Tichys Einblick
Bevölkerung gehört nicht zur Wirtschaft

Wie die EZB trickst und täuscht, um aus Katastrophen Erfolgsstorys zu machen

Wer den EZB_Wirtschaftsbericht nicht sehr genau liest, bekommt nicht mit, dass Lettland und Litauen leergelaufen sein könnten, bis der Aufholprozess abgeschlossen ist. Die letzten paar-tausend Dagebliebenen hätten dann ein Pro-Kopf-Einkommen auf EU-Niveau.

© Daniel Roland/AFP/Getty Images

Dank verbesserter Institutionen haben es die baltischen Staaten geschafft, auf beeindruckende Weise beim Pro-Kopf-Einkommen zur übrigen EU aufzuschließen, lobt die Europäische Zentralbank ausführlich in ihrem aktuellen „Wirtschaftsbericht“. Wer den Artikel nicht ganz genau liest, bekommt gar nicht mit, dass Lettland und Litauen leergelaufen sein könnten, bis der Aufholprozess abgeschlossen ist. Die letzten paar-tausend Dagebliebenen hätten dann ein Pro-Kopf-Einkommen auf EU-Niveau.

Zwei Zahlen zeigen wie kaum eine andere, wie katastrophal die letzten 12 Jahre für die baltischen Länder Lettland und Litauen waren. Ihre Bevölkerung ist durch Abwanderung vor allem der Jungen um 12 und 14 Prozent geschrumpft, seit sie 2004 der EU beigetreten sind. Das bedeutet, dass von den jungen Leuten wahrscheinlich weit mehr als jeder fünfte abgehauen ist. Die meisten wahrscheinlich auf Dauer.

Und so liest sich, in Aneinanderreihung aller fett hervorgehobenen Passagen der Bericht der EZB zu den Konvergenzerfolgen, gekürzt nur um ein paar unspektakuläre Passagen ohne viel Inhalt:

Es ist den baltischen Staaten gelungen, in den letzten 20 Jahren ein beeindruckendes Konvergenztempo in Richtung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens in der EU aufrechtzuerhalten. Einer der möglichen Gründe für die recht deutlichen Konvergenzerfolge der baltischen Staaten liegt in der stark verbesserten Qualität der Institutionen in diesen Ländern.
Die baltischen Staaten waren zu Beginn der globalen Krise im Jahr 2008 sehr anfällig. Zwar traf die Krise die baltischen Staaten schwer, doch die Ungleichgewichte wurden sehr schnell korrigiert. Nach dem abrupten Versiegen der Kapitalflüsse wurde die Leistungsbilanz in den baltischen Staaten frühzeitig angepasst. Der außenwirtschaftliche Anpassungsprozess der baltischen Staaten wurde durch eine schmerzhafte, aber wirkungsvolle interne Abwertung unterstützt. Diese vergleichsweise schnelle Anpassung in den baltischen Staaten wurde unter anderem auch durch eine starke anfängliche Erholung des Beschäftigungswachstums im Zuge einer Anpassung der Arbeitskosten ermöglicht.

Übersetzung:

„Interne Abwertung“ = drastische Lohnsenkung;
„Anpassung der Arbeitskosten“ = drastische Lohnsenkung;
„unter anderem auch“ = eigentlich vor allem durch etwas anders, das mit den Lohnkürzungen zu tun hat, das wir aber nicht betonen wollen.
anfängliche Erholung des Beschäftigungswachstums“ = die Erholung brach schnell ab, es erholte sich auch nur das Wachstum der Beschäftigung, nicht die Beschäftigung, und zwar von hohen Minusraten auf kleine Plusraten.

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Man muss schon sehr genau lesen, um würdigen zu können, mit welcher Rafinesse die EZB da im Einzelnen nichts Falsches sagt, um doch im Ganzen einen völlig verzerrten und falschen Eindruck zu erwecken. Es sei dazu erwähnt: Die Erholung des Beschäftigungswachstums gehört zu den wenigen genannten Faktoren, für die keinerlei Daten oder Grafiken geboten werden. Aus gutem Grund. Die Erholung war schwach. Die Beschäftigung war in Lettland und Litauen noch 2016 um knapp 15 und knapp 6 Prozent niedriger als 2007. Aber immerhin hatte die EZB durch ihre kunstvollen Formulierungen zum (angeblichen) Beschäftigungswachstum etwas, was sie fetten konnte, um von dem dahinter ganz kurz in magerer Schrift erwähnten Hauptgrund für die „Anpassung“ abzulenken. Weite Teile der Bevölkerung haben das Land verlassen.

Nach dieser kurzen Erwähnung ist das kleine Nebenproblem, dass die Länder leerlaufen, gleich wieder vergessen und wird nicht mehr erwähnt, auch nicht bei den „Herausforderungen“:

Mit Blick in die Zukunft sehen sich die baltischen Staaten einigen wirtschaftlichen Herausforderungen gegenüber:
1) In den vergangenen drei Jahren sind die Lohnstückkosten in den baltischen Staaten deutlich gestiegen, was auf eine allmähliche Erosion der Wettbewerbsfähigkeit hindeutet.
2) Die weltweite Erfahrung zeigt, dass es Ländern, die wie die baltischen Staaten nun auf einem mittleren Einkommensniveau liegen, in der Regel schwerfällt, weitere Konvergenzfortschritte zu erzielen und ein hohes Einkommensniveau zu erreichen.
3) Auf mittlere Sicht bleibt der Umgang mit Konjunkturschwankungen eine der größten Herausforderungen der baltischen Staaten.

Der Umgang mit Konjunkturschwankungen ist das größte Problem. Das Problem der massiven Bevölkerungsabwanderung und Überalterung ist dagegen so nebensächlich, dass es gar nicht mehr erwähnt werden muss. Aber vielleicht hilft es ja, wenn sich die Regierung mal wieder, wie von der EZB vorgeschlagen, auf alte Tugenden besinnt und die Löhne zusammenstreicht. Vielleicht hören die jungen Letten und Litauer dann ja auf, ihr Glück und einen Lohn, von dem man eine Familie ernähren kann, im Ausland zu suchen.

Vielleicht liegt die Nichterwähnung auch daran, dass die Bevölkerung als nicht zur Wirtschaft gehörend betrachtet wird. Ich kann das nicht ausschließen.

„Der Ökonom als Menschenfeind“, heißt ein schönes Büchlein aus den letzten Jahren, das ich jedem nur wärmstens zur Lektüre empfehlen kann.

[3.8.2017]

Änderungshinweis (4.8., 7:30 Uhr): In einer ersten Version hatte ich geschrieben, der Beschäftigungsrückgang gegenüber 2007 habe jeweils weit über zehn Prozent betragen. In Litauen waren es aber nur sechs Prozent.

Leserbrief: Ihre Beschreibung, dass die baltischen Staaten leerlaufen, erinnert mich an Karl Marx Beschreibung über die Zustände in Irland im 19. Jahrhundert. Man fand dort heraus, dass es rentabler war Schafe zu züchten als Ackerbau zu betreiben. Für die Schafzucht war nur ausreichend Weideland und weniger Personal notwendig, also musste man die überflüssigen Ackerbauern loswerden. Dabei kam den Kapitalisten die große Hungersnot in Irland gelegen. Innerhalb weniger Jahre reduzierte sich die Einwohnerzahl Irlands um rund 2,5 Millionen. Wie jetzt im Baltikum litt „die Wirtschaft“ darunter nicht. Menschen waren „unwichtig“.

Dieser Beitrag ist am 3. August zuerst hier erschienen.


Norbert Häring ist promovierter Volkswirt, Wirtschaftsjournalist und Mitgründer der World Economic Association. Sein als Pflichtlektüre hochgelobtes Werk Die Abschaffung des Bargelds und die Folgen. Der Weg in die totale Kontrolle ist in unserem Shop erhältlich: www.tichyseinblick.shop

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