„Bis zu ihrem höchsten Grade entwickelt ist die Selbstsucht, wenn, nachdem sie erst mit unbedeutender Ausnahme die Gesamtheit der Regierten ergriffen, sie von diesen aus sich auch der Regierenden bemächtigt, und deren alleiniger Lebenstrieb wird. Es entsteht einer solchen Regierung zuvörderst nach außen die Vernachlässigung aller Bande, durch welche ihre eigene Sicherheit an die Sicherheit anderer Staaten geknüpft ist, das Aufgeben des Ganzen, dessen Glied sie ist, lediglich darum, damit sie nicht aus ihrer trägen Ruhe aufgestört werde, und die traurige Täuschung der Selbstsucht, daß sie Frieden habe, so lange nur die eigenen Grenzen nicht angegriffen sind.“
Johann Gottlieb Fichte, Erste Rede an die deutsche Nation, 1807
Es war 1989 und mein damaliger Geschichtslehrer hatte Unrecht. Das wusste ich aber noch nicht, konnte ich auch nicht wissen, denn er redete über die Zukunft. Er war nach seiner Zeit als Bundeswehroffizier über die 68er-Bewegung mit dem Kommunismus in Berührung gekommen und hielt nicht viel davon. Eher von preußischen Tugenden und wilhelminischen Schnurrbärten und er beschäftigte uns ein ganzes halbes Jahr lang nur mit der Frage, was eine Nation sei. Fichtes erste drei Reden an selbige inklusive.
Nachdem er die Freude über den Fall der Mauer verarbeitet hatte, machte er sich Sorgen um die Welt. „Es ist nicht gut,“ sagte er „dass es nur noch die USA als einzige Weltmacht gibt.“ Die für ihn logische Konsequenz teilte er uns in einem seiner langen Monologe auch gleich mit: „Als nächstes werden sie sich gegen die islamische Welt wenden, denn nach dem Sieg über den Kommunismus sind das dort die Einzigen, die einer amerikanischen Weltordnung noch im Wege stehen.“
Eine amerikanische Weltordnung. Das gefiel ihm nicht, aber es schien ihm unvermeidbar. Was aber sollte diese neue amerikanische Weltordnung sein? Für die späteren Bush-Präsidenten war dies Freiheit und Demokratie für die ganze Welt, eine Pax Americana, zumindest in der Außenkommunikation. Für meinen damaligen Geschichtslehrer war das globale Ausbeutung unter amerikanischer Hegemonie, Verlust von Kulturen und Identitäten weltweit und eine entmenschlichte Gesellschaft, zumindest in seiner Innensicht.
Keine Pax Americana
Es ist 2016 und die Zukunft von damals ist Gegenwart. Sie sieht aber anders aus als vorhergesagt. Der Hegemon USA sieht sich im eigenen Land mit Millionen von Bürgern konfrontiert, die ihm Mangel an Freiheit und Demokratie vorwerfen. Anstelle des Kommunismus ist Nationalismus zum Bollwerk gegen amerikanische Dominanz geworden. Russland will zu alter Größe zurück, anstatt sich mit dem Ergebnis von 1989 zufrieden zu geben. China behauptet frech, dass Wohlstand ohne Freiheit und Demokratie besser machbar sei und erklärt autoritären Staaten weltweit wie es geht: Ihr müsst euch nur des amerikanischen Einflusses entledigen. NATO-Partner Türkei erklärt, dass es keine von den USA unterstützten Putschversuche mehr dulden will und fordert die Auslieferung des vermeintlichen Rädelsführers aus den USA.
Von einer Demokratisierung und Befreiung der islamischen Welt redet seit dem letzten Bush-Präsidenten in den USA keiner mehr. Im Gegenteil, die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung unterstütze in den Vorwahlen isolationistische Kandidaten, auch wenn wahrscheinlich von denen keiner am Ende Präsident werden wird. Präsident Obama ruft in seiner letzten großen Rede das amerikanische Jahrhundert aus. Es ist, als ob Barack Obama bei meinem damaligen Geschichtslehrer Unterricht gehabt hätte und immer noch an ihn glaubt.
2016 stelle ich mir nicht mehr die Frage, wie eine amerikanische Weltordnung aussieht. Ich würde meinen damaligen Geschichtslehrer fragen, wie eine Weltordnung ohne amerikanische Hegemonie aussehen würde. Dazu brauche ich aber eigentlich meinen Blick nur schweifen zu lassen. Überall erwacht ein nationales Bewusstsein. Türken sind besser als Kurden, Kurden besser als Türken. Chinesen sind die Krone der Schöpfung. In China. In Japan sind es die Japaner. Frankreich ist wieder die Grande Nation, weil auch Großbritannien wieder Great und vor allem Britannien, aber dafür vielleicht bald doch ohne Schottland ist. Nur in Deutschland reißt die Kanzlerin anderen die Deutschland-Fähnchen aus der Hand. Dafür schwenken die Türken umso größere Flaggen.
Eine Nation, das hat mir mein damaliger Geschichtslehrer beigebracht, ist an sich nichts schlechtes, das Problem ist nur die Definition, sie gelingt trotz vieler unterschiedlicher Versuche nicht über Sprache, Religion, Volk, Abstammung etc. Um uns das zu verdeutlichen mussten wir damals die Schweizer Nation definieren. Viel Spaß dabei. Am Ende gelingt es nur über den Willen oder über den Ausschluss anderer.
Um andere auszuschließen, braucht man ein starkes Militär. Sehen alle so, selbst Japan will deswegen die Nachkriegsverfassung ändern, weg von der reinen Verteidigungsarmee, hin zur global einsatzfähigen Streitmacht.
Die wiedererstarkenden Nationen werden dabei trotz aller Unkenrufe nicht zwingenderweise undemokratischer. Sie werden aber alle autoritärer, denn das Primat der Nation bedingt, dass das Wohl des Kollektivs der Nation über dem Wohl des Einzelnen steht. Hieraus speist sich die Autorität, nichts mehr in einer Gesellschaft aushandeln oder auf Minderheiten Rücksicht nehmen zu müssen.
Die amerikanische Weltordnung ist dem Nationalismus gewichen, aber nicht in direkter Konfrontation, sondern durch die Niederlage im Kampf gegen den Islamismus. Anstatt die islamische Welt zu befreien, hat sich die islamische Welt vom amerikanischen Einfluss befreit. Es fing im Iran an und setzte sich über den Irak und andernorts fort. Der Kampf findet überall noch statt. In Ägypten, wo die USA wieder Oberhand gewonnen haben und im Yemen und Afghanistan, wo sie gerade am Verlieren sind. Wie es in der Türkei ausgeht, muss man sehen. Es sind aber alles Abwehrkämpfe gegen einen expansiven Islamismus.
Die einzig verbliebende universelle Ideologie
Der politische Islam, und da hatte mein damaliger Geschichtslehrer Recht, ist die einzige verbliebene Ideologie mit globalem Anspruch. Es gibt ideologisch nichts mehr Vitales, was nach dem Kommunismus ein universelles Heilsversprechen mit einem weltweiten Herrschaftsanspruch verknüpfen würde. Hieraus schöpft der Islamismus seine intellektuelle und emotionale Anziehungskraft. Leider wird das in der Debatte über Herkunft und Motivation von Islamisten völlig vernachlässigt. Es ist eben nicht alles eine Folge von verkorkster Kindheit und Mobbing, im Gegenteil. Es ist auch viel jugendliche Sinnsuche.
Man muss dieser Ideologie daher auch geistig etwas entgegensetzen. Der Ruf nach einem Verbot oder „Plattmachen“ garantiert zwar Wahlsiege, wird aber keinen Sieg über die Ideologie bringen. Die USA haben es mit einer altbewährten imperial-römischen Strategie probiert, die die dortigen Eliten bereits in ihren Privatschulen von ihren Geschichtslehrern vermittelt bekommen, teile und herrsche. Diese Strategie ging aber immer weniger auf. Das letzte Scheitern erleben wir gerade in der Türkei, wo die AKP über die Gülen-Bewegung triumphiert. Beides islamische Wiedererweckungsbewegungen mit der selben Ideologie und in herzlicher Feindschaft miteinander über die Allianz mit den USA verbunden. Anstelle einer Spaltung der islamischen Bewegungen ist in der Türkei eine national-islamische Einheitsbewegung mit antiamerikanischer Ausrichtung entstanden. Die Volksmassen, die jetzt für die Türkei auf die Straßen gehen, erinnern an die antiamerikanischen Proteste, die im Iran den Weg für die dortige islamische Nation bereiteten und auch verschiedenste, ehemals feindliche Gruppierungen vereinten.
Wir haben es mit einer komplexen und teils widersprüchlichen Situation zu tun. In der islamischen Welt entstehen islamische Nationalstaaten, die einem gemeinsamen ideologischen Ideal huldigen. Es ist nicht unähnlich der Situation in Europa, als sich die Nationalstaaten nach der französischen Revolution alle im Geiste der Aufklärung bildeten. Hieraus entsteht eine große Verwerfung. Auf der einen Seite Nationalstaaten, die im Glauben an die Vernunft entstanden, auf der anderen Seite Nationalstaaten, die im Glauben an Gottes dogmatische Herrschaft entstehen. Gottes Herrschaft kann per Definition nicht begrenzt sein auf eine Nation oder dessen Territorium. Ein Staat, eine Nation, die sich über die Herrschaft Gottes in der Politik definiert, wird immer expansiv sein müssen, nicht notwendigerweise militärisch, aber kulturell. Während eine aufgeklärte Nation tolerant sein kann, kann eine Nation, deren Grundlage eine Religion ist, dies nicht, da sie trotz eventuell vorhandener Toleranz alle Lebensbereiche kulturell durchdringen und bestimmen wird. Das Problem wäre nicht vorhanden, wenn es nur einen religiösen Fürsten gäbe, der ein Staatsterritorium beherrscht, oder einen Diktator, das Problem ergibt sich aus der Kombination von Nation und Religion. Hieraus erklärt sich auch die expansive Kraft des ersten islamischen Staates, gegründet vom Propheten Muhammad, wenn man so will die eigentlich wirklich erste Willensnation auf dieser Welt, die eine Identität jenseits von Stammeszugehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einem Fürstentum definierte.
Vernunft oder Unterwerfung – wie gehabt
Wie löst man nun, die Probleme, die uns als Konsequenz erwarten und die wir mangels amerikanischer Allmacht künftig alleine in einer multipolaren Welt mit wechselnden Bündnissen und neuen Verwerfungen lösen müssen?
Mein Geschichtslehrer hatte mir das nicht beigebracht, aber ich vermute, dass er uns nicht ohne Grund Fichte lesen ließ. Fichte wusste, dass Frieden und Freiheit für die Menschen nur erreichbar wären, wenn es ein neues Selbst gäbe, das über die Nation hinausginge. Dieses neue Selbst war die Vernunft, zu der der Mensch über Bildung befähigt werden sollte. Ohne das übergeordnete neue Selbst führt Nationalismus in die Katastrophe.
Die islamische Nation hat eine andere Grundlage für Frieden und Freiheit der Menschen. Die islamische Ideologie fordert zwar auch ein neues Selbst, das über die Nation hinausgehen müsse, doch dieses Selbst ist die Unterwerfung vor Gott, zu der der Mensch über Glaubenserziehung befähigt werden soll.
Nun gibt es verschiedene Ansätze, diesen Konflikt zu lösen, z.B. einen gewaltsamen, d.h. so lange Kriege zu führen, bis entweder das neue Selbst weltweit nur die Vernunft oder nur die Unterwerfung vor Gott ist. Oder eine Trennung der Systeme. Eine neue eiserne Mauer und eine gegenseitige Abschreckungspolitik unter strikter und totaler Bekämpfung der jeweils anderen Gedankenwelt auf eigenem Territorium. Die dritte Lösung wäre, dass man die Idee der Nation aufgibt und zu einer neuen Weltordnung kommt, in der nur noch die individuellen Rechte obsiegen, für die z.B. die USA bei ihrer Gründung standen.
Wenn ich von 1989 bis jetzt etwas gelernt habe, dann dass nur wir selbst die Zukunft gestalten, in alle Richtungen. Suchen Sie sich deswegen eine der Lösungen aus. Vielleicht fällt Ihnen auch eine andere Lösung ein. Machen Sie dabei aber bitte Fichte und Ihren Geschichtslehrer stolz und nutzen Sie Ihre Vernunft. Überlassen Sie die platten Stammtischparolen verzweifelten Politikern, die unbedingt in den Bundestag wollen und dafür den Niedergang der eigenen Aufklärung in Kauf nehmen. Oder um es mit Johann Gottlieb Fichte zu sagen:
„Das Band der Furcht und der Hoffnung abgerechnet, beruht der Zusammenhang desjenigen Theils des Auslandes, mit dem wir dermalen in Berührung kommen, auf den Antrieben der Ehre und des Nationalruhms; aber die deutsche Klarheit hat vorlängst bis zur unerschütterlichen Ueberzeugung eingesehen, daß dieses leere Trugbilder sind, und daß keine Wunde, und keine Verstümmelung des Einzelnen durch den Ruhm der ganzen Nation geheilt wird.“