Tichys Einblick
Grüne Rumpelstilzchen

Wie Herzkönigin Baerbock einmal kein Sachbuch schrieb

Egal, was noch kommt: die Grünen haben sich an Annalena Baerbock gebunden – jene Frau, die ihren Kanzlerinnenwahlkampf fast im Alleingang ruiniert. Ihr könnte gelingen, was sonst niemand schafft: die Grünen zu erledigen.

picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Über mehrere Tage sah es so aus, als wäre die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Charlotte Alma Baerbock aus der Öffentlichkeit verschwunden. Es sprachen ziemlich viele Debattenteilnehmer über sie, vor allem über ihr Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“. Aber zwischen dem 25. Juni und dem 1. Juli twitterte die Bewerberin um das Kanzleramt nichts. Auf ihrer Seite annalena-baerbock.de stammt der letzte Eintrag vom 24. Juni, die Wiedergabe eine Bundestagsrede, in der sie von „ersten Schocks“ sprach (gemeint waren „externe Schocks“), außerdem führte sie dort die Wortkreationen „Freiheitskitt“ und „Fenster of Opportunity“  ein.

Interviews mit der Kanzlerkandidatin gab es auch über eine längere Zeit nicht. Ihr Schweigen überraschte die Beobachter umso mehr, als es in ihrem Kandidatinnendrama bisher nicht um klassische politische Krisen geht, sondern um ihre höchstpersönlichen Angelegenheiten: Erst um ihren aufgebrezelten und dutzendfach korrekturbedürftigen Lebenslauf, als nächstes um ihre nichtgemeldeten Nebeneinkünfte. Und dann nach gleichem Muster, Scheibe für Scheibe, um eine kopierte Stelle nach der anderen in dem Buch mit ihrem Namen auf dem Deckblatt. 

In ihrer Schweigephase fiel die Nachricht noch ein bisschen mehr ins Gewicht, dass nicht sie zum ZDF-Sommerinterview am 8. August geht, sondern Robert Habeck. Für ein paar Tage, im Bundestagswahlkampf eine lange Zeit, sah es also so aus, als würde ein Beraterteam mit oder vielleicht schon ohne Baerbock an einem halbwegs geordneten Rückzug arbeiten. Die Praxis, aus irgendetwas auszusteigen, beherrschen die Grünen ja durchaus. (Wobei maliziöse ältere Männer wahrscheinlich anfügen würden, dass sie bisher immer nur für den Ausstieg aus Techniken trommelten, die funktionieren.)

Um ihren Rückzug medial abzusichern, hätten die Grünen unter anderem auf den Text einer Autorin vom April 2021 zurückgreifen können. Darin hieß es: 

„Frauen vorzuziehen, weil sie Frauen sind, kann aus feministischer Sicht kontraproduktiv sein, wenn ihnen die Qualifikation fehlt. Es wäre so, als würde man eine Chirurgin kurz nach ihrer Fachärztinausbildung gleich zur Chefärztin befördern oder eine junge Pilotin zur Lufthansa-Chefin.“

Der Artikel stammt, wie gesagt, von einer Autorin, er stand im Grünen-Begleitblatt Taz und erschien sechs Tage vor der Ausrufung Baerbocks als Kanzleramtsbewerberin.

Soviel ganz nebenbei zu dem Propagandadreh von den rechten Männern, die wegen einer grünen Kanzlerkandidatin um ihre Privilegien zittern. 

Was auch immer in der Mehrtagespause Ende Juni in der Grünen-Zentrale passierte – es führte jedenfalls nicht zu einem Rückzug der Sorte, die ganz früher Frontbegradigung hieß. Das Window of Opportunity ist also wieder dicht. Am 1. Juli saß Baerbock auf dem Sofa des Brigitte-Talk, um sich zu verteidigen. Und ihre Verteidigung fügte sich perfekt – schließlich handelt es sich um eine Perfektionistin –  in ihre Kommunikation seit April ein. Die wortwörtlichen und nicht als Zitate gekennzeichneten Übernahmen aus allen möglichen Quellen in ihrem Buch erledigte sie bei Brigitte mit dem einigermaßen überraschenden Satz: „Ich habe kein Sachbuch geschrieben oder so, sondern das, was ich mit diesem Land machen will, und die Welt beschrieben, wie sie ist anhand von Fakten und Realitäten.“ 

Ganz nebenbei: „Was ich mit diesem Land machen will“ oder „Ich habe die Welt beschrieben, wie sie ist“ wären entschieden zugkräftigere Titel gewesen als „Jetzt“. Dass es sich nicht um ein Sachbuch handelt, entspricht etwa ihrer flexiblen Anpassung, sie habe doch keinen Bachelor in Politikwissenschaften, und sie sei vielleicht doch keine Völkerrechtlerin. Denn bei ihrer Buchvorstellung klang die Einordnung noch anders. Dort meinte sie auf die entsprechende Frage, was „Jetzt“ denn sei, Sachbuch oder Autobiografie: „Beides“. 

Grünen-Generalsekretär Michael Kellner sagte zu Baerbocks Verteidigung im Deutschlandfunk: „Es ist eben keine wissenschaftliche Arbeit, sondern es ist ein Sachbuch (…)“

Was soll die Mischung aus Grünenprogrammatik, zusammenkopiertem Zettelkasten und eingestreuten Familienanekdoten auch sonst sein? Belletristik? Vielleicht wollte Baerbock, die ja öfter eigentlich etwas anderes sagen will, mitteilen, sie hätte keine wissenschaftliche Arbeit beziehungsweise kein Fachbuch verfasst. In ihrer Argumentation schafft sie ein ganz neues Verständnis von geistigem Eigentum: Weil ihr Buch keine Fußnoten habe, sei es kein Sachbuch. Weil es kein Sachbuch ist, so ihre Beweisführung, durften sie beziehungsweise ihr Co-Autor Michael Ebmeyer sich unter anderem bei Wikipedia, der Bundeszentrale für Politische Bildung, dem US-Politikwissenschaftler Michael T. Klare, aus einem Interview mit der Ökonomin und Klimaaktivistin Maja Göpel und einem Gastbeitrag von Jürgen Trittin per copy und paste frei bedienen, wobei sie ab und zu ein Wort austauschten, einmal einen Genderstern setzten, und vor allem die Gedanken Göpels, Trittins und anderer als Baerbocks eigene intellektuelle Leistung ausgaben. Es ist nicht auszuschließen, dass sie tatsächlich glaubt, es wären ihre Gedanken. Jedenfalls tut ein anderer so:

Screenprint via Twitter / Bütikofer

Von dort aus schlug die Kanzlerkandidatin bei Brigitte den großen Bogen zur USA, denn Warnungen vor amerikanischen Verhältnissen ziehen bei einem bestimmten Publikum in Deutschland immer: 

Je länger sie auf der Bühne steht, desto mehr  fällt eine  Wahlverwandtschaft zwischen ihr und Guttenberg auf 

„Wir haben ja alle als Gesellschaft gesehen, was das in den USA gemacht hat, wenn der Wahlkampf nicht mehr über die großen Fragen unserer Zeit stattfindet, sondern dadurch, dass die Wahrheit und die Unwahrheit sich irgendwie vermischen.“

Wahrheit und Unwahrheit vermischen – das beschreibt exakt Baerbocks nun wirklich nicht geklauten, sondern ureigenen Politik- und Kommunikationsstil. Ob es nun um ihre Biografie geht: Als im Mai die ersten Anfragen kamen, ließ sie ihren Sprecher noch erklären, es seien „Falschinformationen“ über ihre Vita im Umlauf, wobei er allerdings nicht Baerbocks eigene Falschinformationen meinte, sondern die von irgendwelchen nichtgenannten Dunkelmännern. Oder um ihr Buch: erst Sachbuch, dann keins mehr, sondern ein Werk mit der Lizenz zum Plündern. Oder in ihren politischen Erklärungen: Am 11. März 2021 twitterte sie zum 10. Jahrestag des Atomunfalls von Fukushima von „vielen Menschen, die durch das Unglück ihr Leben verloren haben“. Tatsächlich gab es durch die Kernschmelze 2011 gar keine Toten, Jahre später, 2018, starb ein Tepco-Mitarbeiter an Krebs. Die Mär von den vielen Fukushima-Toten hatte schon Claudia Roth 2012 verbreitet, ihre Aussage dann aber korrigiert. Baerbock nahm nichts zurück. 

Nach diesem Muster behauptete sie auch im Juni in der Sendung „Was nun“, sie hätte einen „komprimierten Lebenslauf“ veröffentlichen lassen, dadurch seien möglicherweise ein paar Fehler entstanden. Jeder kann sehen, dass es sich gerade nicht um eine komprimierte, sondern um eine ridikül aufgeplusterte Vita handelte, inklusiver falscher Mitgliedschaften. In der Sendung von Sandra Maischberger, als ihr das mittlerweile legendäre Video eines NDR-Auftritts von ihr und Robert Habeck mit den Schlüsselsätzen „ich komme eher aus dem Völkerrecht“ und „Hühner, Schweine, ich weiß nicht was haste, Kühe melken“ vorgespielt wurde, behauptete sie, das Stück sei „zusammengeschnitten“, den Zuschauern sei also etwas wichtiges zu ihren Gunsten vorenthalten worden. In Wirklichkeit handelte es sich gar nicht um einen Zusammenschnitt. Diese Serie mit der Behauptung fortzusetzen, sie habe gar kein Sachbuch verfasst, also könnte sie auch gar nicht abgeschrieben haben – das spricht mindestens für Abgebrühtheit, eher für mehr. Möglicherweise unterscheidet Annalena Baerbock überhaupt nicht zwischen eigener Vorstellung und Realität. In der Psychologie gibt es dafür die Begriffe Pseudologie beziehungsweise Mythomanie. 

In ihren Auftritten blitzte außerdem noch ein anderer Charakterzug auf. Bei „Was nun“ erklärte sie, für ihren Wahlkampfstab seien viele neue Mitarbeiter angeheuert worden, da müsse sich noch einiges „zurechtruckeln“, was im Subtext so klang und so klingen sollte, als wären – wenn überhaupt – ihre ungeübten Helfer für ihre frisierte Biografie verantwortlich. Im Brigitte-Talk sagte sie über ihr Nichtsachbuch: „Ganz viele Ideen von anderen sind mit eingeflossen.“ Was zweifellos in Bezug auf die ganz vielen zusammenkopierten Passagen stimmt. Aber sie wollte offenbar suggerieren: Wenn etwas abgeschrieben wurde, dann war das Schreiberteam schuld. 

Diese Kombination aus Münchhausiade, Hochstapelei und der Bereitschaft, für eigene Fehler Mitarbeiter ohne Zögern vor den Bus zu stoßen, kommt einem irgendwie schon aus der Vergangenheit und im Zusammenhang mit einer anderen Person bekannt vor. In der sogenannten Kundus-Affäre behauptete der damalige  Bundesverteidigungsminister Freiherr zu Guttenberg 2010, sein Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhahn und sein Staatssekretär Peter Wichert hätten ihm einen entscheidenden Bericht zu dem Bombenangriff unterschlagen. Das bestritten beide. Guttenberg entließ sie. Der Öffentlichkeit war klar, dass eine Seite massiv lügen musste, entweder das Duo Schneiderhahn/Wichert oder der Minister. Ein Jahr später gewannen ziemlich viele eine Vorstellung davon, wer es wohl gewesen sein könnte. Je länger sich Baerbock auf der Bühne aufhält, desto mehr fällt ihre Wahlverwandtschaft mit dem Baron von damals auf. Wobei der Grünen allerdings der dünne Schmelz aus Weltläufigkeit und Charme fehlt, den Guttenberg sich zweifellos in mühevollster Kleinarbeit antrainiert hatte. 

Auf ihrer Webseite findet sich ein älterer Text Baerbocks über ihr Buch, in dem es noch nicht hieß, es seien ganz viele Ideen von anderen eingeflossen. Dort bewirbt sie ihre 240 Seiten in Gegenteil als ganz ureigene intime Schilderung ihres Leben und ihrer Gedanken: 

Screenprint / annalena-baerbock.de

In ihrem Nichtsachbuch –  ganz persönlich und voller Textstellen von anderen – tritt sie selbst nur spärlich auf. Ihr Vater, früherer Personalchef und dann Geschäftsführer bei dem Autozulieferer Wabco, bleibt praktisch unsichtbar. Dafür schildert sie ihre Großmutter ausführlich, Spätaussiedlerin und Putzfrau. Sie deutet auch an, ihre Großmutter sei vergewaltigt worden. Ausführlicher als ihr Vater kommt eine Schwester der Mutter vor, die 20 Jahre vor Baerbocks Geburt von der Straßenbahn überfahren wurde. Neben der aus vielerlei Quellen zusammengeleimten Weltschilderung – wer erinnert sich da nicht an Guttenbergs „e pluribus unum“? – fällt in „Jetzt“ auch ihr Versuch auf, etwas vom Leid anderer auf ihre eigene Biografie umzulenken, in der es zumindest vor ihrer Kanzlerkandidatur kein äußeres Drama gab, nur eben das für sie selbst unsichtbare Drama des unbegabten Kindes 

Selbst aus Sicht vieler Grünen-Anhänger gäbe es also gute Gründe, eine Frau mit diesen Persönlichkeitszügen nicht auf einem Regierungsposten zu wünschen. 

Viele Grüne können sich nicht vorstellen, dass ihr Wahlkampf ganz ohne Hintermänner und finstere Mächte schief geht

Statt auf den Rat der Taz-Autorin zu hören, entschied sich das Grünen-Establishment, die Fluchttür of Opportunity ganz fest zu verrammeln, um das ganze Stationendrama mit der Kandidatin auszukosten, mindestens bis zum Wahltag. Der Versuch der ersten, zweiten und dritten Reihe und Begleitjournalisten, eine Verschwörungstheorie über „Hintermänner“ (warum eigentlich keine Hinterpersonen?), rechte Kreise, „CDU-Influenzer“ und heimliche Finanziers in Umlauf zu bringen, zeigt, dass es sich bei weiten Teilen der Grünen eben doch eher um eine Sekte als eine Partei handelt. Zu Sekten gehört bekanntlich immer Paranoia. In dieser Truppe dominiert der Typus, der sich an der Litfaß-Säule festhält und ruft: „Ich bin eingemauert.“ In diesem Fall fühlen sich Grüne umstellt von dem Blogger Hadmut Danisch, dem Welt-Autor Rainer Meyer, dem FAZ-Redakteur Philip Plickert , dem österreichischen Publizisten Stefan Weber und vielleicht, da ich den Grünen auch schon im Mai Anfragen zu Biografie-Unstimmigkeiten der Kandidatin geschickt hatte, auch ein ganz kleines bisschen von dem Autor dieses Textes.

Von der London School of Economics, bei der ich nach Baerbocks Masterarbeit gefragt hatte, bekam ich übrigens die identische Antwort wie Weber, die Schule gebe nichts ohne Einwilligung des Betroffenen („not prior consent“) heraus. Früher oder später rutscht dieses höchstwahrscheinlich in mehreren Exemplaren existierende Exemplar vielleicht doch noch ins Licht. Jedenfalls: Einem Parteiapparat, der schon angesichts einer Handvoll sehr individueller Autoren hyperventiliert, möchte man das Regierungsgeschäft auch nicht anvertrauen. 

Wahrscheinlich können sich viele Grüne einfach nicht vorstellen, dass ihr Kanzlerinnenwahlkampf sich auch ganz ohne heimliche Mächte, Drahtzieher und Finanziers aus Russland und der Türkei in eine Farce verwandelt. Wäre der Kaiser aus Andersens Märchen ein Grüner: Er würde sofort anfangen, über die Hintermänner des Kindes zu spekulieren, das behauptet, er wäre nackt.

Dabei ist die Sache ziemlich einfach. Niemand hatte die Grünen gezwungen, überhaupt eine Kanzlerkandidatin oder einen Kandidaten auszurufen. Niemand zwang sie dazu, Baerbock zu nehmen. Niemand zog von außen die Strippen, damit die Mitarbeiter drinnen im Apparat im Verein mit Baerbock wochenlang daran scheiterten, ihre Biografie einigermaßen nachfragefest aufzuschreiben. Kein Finstermächtiger erteilte Baerbock und einem Schreiberteam den Auftrag, in fünf Wochen ein Buchsurrogat zusammenzunageln. Oder war es doch Putin? Vielleicht wissen ja T-Online-Journalisten mehr? Tipp: Irgendjemand beim Golfen anrufen, der auch nichts weiß, dann das Ganze Recherche oder Spurensuche nennen. 

Niemand zwang die Grünen, im Saarland die lustige Iryna Gaydukowa auf Platz zwei der Landesliste zu wählen, und dann die gesamte Liste vors Parteigericht zu bringen, weil sie statutenwidrig von einem Mann angeführt wird. 

Das alles hätte die Grünen nur dann nicht auf 19 Prozent geführt, wenn es so etwas wie eine Omertà sämtlicher deutschsprachiger Publizisten gäbe. 

Manchmal genügt eben eine einzige Figur, um eine Karambolage größeren Ausmaßes auszulösen. Dann zieht ein Unfall den nächsten nach sich wie am Schnürchen.

Wer die Klagen von Grünen-Politikern darüber liest, dass die Öffentlichkeit über ihre Kanzlerkandidatin reden will statt über den Klimawandel, der muss zu dem Schluss kommen: Den aus Sicht der Grünen idealen Wahlkampf gibt es erst dann, wenn die Grünen sowieso schon zu neunundneunzig Prozent herrschen. 

Im der Literatur gibt es bekanntlich das Phänomen, dass sich bestimmte Mächte – Rumpelstilzchen, die eitle Frau Königin mit dem Spiegel, die Herzkönigin bei Alice im Wunderland – weitgehend durch ihr eigenes Treiben erledigen. Wer die Augen schließt, kann in der Kandidatin problemlos etwas von der Herzkönigin erkennen, und in einem beleibten grünen EU-Abgeordneten den Wiedergänger von Rumpelstilz.  

Die wunderbare Kraft zur Selbstbekämpfung, die wirkt, während sonst kein Kraut gegen die Figuren gewachsen ist, diese Kraft könnte auch in den Grünen wohnen. 

Wie im Märchen braucht es dafür nur ein bisschen Geduld. 

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