Tichys Einblick
Die islamische Welt in der Krise

Wie religiöser Fundamentalismus Freiheit und Wohlstand verhindert

Der Soziologe Ruud Koopmans zeigt in einer empirischen Studie, daß die Ursachen für die politische Unfreiheit und die wirtschaftliche Stagnation in den islamischen Ländern nicht im Westen, sondern im voranschreitenden religiösen Fundamentalismus in diesen Ländern selbst zu finden sind.

Tichys Einblick: Herr Koopmans, warum ein weiteres Buch über den Islam, nachdem gerade auch in Deutschland in den letzten Jahren zahlreiche Bücher dazu erschienen sind?

Ruud Koopmans: Ich habe mich als Migrations- und Integrationsforscher in den letzten Jahren zwangsläufig auch mit dem Islam auseinandergesetzt. Da kommt man um dieses Thema nicht herum, wenn man nach Faktoren sucht, die das Scheitern oder den Erfolg von Integration bei einzelnen Migranten und bei verschiedenen Migrantengruppen erklären. Dabei zeigte sich, daß kulturelle Faktoren, zu denen nicht zuletzt die Religion zählt, einen starken Einfluß auf zum Beispiel die Arbeitsmarktintegration haben. Ich habe dazu international vergleichende Studien durchgeführt, in denen sich immer wieder herausstellte, daß muslimische Migranten gegenüber anderen Migrantengruppen am schlechtesten abschneiden. Wenn man das dann genauer untersucht, sieht man, daß innerhalb der Gruppen der muslimischen Migranten wiederum die am wenigsten in die Arbeitsmärkte integriert sind, die eine fundamentalistische Glaubensauffassung vertreten. Hinzu kommt die politische Radikalisierung bis hin zum Terrorismus, die bei fundamentalistisch orientierten muslimischen Migranten in ganz Europa zu beobachten ist.

Wie werden diese Sachverhalte üblicherweise erklärt?

Sowohl in der Öffentlichkeit wie in der Wissenschaft ist die dominante Tendenz zu sagen, daß die Ursachen vor allem in den westlichen Einwanderungsgesellschaften zu finden sind und dort insbesondere mit Diskriminierung und Ausgrenzung zu tun haben. Meine Forschungen haben mir aber gezeigt, daß die Probleme der Muslime in den Einwanderungsländern und deren Ursachen vielfach dieselben sind wie die Probleme und deren Ursachen, die sie in ihren Herkunftsländern haben. So ist beispielsweise die geringe Arbeitsmarktpartizipation von muslimischen Frauen keineswegs etwas, was man nur in Europa beobachten kann. Wir sehen sie mindestens ebenso, häufig sogar noch stärker in ihren Herkunftsländern. Dasselbe gilt für die politische Radikalisierung und den Terrorismus von Muslimen, die in den islamischen Ländern viel weiterverbreitet sind als in den Einwanderungsländern. Das widerspricht offenkundig der auch in meiner Disziplin vorherrschenden Sichtweise, die Einwanderungsländer seien hauptsächlich an den Problemen ihrer muslimischen Migranten schuld.

Welche Schlußfolgerungen haben sie daraus gezogen?

Zum einen, dass man sich bei der Ursachenforschung noch mehr mit den islamischen Ländern selbst beschäftigen muß und zum zweiten, daß man als Sozialwissenschaftler dabei streng faktenbasiert-empirisch vorzugehen hat. Ich habe daher die Frage gestellt, ob es im Vergleich zwischen islamischen und nicht-islamischen Ländern Probleme gibt, die für die islamischen Länder spezifisch sind und was die Ursachen für diese Probleme sind. Dabei habe ich mehrere denkbare Faktoren unter die Lupe genommen, darunter auch die Religion.

Der erste Satz ihrer Studie lautet: „Dieses Buch ist islamkritisch, aber nicht islamfeindlich.“ Warum?

Wenn man sich als empirischer Sozialforscher kritisch mit Themen wie Migration, Integration, Radikalisierung und Islam beschäftigt, dann läuft man heute Gefahr, dass man das Etikett der Islamfeindlichkeit umgehängt bekommt. Man wird außerdem sehr schnell als Rechtsextremist abgestempelt oder zumindest als Wegbereiter von Rechtsextremisten, was ich alles auch schon selbst erlebt habe. Deswegen war es mir wichtig, dies voranzustellen. Hinzu kommt, daß es eine Variante der Auseinandersetzung mit dem Islam gibt, die die Probleme der Muslime in ihren Herkunftsländern und den Einwanderungsländern auf unabänderliche Gründe in der islamischen Religion und des Koran zurückführt und deswegen den Islam als solchen ablehnt. Dieser essentialistische Ansatz ist ebenso fruchtlos und empirisch nicht haltbar wie die Behauptung, die Probleme der Muslime in den islamischen wie auch in den nicht-islamischen Ländern hätten nichts mit dem Islam zu tun.

Worin besteht dann Ihr Ansatz?

In einer sozialwissenschaftlichen und nicht theologischen Ursachenforschung. Sowohl die Position, der Islam habe mit den Problemen der Muslime gar nichts zu tun, wie auch die Position, diese Probleme ergäben sich ebenso zwangsläufig wie unabänderlich aus dem Koran und den Hadithen, argumentieren nicht sozialwissenschaftlich auf der Grundlage empirischer Fakten, sondern auf der Grundlage einer religiösen Schrift. Das von Mohammed verfasste „heilige Buch“ ist für die Lebensumstände in den Ländern des „real existierenden Islam“ jedoch ebenso verantwortlich wie nicht-verantwortlich, wie das von Marx verfasste „Kapital“ für die Lebensumstände in den Ländern des ehemals „real existierenden Sozialismus“. Nicht die Bücher selbst machen die Geschichte, sondern allenfalls, was wir Menschen mit und aus diesen Büchern machen, wie wir sie interpretieren.

In Ihrem Buch geht es also nicht um Religionskritik, sondern um die Frage, welche Auswirkungen die sich ausbreitende fundamentalistische Interpretation des Islam auf das Leben der Muslime in ihren Herkunftsländern und den Einwanderungsländern hat. Durch welche Merkmale zeichnet sich der islamische Fundamentalismus aus?

Es handelt sich um eine Auffassung des Islam, die zurück will zu den Wurzeln, den Fundamenten dieses religiösen Glaubens zur Zeit seiner Entstehung im siebten Jahrhundert nach Christi. Daher auch das Wort Fundamentalismus, den es ja auch im Christentum gibt. Verfochten wird im Falle des Islam eine wortwörtliche Übernahme, Anwendung und Nachverfolgung der Regeln und Vorschriften des Koran und des in den Hadithen überlieferten Beispiels des Propheten Mohammed für die heutige Zeit. Und schließlich wird diesen religiösen Regeln und Vorschriften ein eindeutiger Vorrang gegenüber weltlichen Gesetzen eingeräumt. Angestrebt wird ein von der Religion und den daraus abgeleiteten Rechtsregeln gesteuertes und kontrolliertes privates wie auch öffentliches Leben.

Seit wann befindet sich der Fundamentalismus in der islamischen Welt auf dem Vormarsch?

Gemessen an der rund 1300 Jahre langen Geschichte des Islam handelt es sich um eine recht junge Erscheinung. Es geht um eine Reaktion auf den Zusammenbruch des osmanischen Reiches nach dem ersten Weltkrieg und die sich daran anschließende Zwangs-Modernisierung von Ländern wie zum Beispiel der Türkei unter Kemal Attatürk oder dem Iran unter Reza Pahlawi. Sie versuchten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, ihre Länder nach dem Vorbild der marktwirtschaftlichen Länder des Westens zu säkularisieren und wirtschaftlich zu entwickeln. Andere Länder, wie Ägypten unter Nasser versuchten das Gleiche mit Hilfe planwirtschaftlicher Ansätze nach dem Vorbild des Ostblocks zu bewerkstelligen.

Welcher Ansatz war der erfolgreichere?

Keiner von beiden. Nachdem der wirtschaftliche Rückstand vor allem gegenüber den industriell entwickelten Ländern des Westens nicht schwand, sondern sich noch weiter vergrößerte, formierte sich aus dem religiösen Milieu, das durch die Säkularisierung an Einfluß verloren hatte, allmählich Widerstand gegen die von oben verordnete und mit ausländischer Unterstützung vorangetriebene Zwangs-Modernisierung. Einzelne Islamgelehrte stellten die Frage, wie es sei kann, daß die islamischen Länder gegenüber den westlichen Ländern wirtschaftlich so ins Hintertreffen geraten sind, obwohl sie in der Frühzeit des Islam an der Spitze des wirtschaftlichen und auch wissenschaftlichen Fortschritts, etwa in der Medizin, standen. Ihre Anwort lautet, daß dies deswegen geschehen sei, weil die islamischen Länder sich von ihren religiösen Wurzeln entfernt hätten. Um wieder zu alter Größe zurückzufinden, müssten sie im Sinne eines „Back to the Roots“ wieder zu ihren religiösen Wurzeln zurückkehren.

Dann ist der islamische Fundamentalismus eine Antwort auf das Scheitern einer Zwangs-Modernisierung in der islamischen Welt nach dem Vorbild des Westens?

Ja, als eine solche Antwort ist er entstanden, zunächst aber nur von einer radikalen Minderheit vertreten worden. Nach den Niederlagen der islamischen Länder in den Kriegen mit Israel und mit der von Ayatollah Khomeini angeführten Revolution im Iran im Jahr 1979 wurde er in vielen islamischen Ländern aber zunehmend zur dominanten Antwort nicht nur im Klerus, sondern auch in breiten Bevölkerungsschichten.

Laut ihren Studien hat diese Antwort den meisten Bürgern in den islamischen Ländern bislang aber weder mehr Wohlstand noch mehr Freiheit gebracht. Worauf gründet dieses Ergebnis beim Thema Freiheit?

Methodisch auf einem systematischen Ländervergleich zwischen islamischen und nicht-islamischen Ländern. Dabei vergleiche ich zunächst zwei Länder, die sich ihrer Religion zwar voneinander unterscheiden, in anderen Aspekten aber sehr ähnlich sind. Beim Thema Demokratie und Freiheit sind das die islamischen Malediven und das nicht-islamische Mauritius. Zwei Inselstaaten im indischen Ozean, die beide ehemalige britische Kolonien waren und heute erheblich vom Tourismus abhängen. Während das nicht-islamische Mauritius seit seiner Unabhängigkeit demokratisch regiert wird, herrscht auf den islamischen Malediven seit langem eine Diktatur.

Reicht dies als wissenschaftlicher Beweis dafür, daß der Islam sich nicht mit Demokratie und Freiheit verträgt?

Natürlich nicht. Man muß vielmehr überprüfen, ob dieser Unterschied nur für diese beiden Länder oder allgemein gilt und welche Faktoren ihn ursächlich erklären. Beides habe ich in meiner Studie anhand eigener Untersuchungen und der Untersuchungsergebnisse anderer Studien getan und dabei festgestellt, daß die politischen Freiheiten in den nicht-islamischen Ländern in den zurückliegenden vier Dekaden deutlich zugenommen, in den islamischen Ländern aber gleichzeitig stagniert sind oder sogar abgenommen haben. Heute gibt es weltweit nur noch zwei islamische Demokratien, nämlich den Senegal und Tunesien, während es in den 1970er Jahren wenigstens noch vier waren. Das war zwar auch schon sehr wenig, es sind aber noch weniger geworden, während in den nicht-islamischen Ländern im gleichen Zeitraum aus zahlreichen Diktaturen stabile Demokratien geworden sind.

An welche Regionen dieser Welt denken Sie dabei?

An Europa mit Spanien, Portugal und Griechenland, ebenso aber auch an Lateinamerika und den pazifischen Raum oder die nicht-islamischen Teile Afrikas. Überall hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten starke Demokratisierungsschübe gegeben. Das gilt aber, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht für die jeweiligen islamischen Länder in diesen Regionen. Sie sind im selben Zeitraum insgesamt sogar undemokratischer geworden. Rund 57 Prozent der nicht-islamischen Länder sind heute demokratisch und nur 15 Prozent werden autoritär regiert. Gleichzeitig werden 53 Prozent der islamischen Länder autoritär regiert und nur magere vier Prozent sind demokratisch.

Was antworten Sie denjenigen, die diesen Befund zwar nicht bestreiten, die Ursachen dafür aber nicht in der Religion, sondern zum Beispiel im arabischen Einfluß auf die islamischen Länder, mangelnden Wohlstand dieser Länder, in der großen Abhängigkeit von Rohstoffen oder ihrer kolonialen Vergangenheit verorten?

Meine mit empirischen Daten unterlegten, multifaktoriellen Analysen zeigen, daß diese Faktoren in den islamischen Ländern, wenn überhaupt, nur einen geringen Einfluß auf deren politische Verfasstheit haben. Sie erklären nicht ursächlich die fehlende Demokratisierung in diesen Ländern im Vergleich zu den nicht-islamischen Ländern. Am überraschendsten sind dabei wahrscheinlich meine Befunde zum Faktor Kolonialismus.

Das sollten Sie etwas genauer ausführen.

Meine Analysen zeigen, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ein Land heute demokratisch regiert wird, in Ländern, in denen der Kolonialismus lange gedauert und eine einflußreiche Rolle gespielt hat, signifikant höher ist als in Ländern, in denen dies nicht der Fall war. Vor dem Hintergrund, daß viele islamische Länder nur kurze Zeit oder überhaupt nicht westlich kolonisiert waren, muß man daher sagen, daß es in diesen Ländern nicht ein Zuviel, sondern eher ein Zuwenig an westlicher Kolonisierung gewesen ist, das dazu beigetragen hat, daß die Demokratie dort eine so geringe Rolle spielt.

Spricht dies für einen möglichst langen und einflußreichen Kolonialismus im Interesse von Freiheit und Demokratie?

Nein, der Kolonialismus war natürlich für die kolonisierten Länder und die dort lebenden Menschen in vielerlei Hinsicht eine schlimme Sache. Und die Kolonien wurden von ihren Kolonialherren ja auch nicht demokratisch regiert, selbst wenn ihre eigenen Länder, wie etwa Großbritannien oder auch Frankreich, schon längst Demokratien waren. Gleichwohl sehen wir aber, daß die demokratische Tradition der kolonisierenden Länder auf die heutige politische Verfassung ihrer Kolonien nach deren Unabhängigkeit einen umso größeren Einfluß hatte, je länger die Kolonialherrschaft gedauert hat. Das ist ein Fakt, den man nicht negieren sollte, sondern zur Kenntnis nehmen muß.

Was den Niedergang der Demokratie in den islamischen Ländern im Vergleich zu den nicht-islamischen Ländern betrifft, spielen laut ihren Analysen also weder ökonomische Faktoren noch der Kolonialismus, sondern zum Beispiel die strikte Ablehnung einer Trennung von Staat und Kirche durch den fundamentalistischen Islam eine entscheidende Rolle. Gilt das auch für den wirtschaftlichen Niedergang vieler islamischer Länder, den sie in ihrem Buch beschreiben und wie untersuchen sie die diesbezüglichen Zusammenhänge?

In gleicher Weise wie den Niedergang der Demokratie. Ich nehme zunächst zwei Länder, in diesem Fall das islamische Ägypten und das nicht-islamische Südkorea, die sich in verschiedener Hinsicht gleichen, in der Religion aber voneinander unterscheiden. Während es Südkorea seit den 1970er Jahren geschafft hat, seine Wohlfahrtskluft gegenüber den westlichen Ländern zu schließen, sie in manchen Aspekten sogar zu überholen, ist diese Kluft, gemessen etwa am Pro-Kopf-Einkommen seiner Bürger, zwischen Ägypten und der westlichen Welt im selben Zeitraum nicht kleiner, sondern größer geworden. Dieses Muster zeigt sich nun wiederum nicht nur im Vergleich von Südkorea und Ägypten, sondern im Durchschnitt aller islamischen Länder im Vergleich zum Durchschnitt der nicht-islamischen Länder.

Im Vergleich zu den nicht-islamischen Ländern gibt es in den islamischen Ländern aber nicht nur arme, sondern auch sehr reiche Länder. Manche verfügen über ein Pro-Kopf-Einkommen, von dem die Menschen selbst in den reichsten nicht-islamischen Ländern nur träumen können.

Das stimmt. Die Streuung zwischen den islamischen Ländern in Hinblick auf ihren wirtschaftlichen Wohlstand ist weit größer als in Hinblick auf die ihren Bürgern gewährte politische Freiheit. Das hat vorrangig mit dem Vorhandensein und der Ausbeutung von Bodenschätzen, insbesondere der Öl- und Gasvorkommen zu tun. Aber auch die islamischen Ölstaaten haben es bisher nicht geschafft, ihre Wirtschaft so zu entwickeln, dass sie ohne das sprudelnde schwarze Gold im Stande wären den Wohlstand ihrer Bürger zu sichern.

Worauf ist die Wirtschaftsschwäche der islamischen Länder nun zurückzuführen?

Was hier eine wichtige Rolle spielt, ist die geringe Erwerbsquote von Frauen in den islamischen Ländern. Sie beträgt in den islamischen Ländern im Durchschnitt 41 Prozent gegenüber 57 Prozent in den nicht-muslimischen Ländern. In der Türkei liegt sie sogar bei nur 30 Prozent, in Ägypten bei 23 Prozent, im Iran bei 16 Prozent und in Syrien bei 12 Prozent. Wir wissen aus zahlreichen Studien, daß wirtschaftliches Wachstum auf der ganzen Welt ganz erheblich damit einhergeht, dass die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt zugenommen hat.

Ist eine steigende Erwerbsquote von Frauen nun aber Ursache oder Wirkung von Wirtschaftswachstum?

Das ist letztlich nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß beides sich gegenseitig bedingt und wirtschaftliches Wachstum durch eine geringe Erwerbstätigkeit von Frauen behindert oder sogar verhindert wird. Die Länder mit der geringsten Erwerbsquote von Frauen sind mehrheitlich die islamischen Länder. Das hat wiederum mit dem islamischen Fundamentalismus zu tun. Er vertritt ein patriarchalisches Familienkonzept, das eine Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben mindestens erschwert, in manchen Fällen sogar komplett ablehnt.

Ist dies der einzige, in der islamischen Lehre verankerte Grund, warum der wirtschaftliche Fortschritt in den islamischen Ländern so schlecht vorankommt? Welche Rolle spielen etwa das islamische Erbrecht oder das Zinsverbot?

Erbrecht und Zinsverbot haben in der Vergangenheit sicher bewirkt, daß sich in den islamischen Ländern kein auf Akkumulation und Wachstum ausgerichteter industrieller Kapitalismus wie in Europa entwickelt hat. Zum Teil behindern sie dort den wirtschaftlichen Fortschritt vermutlich auch noch heute, wenn auch nicht mehr so sehr wie früher. Wichtiger ist die bis heute wirksame Geringschätzung von säkularem Wissen, nicht zuletzt auch der Wissenschaften, gegenüber religiösem Wissen, die nach wie vor eine erfolgreiche Industrialisierung behindert. Das hat wiederum mit der fehlenden Trennung von Staat und Religion und dem Primat der Religion gegenüber allem Säkularen zu tun.

Was den Übergang zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft betrifft, wie er sich in den industriell geprägten nicht-islamischen Ländern seit Jahren vollzieht, bescheinigen Sie den islamischen Ländern in ihrem Buch eine noch düstere Zukunft. Wird ihnen dieser Modernisierungsschritt noch weniger gelingen als der Schritt in die Industriegesellschaft?

Das wird ganz schwierig, wenn man berücksichtigt, welche Konsequenzen die Geringschätzung oder gar Ablehnung von säkularem Wissen für eine Gesellschaft hat, in der Bildung und Wissen, das sogenannte Humankapital, zur wichtigsten Ressource geworden ist. Rund 25 Prozent der Menschen in den islamischen Ländern können weder lesen noch schreiben. Das hat tiefe historische Wurzel in der fehlenden Entwicklung eines modernen, säkularen Bildungssystems in den vom Islam dominierten Gebieten, wo der Koranunterricht die einzige Form der Bildung war, die wirklich florierte. Man erkennt diese Bildungsfeindlichkeit auch heute noch daran, daß jenseits religiöser Schriften nur wenige säkulare Bücher publiziert und noch weniger fremdsprachige Bücher in die Sprachen der islamischen Länder übersetzt werden. Dies wiederum schlägt sich darin nieder, daß mangels kognitiven Wissens kaum Erfindungen gemacht und Patente angemeldet werden.

Gründet diese mangelnde wirtschaftliche Modernisierungsfähigkeit dann nicht doch auch direkt in der islamischen Religion beziehungsweise im Koran?

Wenn der Islam als solcher modernisierungs- und fortschrittsfeindlich wäre, könnte man nicht erklären, warum in seiner Frühphase die islamischen Länder wirtschaftlich wie auch wissenschaftlich fortgeschrittener waren als die christlichen Länder. Das hatte gewiß auch damit zu tun, daß das Christentum zu dieser Zeit modernisierungsfeindlicher war als der Islam. Das Christentum hat sich davon aufgrund von Reformation und Aufklärung im Laufe der Jahrhunderte aber befreit und alle bisherigen Versuche eines fundamentalistischen Rollbacks, die es in einigen christlichen Ländern ja durchaus auch gibt, weitgehend vereitelt. Warum sollte man ein solches Potential dem Islam grundsätzlich absprechen, wohl wissend, daß der islamische Fundamentalismus derzeit noch nicht auf dem Rückmarsch ist?

Was müsste in den islamischen Ländern geschehen, damit sie aus der von Ihnen beschriebenen islamischen Krise herausfinden?

An erster Stelle steht die konsequente Trennung von Staat und Religion. Der Islam darf nicht weiter die Grundlage des Staatswesens sein, sondern muß zur Privatsache werden. Damit rüttelt man aber an den Grundfesten der politischen Verfasstheit und des Selbstverständnisses vieler islamischer Länder, an denen noch nicht einmal die Aktivisten des „arabischen Frühlings“ zu rütteln gewagt haben. Hinzu kommt die Erhöhung der Erwerbsquote von Frauen sowie die Förderung und der Ausbau der säkularen Bildung, ohne die wirtschaftlicher Wandel und Fortschritt nicht möglich sind. Meine Hoffnung ist, daß zunehmend mehr Menschen in den islamischen Ländern erkennen, daß der Weg des Fundamentalismus ein Irrweg ist, der ihnen weder Freiheit noch Wohlstand bringt und sie deswegen eine Modernisierung ihrer Religion erzwingen. Ich bin auch recht sicher, daß dies so kommen wird; ich weiß nur nicht wann. Die Geschichte lehrt jedenfalls, daß autoritäre Systeme, die, wie zum Beispiel der sowjetische Kommunismus, der Mehrheit der Bevölkerung keinen Wohlstand bringen, sich auf Dauer nicht halten können.

In ihrem Buch finden sich wenig empirische Belege, die dafür sprechen, daß sich ihre Hoffnung in absehbarer Zeit realisieren wird. Bleibt vor diesem Hintergrund den Menschen in den islamischen Ländern, die sich nach mehr Freiheit und Wohlstand sehnen, gar nichts anderes übrig, als auszuwandern und ihr Glück in den nicht-islamischen Ländern zu suchen?

Nach der derzeitigen Lage der Dinge wird der Migrationsdruck aus den islamischen Ländern Richtung Europa weiter zunehmen. Dabei spielen auch die hohen Geburtenraten in diesen Ländern eine wichtige Rolle. Sie führen in Verbindung mit dem geringen wirtschaftlichen Wachstum dazu, daß immer mehr junge Männer keine Aussicht auf Arbeit haben. Das führt wiederum dazu, daß sie nicht heiraten können und deswegen auch keine sexuellen Beziehungen zu Frauen aufbauen können, die im Islam, wie einst auch im Christentum, nach wie vor nur innerhalb der Ehe erlaubt sind. Die Verzweiflung ist bei diesen Menschen in manchen Ländern inzwischen so groß, daß uns in Interviews, die wir im Rahmen eines Forschungsprojekts in Westafrika geführt haben, von jungen Männern gesagt wurde, daß sie das Risiko, auf ihrem Weg Richtung Europa ums Leben zu kommen, auf jeden Fall eingehen wollen, obwohl es ihrer Meinung nach etwa fünfzig Prozent beträgt. Tatsächlich liegt es statistisch weitaus niedriger. Das heißt, diese Menschen sind sich der Risiken, die sie mit ihrer Flucht vor der Perspektivlosigkeit in ihren Ländern eingehen, durchaus bewußt und überschätzen sie sogar deutlich. Trotzdem wollen und werden sie sich aber auf den Weg Richtung Europa machen.

Das von ihnen beschriebene „Verfallene Haus des Islam“ beeinträchtigt somit keineswegs nur das Leben in den islamischen, sondern tangiert auch weiterhin das Leben in den nicht-islamischen Ländern.

Ja, und dort kann das Zusammenleben zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen auf Dauer auch nur gut funktionieren, wenn es gelingt, den Islam in seiner heutigen fundamentalistischen Ausprägung zu reformieren und zu einer reinen Privatangelegenheit aller gläubigen Muslime zu machen. Ohne dies wird ihre Integration in Europa scheitern.

Herr Koopmans, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.


Ruud Koopmans: Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt, München 2020, C.H. Beck

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