Soeben ist eine überfällige Debatte entflammt – eine Debatte um die Wiederbelebung der ab 2011 ausgesetzten Wehrpflicht, ja gar eine Debatte um die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht. Die Sache als Sommerlochthema abzutun wird nicht gelingen, dazu ist sie zu brisant. Und auch der Hinweis, dass man hier doch nicht der AfD aufsitzen dürfe, wird die Debatte nicht verstummen lassen. Die AfD hatte nämlich in ihrem in Stuttgart am 30. April / 1. Mai 2016 verabschiedeten Grundsatzprogramm gefordert: „Wehrpflicht wieder einsetzen!“
Wer hat die Debatte aktuell losgetreten? Bezeichnenderweise sind es Vertreter der GroKo-Parteien – nicht sofort Spitzenleute, aber immerhin Leute aus der zweiten Garnitur. Patrick Sensburg zum Beispiel, CDU-Bundestagsabgeordneter aus dem Hochsauerlandkreis, sagte gegenüber der F.A.Z.: „Wir brauchen die Wehrpflicht, und sie soll für Männer und Frauen gelten.“ Ihm schwebt ein verpflichtendes Dienstjahr vor, das auch außerhalb der Bundeswehr abgeleistet werden könne. Sensburg argumentiert aber vor allem sicherheitspolitisch: Dazu bemüht er die russische Aggression in der Ostukraine, die unsichere Situation im Baltikum und die offenbar zunehmende Distanz der USA in NATO-Fragen. Der hessische CDU-MdB Oswin Veith, seines Zeichens Vorsitzender des Reservistenverbandes, plädiert für eine allgemeine Dienstpflicht von einem Jahr, die bei der Bundeswehr, beim THW, beim Roten Kreuz, in Krankenhäusern, in der Pflege usw. geleistet werden könne, aber zugleich ordentlich entlohnt werden müsse. Allgemeiner argumentiert sein Fraktionskollege Philipp Amthor aus Mecklenburg-Vorpommern. Für ihn ist ein solcher Dienst ein Beitrag für den Zusammenhalt der Gesellschaft und „Ausdruck pflichtbewusster Staatsbürgerlichkeit.“
Weitere prominente Befürworter meldeten sich soeben in der Bild am Sonntag (BamS) zu Wort. In einer gemeinsamen Erklärung forderten die Junge Union (JU) und die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Union (MIT) ein verpflichtendes „Gesellschaftsjahr“. JU-Vorsitzender Paul Ziemiak sagte: „Ein Gesellschaftsjahr gibt die Möglichkeit, etwas zurückzugeben und gleichzeitig den Zusammenhalt im Land zu stärken.“ MIT-Chef Carsten Linnemann, zugleich Fraktionsvize der Union im Bundestag, meinte. „Die Bindekräfte in der Gesellschaft erlahmen. Hält diese Entwicklung länger an, geht das an die Substanz unserer gesellschaftlichen Ordnung.“ Siehe hier.
„AKK“ legt sich ins Zeug
Besonders interessant in dieser Sache ist eine aktuelle Videobotschaft der CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer („AKK“). Nach ihrer Rückkehr von rund vierzig Veranstaltungen an der Parteibasis sagte sie: „Eines kann ich Ihnen versprechen: Über das Thema Wehrpflicht und Dienstpflicht werden wir noch mal intensiv diskutieren müssen.“ AKK möchte das Thema Ende 2018 auf dem CDU-Parteitag diskutiert wissen und zwei Jahre später bei der Verabschiedung eines neuen CDU-Grundsatzprogramms entschieden haben. Siehe hier.
Nicht allen aus der Koalition schmecken diese Wortmeldungen. Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels (SPD) hat verfassungsrechtliche Bedenken; für ihn kollidiert eine allgemeine Dienstpflicht mit dem Verbot von Zwangsarbeit. Henning Otte, der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, entgegnet: „Eine allgemeine Wehrpflicht alten Zuschnitts hilft uns bei den aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht weiter.“ Immerhin eine Einschränkung macht Otte in seiner Widerrede: „alten Zuschnitts“. Nun gut, man kann die Sache ja auch anders ausgestalten. Aber dazu später!
Einmal Guttenberg und zurück
Wie war es überhaupt so weit gekommen? Der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) hatte 2010 eine Defizitanalyse zur Lage der Bundeswehr in Auftrag gegeben. Eine Strukturkommission unter der Leitung des damaligen Chefs der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Wiese, sollte Ideen entwickeln, wie die Bundeswehr künftige sicherheitspolitische Herausforderungen bewältigen könne. Im Juni 2010 schlug der Baron dem Bundeskabinett vor, die Wehrpflicht auszusetzen, sie aber im Grundgesetz zu belassen. Dort heißt es nach wie vor in Artikel 12a: „Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.“
Vergleiche – innerdeutsch und europäisch
Und die längere Vorgeschichte? Eine Wehrpflicht gab es erstmals mit der Reichsgründung von 1871. Mit dem Versailler Friedensvertrag vom Mai 1919 wurde die Wehrpflicht abgeschafft. Unter Missachtung dieses Vertrages führte Hitler 1935 die allgemeine Wehrpflicht wieder ein. Eine Wehrpflicht gab es dann in der Bundesrepublik mit Gründung der Bundeswehr im Jahr 1956. Die Dauer des Pflichtdienstes variierte: Sie betrug von April 1957 bis März 1962: 12 Monate – April 1962 bis Juni 1962: 15 Monate – Juli 1962 bis Dezember 1972: 18 Monate – Januar 1973 bis September 1990: 15 Monate – Oktober 1990 bis Dezember 1995: 12 Monate – Januar 1996 bis Dezember 2001: 10 Monate – Januar 2002 bis Juni 2010: 9 Monate – Juli 2010 bis Juni 2011: 6 Monate.
Die DDR mit ihrer 1956 gegründeten Nationalen Volksarmee (NVA) hatte zunächst nur eine Freiwilligenarmee. Weil sich zu wenig Freiwillige meldeten und weil man nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 die NVA stärken wollte, wurde im Januar 1962 eine allgemeine Wehrpflicht mit 18 Monaten Pflichtdienst eingeführt. Ab 1964 war es möglich, den Dienst mit der Waffe zu verweigern.
Es wird politisch kein Spaziergang
Man kann die Wiederbelebung der Wehrpflicht nicht übers Knie brechen, und schon gar nicht kann man das mit der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht tun. Für letzteres bedarf es einer Änderung des Grundgesetzes und dafür wiederum einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Diese Mehrheiten sind derzeit (noch?) nicht in Sicht. Außerdem geht es um Größenordnungen von gut 700.000 wehr- oder dienstpflichtigen jungen Leuten pro Jahr. Männlein und Weiblein übrigens! Dafür müssten erst einmal die Kapazitäten geschaffen und die notwendigen Gelder bereitgestellt werden. Eine besonders große Hürde wird auch das (vermeintliche) Argument sein, Frauen würden ja mit der Geburt und Aufzucht von Kindern dem Gemeinwesen schon genug Lebenszeit schenken; da dürfe man ihnen nicht auch noch ein Jahr Pflichtdienst verpassen. Ein schwaches Argument übrigens, denn die Kinderzahl pro Frau hat sich in Deutschland auf 1,4 und bei Akademikerinnen auf 0,8 gesenkt. Zudem hat die statistische Durchschnittsfrau eine um fünf Jahre längere Lebenserwartung als der Durchschnittsmann.
Aber zurück zur Bundeswehr: Die Bundeswehr ist nicht überflüssig geworden. Allerdings haben sich weite Kreise der Bevölkerung mental von der Bundeswehr distanziert. Es hat ein recht naiver Pazifismus obsiegt. Zugleich ist das Vertrauen der Bundesbürger in die Bundeswehr geschwunden. Im Jahr 2011 hatten noch 53 Prozent der Befragten der Bundeswehr „sehr großes oder großes Vertrauen“ ausgesprochen, im Jahr 2018 sank der entsprechende Anteil auf 45 Prozent. Siehe hier.
Das sind alarmierende Entwicklungen, denen die Politik nicht nur mit einer reinen Charme-Offensive für die Bundeswehr begegnen kann. Vielmehr muss die Politik meinungsbildend pro Bundeswehr tätig werden, die Bundeswehr optimal ausstatten und eben auf eine Wiederbelebung der Wehrpflicht in Kombination mit einer allgemeinen Dienstpflicht hinarbeiten. Ein solcher Pflichtdienst ist wichtig für den Austausch zwischen Gesellschaft hier und Bundeswehr bzw. anderen Dienstleistern dort. Das heißt, die Dienstpflichtigen müssen sich ihrer eigenen Vorgeschichte entsprechend in den Dienst einbringen können, und sie müssen dort (siehe den früheren Leitspruch „Die Bundeswehr ist die Schule der Nation“) fachliche und personale Qualifikationen erwerben dürfen, die sie im späteren Berufsleben nutzbringend anwenden können.
Was einen obligatorischen Wehrdienst betrifft, so ist dieser auch ein Stück gesellschaftliche Kontrolle der Bundeswehr, weil er das Interesse der Öffentlichkeit, hier der Angehörigen der Soldaten, wachhält. Das ist in mindestens im gleichen Maße wichtig wie das praktische Anliegen, über Wehrpflichtige Längerdienende zu rekrutieren. Siehe dazu die Nachwuchsprobleme der Bundeswehr. Es bleibt jedenfalls die nicht nur rhetorisch gemeinte Frage: Warum sollen junge Leute, die ein Leben lang von den Investitionen ihres Staates in sie zehren, nicht selbst ein Jahr in diesen Staat und in dieses Gemeinwesen investieren?