeigt gerne mit elf Fingern auf miese Kapitalisten – war aber dank der Hartz-Gesetze selber einer.

Die SPD wusste von dem Missbrauch. Sozialdemokraten lamentierten auch über eben diesen Missbrauch. Aber sie stellten ihn nicht ab. Obwohl die SPD nach 2005 in 15 von 19 Jahren an der Bundesregierung beteiligt war, ließ sie diesen Missbrauch über ein Jahrzehnt lang zu. Gleichzeitig lamentierten die Sozialdemokraten darüber, wie unbeliebt die Hartz-Gesetze die SPD machen. Etwa unter den Dauerleiharbeitern der Frankfurter Rundschau. So entstehen Traumata: Wenn man sich dem Leid über sein Schicksal hingibt, statt das Schicksal an den Stellen zu ändern, an denen es sich ändern lässt.

Zum Beleg für die Sozialdemokraten, wie schlimm die Hartz-Gesetze für sie waren, wurden die Wahlergebnisse von 2005 bis 2017. Die waren auch schlecht. Aber wer genau hinschaute, erkannte, dass das nicht an den Hartz-Gesetzen lag. Doch das wollten die Sozialdemokraten nicht. Es war für sie bequemer, über die Gesetze zu lamentieren und denen die Schuld an ihren Niederlagen zu geben. Das bewahrte sie davor, über ihre eigene Schuld an den Niederlagen nachzudenken. Verdrängung. Der sicherste Weg zum Trauma.

Gerd Schröder holte 2005 noch 34,3 Prozent. Das war zwar ein Absturz. Aber einerseits hatte der Bundeskanzler wenige Wochen vorher öffentlich eingeräumt, dass er mit seiner Regierung am Ende sei. Und andererseits war Schröder eine Aufholjagd gelungen. Ihm fehlte nur etwas Zeit und er hätte Angela Merkel (CDU) wohl noch geschlagen. Hätte, hätte, Fahrradkette. Danach folgten: 23,03 Prozent, 25,74 Prozent, 20,5 Prozent und 25,74 Prozent für die SPD.

Für Sozialdemokraten steht es in Stein gemeißelt, dass einzig und allein die Hartz-Gesetze schuld daran seien, dass die Partei in den 20 Jahren danach weit von ihren alten Ergebnissen entfernt blieb. Doch das ist Quatsch. Für die sozialdemokratischen Niederlagen von 2009, 2014 und 2017 gibt es viele Gründe. Allen voran die Spitzenkandidaten: Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Martin Schulz. Über jeden dieser drei First-Class-Loser ließen sich ganze Romane des Versagens schreiben. Doch darum geht es nicht. Die SPD der Jahre 2005 bis 2021 war ein dysfunktionaler Haufen, deren desaströse Eliteauswahl nur die Kirsche auf der Versagenstorte war. Andrea Nahles, Hubertus Heil, Sigmar Gabriel oder Heiko Maas wären in diesem Kontext ebenfalls noch zu nennen.

Als Machtpolitiker ist Olaf Scholz durchaus schlau. Er hat früh die Lücke gesehen, die ihm überbewertete Grüne und eine Union im Post-Merkel-Chaos bieten würden. Und er hat 2021 diese Chance genutzt. Lustigerweise wurde er mit nur 25,74 Prozent Kanzler. Also exakt mit dem Ergebnis, das acht Jahre zuvor bei Steinbrück noch als Scheitern galt. Aber da war eben die Lücke, die Scholz erkannt und genutzt hatte.

Scholz ist ein schlauer Machtpolitiker. Der Kanzler wusste, dass mit Steinmeier, Heil oder Nahles noch viele in der Partei da waren, die zwischen 2005 und 2021 so massiv versagt hatten. Ihnen hätte Scholz die Lebenslüge genommen, dass die Hartz-Gesetze an ihren vielen schweren Niederlagen schuld waren – und nicht sie selbst. Also hätte er sich diese mächtigen Politiker zum Gegner gemacht. Demnach war es viel bequemer, den Schwarzen Peter bei den Hartz-Gesetzen zu lassen und denen den Kampf anzusagen.

Zu den Altmeistern des Scheiterns kam in der SPD die Generation Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal auf. Junge Politiker. Deren Qualifikation besteht aus Erfahrung im Plakatekleben und dem Besuch eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Mit oder ohne Abschluss. Ihre Vorstellung von Wirtschaft ist unterkomplex. Ein Modell, in dem die Langzeitarbeitslosen so viel Geld kriegen, dass sie reicher sind als die Menschen, die dieses Geld durch ihre Arbeit erwirtschaften, ist für sie kein Problem, sondern „soziale Gerechtigkeit“.

„Bye bye Hartz IV“ titelte die SPD-Fraktion im Bundestag 2022 auf ihrer Internetseite. als sie mit dem Bürgergeld ihr Trauma Hartz IV ablösten. Der Text ist ein einzigartiges Dokument für die Naivität, mit der Sozialdemokraten wirtschaftliche Fragen angehen. Der Text ist auch ein Beleg dafür, dass die SPD mit dem Bürgergeld das Hartz-Trauma überwunden glaubte. Die Genossen dachten, sie hätten den Grund für ihre Wahlniederlagen verloren. Dabei hatten sie nur den Sündenbock für ihre Niederlagen aufgegeben.

Warum das Bürgergeld ein Flop ist, darüber sind auf dieser Seite bereits viele Artikel geschrieben worden. Es werden noch viele Texte folgen über die negativen Auswirkungen, die das Bürgergeld mit sich bringen wird. Das ist an dieser Stelle nicht das Thema. Hier geht es um die Frage, warum die SPD den Weg des Bürgergelds unbeirrt weitergeht. Obwohl sich immer mehr Sozialdemokraten der Blick dafür öffnet, wohin dieser Weg führt.

Ohne den Anstieg im Bürgergeld käme der Bund dieses Jahr mit seinem Geld aus und hätte auch eine Chance, 2025 haushalten zu können. Doch die Ausgaben steigen. Auch weil die Städte und Gemeinden für Empfänger von Bürgergeld bereit sind, Mieten zu zahlen, die weit über dem Durchschnitt der jeweiligen Kommune liegen. Für die Arbeitnehmer, die das Bürgergeld finanzieren, steigen die Mieten dadurch ebenfalls – was Arbeiten für sie nochmal unattraktiver macht. Doch für die Generation Kevin „Call Center“ Kühnert ist das zu komplex. Ihr wirtschaftlicher Verstand reicht für die Parole: „mehr Geld für Langzeitarbeitslose gleich mehr soziale Gerechtigkeit“. Alles andere verstehen sie nicht.

Die Kosten fürs Bürgergeld steigen auch, weil die Zahl der Empfänger steigt. 4 Millionen Menschen liegen mittlerweile in der sozialen Hängematte, obwohl sie erwerbsfähig sind. In ihrem Text „Bye, bye, Hartz IV“ hatte die SPD-Fraktion noch geschrieben: „Mit dem Bürgergeld entfällt der Vermittlungsvorrang. Dieser hat oft dazu geführt, dass Arbeitslose für nur wenige Monate in Hilfsjobs vermittelt und in der Folge schnell wieder arbeitslos wurden.“ Der Gedanke war: Bisher hat nur der Druck des Job-Centers und der schlechte Ruf von Hartz IV unausgebildete, arbeitslose Lageristen davon abgehalten, als Atomphysiker oder Gehirnchirurg zu arbeiten.

Nun stellt sich der Realitätsschock ein. Wer zu faul für einen Schulabschluss war, wer zu faul für eine Lehre war und wer seit mehr als einem Jahr nicht mehr gearbeitet hat, der ist nicht bloß wegen des sozialen Drucks in der Arbeitslosigkeit geblieben. Dem hat nicht nur ein vier Wochen Kwik-Kurs gefehlt, indem er auf die Schnelle zum Architekten, Astronauten oder Anlageberater ausgebildet wird. Der war vielleicht immer schon einfach nur faul. Und er wird erst recht nicht arbeiten gehen, wenn man ihm fürs Nichtstun 25 Prozent mehr bezahlt als vorher und gegen ihn auch keine wirksamen Sanktionen mehr aussprechen kann.

Ein Satz war im letzten Absatz dieses Textes falsch: Der Realitätsschock stellt sich bei den Sozialdemokraten eben nicht ein. Sie weichen ihm aus. Manche mit Mühe, viele mit Erfolg. Sie unterdrücken die Folgen ihrer Politik: Mehr Geld für Langzeitarbeitslose ist mehr soziale Gerechtigkeit, lautet das Mantra. Punkt. Ausrufezeichen! Auge zu und Hand aufs Ohr. Wer etwas anderes behauptet, ist Nazi.

Verdrängung ist der sicherste Weg ins nächste Trauma. Die Sozialdemokraten haben 16 Jahre lang nicht verstanden, dass nicht die Hartz-Gesetze, sondern ihr Umgang damit ihr Problem war. Wie lange wird es erst dauern, bis Sozialdemokraten erkennen, dass Bürgergeld nicht mehr soziale Gerechtigkeit bringt, sondern ein Schlag ins Gesicht all derer ist, die mit ihrer harten Arbeit das Land am Laufen halten?

Klassische SPD-Wähler sind das im Übrigen. Oder genauer gesagt: Klassische Ex-SPD-Wähler. Je mehr sich das Bürgergeld in der Praxis auswirkt, desto heftiger werden die Niederlagen der Sozialdemokraten. In ihrer einstigen Hochburg Hessen hat der Wähler sie pulverisiert, in Bayern in Richtung Fünf-Prozent-Hürde geschoben und in Sachsen könnte die Partei erstmals an eben dieser scheitern. Verschärft wird diese Tendenz noch durch die Migration. Auch die ist ein anderes Thema. Trotzdem spielt sie im Zusammenhang mit dem Bürgergeld eine Rolle. Die Hälfte der erwerbsfähigen Empfänger ist Ausländer. Der Zuzug weiterer Ungelernter wird die Probleme verschärfen.

Ob das Bürgergeld auch zum Trauma für die SPD wird? Oder nur zum Grund für viele weitere Niederlagen? Wen interessiert’s. Sicher ist: So lange die Sozialdemokraten an einem System festhalten, das Langzeitarbeitslose besserstellt als Arbeitnehmer, so lange werden sie Wahlen verlieren. Irgendwann, wenn der Leidensdruck zu groß ist, werden die Sozialdemokraten sich selbst korrigieren. Oder sie werden von Wahlsiegern korrigiert werden. Den Beitrag „Bye, bye, Hartz IV“ muss die SPD dann irgendwann löschen. Und die Partei wird mehr eigene Jubelbeiträge über das Bürgergeld verdrängen müssen, als es für ihre psychische Gesundheit gut sein kann. Wenn das Glück sie verlassen hat, diese launige Geliebte.

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