Wer nicht jede Gelegenheit benutzt, um den Kapitalismus zu entlarven, was er für ein gewaltiger Schurke doch ist, weshalb er abgeschafft oder wenigstens reformiert gehört, kann keinen Anspruch auf eine blütenweiße moralische Weste erheben. „Erz-Kapitalisten“, wie der Gründer des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, oder der Hedge-Fonds-Milliardär Ray Dalio fordern die Reform des Kapitalismus, wie auch Wolfgang Schäuble meinte, dass wir es mit dem Kapitalismus etwas übertrieben hätten, während Greta Thunberg bei der Vorstellung ihres Readers Digest munter plauderte: „Den kapitalistischen Konsumismus und die Marktwirtschaft als dominierenden Verwalter der einzigen bekannten Zivilisation im Universum zu belassen, wird höchstwahrscheinlich im Rückblick als eine schreckliche Idee erscheinen.“ Denn dieses System sei: „definiert durch Kolonialismus, Imperialismus, Unterdrückung und Völkermord vom so genannten globalen Norden zur Anhäufung von Wohlstand, das immer noch unsere gegenwärtige Weltordnung bestimmt.“ Und die daraus resultierende „Nachhaltigkeitskrise“ habe ihre „Wurzeln in rassistischem, unterdrückerischem Extraktivismus, der Menschen und den Planeten ausbeute, um kurzfristigen Profit für wenige Glückliche zu maximieren.“ Auch Thunbergs deutsches Pendant Luisa M. Neubauer, verriet der Taz schon vor Jahren: „Menschen, die sich mit der Klimafrage beschäftigen, stellen irgendwann auch die kapitalistische Wirtschaftsweise infrage.“
Man könnte eigentlich, wenn man bedenkt, welch neuer Beliebtheit sich Karl Marx wieder erfreut, den berühmten Anfang des „Kommunistischen Manifests“ dahingehend paraphrasieren: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kapitalismus. Alle Mächte des alten Westens haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und das Weltwirtschaftsforum, Robert Habeck und Annalena Baerbock, der Hedgefonds-Milliardär Ray Dalio und die EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen, US-amerikanische Stiftungen und deutsche Publizisten. Wo ist die Oppositionspartei, die nicht von ihren regierenden Gegnern als rechts, als populistisch, als antidemokratisch und verschwörungstheoretisch verschrien worden wäre…
Allerorten, sei es bei den diversen Klimademos oder bei der Besetzung von Lützerath tauchen kommunistische Symbole auf, und auch der Sprecher der Grüne Jugend, Timon Dzienus, hat Lützerath zu seinem Abenteuerspielplatz erkoren, schneidet wie im zumindest gutgemeinten Laientheater eine ernste Miene, wozu er das geballte Fäustchen in Rot Front Manier in den trostlosen Lützerather Himmel hebt. Bunt ist hier nichts mehr, alles ist grau, grau wie die Ideologie, grau, kalt und zugig. Doch Rot Front ist zumindest in Lützerath zu Grün Front geworden. Und auch Marx ist, glaubt man dem Japaner Kohei Saito, der zum neuen Shooting Star ergrünter Ökonomie geworden ist, wieder da.
Einer der bekanntesten deutschen Kinofilmchen der neunziger Jahre hieß „Good by, Lenin“, doch der Abschied vom sozialistischen Totalitarismus war wohl etwas verfrüht eingeläutet und vor allem zu optimistisch. Zu tief waren die kommunistischen und marxistischen Träumereien in den geistigen Haushalt des westlichen juste milieu, der Derrida-Internationale eingedrungen, und hatten sich dort festgesetzt. Der lange Marsch durch die Institutionen gelang, die 68ziger und ihre Kinder hatten in Deutschland spätestens mit dem Historikerstreit 1985/86 die Diskursherrschaft errungen. Um Lebensstil, Ablass und Transzendenz stand es prächtig: man selbst lebte materiell von den Segnungen des kapitalistischen Systems, vom Überschuss, den die freie bzw. soziale Marktwirtschaft hervorbrachte, und metaphysisch von den Leuten im Osten, die nun einmal das Pech hatten, im kommunistischen Machtbereich leben zu müssen, aber dafür die bessere Welt verkörperten, um für den intakten Seelenhaushalt der Linksliberalen oder, wie man damals gern sagte, Kaviarlinken zu sorgen, indem sie einfach das System ertrugen. Der große Skandal trat ein, als die im Osten nicht mehr die Ablasssklaven des linken juste milieu sein wollten und sich erhoben. Aus war es mit der komfortablen Transzendenz der Himmelsrichtungen.
Es mag ihnen eine gewisse Pein bereitet haben, nicht mehr über Karl Marx oder über Lenin oder über Mao reden zu dürfen. Doch mit der Etablierung der Klimaapokalypse war die Idee gefunden. Übers Wetter schimpfen schließlich alle. Mit der Ersetzung des Klassenkampfes durch den Kampf gegen das CO-2 bot sich ihnen endlich die Möglichkeit, die große Transformation von einer sozialen Marktwirtschaft in eine ökologistische Kommandowirtschaft zu vollziehen, nur dass die sozialistische Gesellschaft nicht mehr sozialistische Gesellschaft, sondern nun klimaneutrale Gesellschaft heißt, so wie Marx eben ein grünes Hemd trägt.
Jacques Derrida, dem es bravourös gelungen war, Geschwätz dem Anschein tiefster Philosophie zu geben, hatte mit dem Dekonstruktivismus das Mittel zur intellektuellen Selbstzerstörung der westlichen Kultur all den guten und lieben Kindern des juste milieu in die Hand gegeben. Denn Derridas Dekonstruktivismus brachte einen Slang hervor, der alles zu dekonstruieren, zu zerstören ermöglichte. Wer das Wort Différance einigermaßen fehlerfrei über die Lippen brachte, galt als Philosoph, als tiefsinnig – und ging wie ein Kind aus guten Hause daran, Salon und Bibliothek der Eltern zu zerstören, um die Verdammten dieser Erde zu befreien.
Derrida nun schrieb 1993 ein wehmütiges, etwas kitschiges Buch mit dem Titel „Marx´ Gespenster“, in dem er sich als Hamlet sah und Marx als Hamlets Vaters Geist. So etwas geht, glaube ich, nur auf Französisch: „Ohne das wird es keine Zukunft geben. Nicht ohne Marx, ohne Marx keine Zukunft. Nicht ohne die Erinnerung an und an das Erbe von Marx“, jammerte Derrida. Im Grunde sprach Derrida den Linken und den Linksliberalen aus der Seele, wenn er schrieb: „Und dennoch, unter all den Versuchungen, denen ich heute werde widerstehen müssen, gibt es auch die der Erinnerung: zu erzählen, was das für mich und meine Generation gewesen ist, die Erfahrung des Marxismus, die wir ein ganzes Leben lang geteilt haben, die gleichsam väterliche Figur von Marx, seine Auseinandersetzung mit anderen Abstammungen in uns, die Lektüre der Texte und die Interpretation einer Welt, in der das marxistische Erbe absolut und durch und durch bestimmend war, noch ist und es bleiben wird. Man muss nicht Marxist oder Kommunist sein, um sich der Evidenz zu öffnen. Wir bewohnen alle eine Welt, manche würden sagen eine Kultur, die in unauslotbarer Tiefe, ob direkt sichtbar oder nicht, das Mal dieses Erbe bewahrt.“ Hier irrt sich Derrida. Wir bewohnen eben nicht alle eine Welt, diejenigen, die unter dem Marxismus leben mussten, bewohnten eine völlig andere Welt. Was schrieb Derrida nur für eine himmelschreiende Lüge: Moskau unter Breshnew war anders als Paris unter Giscard d’Estaing, Berlin West unter Momper anders als Berlin Ost unter Honecker. Und sicher unterscheidet sich die Erfahrung des marxistischen oder von Marx schwärmenden linkliberalen Professors in Paris, von dem Dissidenten im Gulag. Weil das Scheitern des Marxismus so offensichtlich, die Verbrechen so grausam waren, und der Marxismus so viel Leid, Folter und Mord verursachte, schwieg man nach 1989 eher über den Marxismus.
Doch in der clever entfachten Klimahysterie wagte man so peu a peu, sich wieder zum Marxismus zu bekennen, anfangs verschämt, indem man wie Mariana Mazzucato Polanyis Ladenhüter „Die große Transformation“ in leichtverständliche Worte übersetzte. Plötzlich spielte das Marxsche Krisentheorem, nach dem der Kapitalismus eine Krise nach der anderen produzieren würde, und er seine Krise nur beilegen konnte, in dem er eine noch größere auslöste, eine Hauptrolle im gesellschaftlichen Diskurs. Und die größte aller Krisen sei nun mal die Klimakrise, meinte nicht nur Mazzucato.
Genau an diesem Punkt wird deutlich, dass die Klimaideologie nur den Marxismus travestiert. Zieht man aus der Ideologie der Großen Transformation, aus der angeblichen Notwendigkeit, eine klimaneutrale Gesellschaft zu errichten, die Karte der Klimakrise heraus, dann fällt das ganze, pompöse Weltverbesserungskartenhaus der Grünen in sich zusammen.
Der Zirkelschluss die Klima-Ideologie ist deutlich: Der Kapitalismus schafft ständig neue Krisen. Die größte Krise ist die Klimakrise. Weil der Kapitalismus ständig Krisen erschafft, erschafft er auch die Klimakrise. Weil der Kapitalismus die Klimakrise erschafft, muss er überwunden werden, weil wir die Klimakrise nur überwinden, wenn wir den Kapitalismus überwinden. So schreibt Habecks wirtschaftswissenschaftliche Mentorin Mariana Mazzucato: „Um das Problem des Klimawandels zu lösen, bedarf es eines Wandels über die gesamte Wirtschaft hinweg. Öffentliche, private wie auch Akteure der Zivilgesellschaft müssen ihr Denken ändern….“ Oder wie Angela Merkel 2020 in Davos verkündete, dass wir zu völlig neuen Wertschöpfungsformen, also zu einer neuen Produktionsweise, mithin zu einer neuen Gesellschaft kommen müssen. Oder wie es Mazzucato schrieb: „Missionsorientiertes Denken auf unsere Zeit anzuwenden, bedarf nicht nur der Anpassung, sondern einer institutionellen Innovation, die neue Märkte zu schaffen und bestehende neu zu gestalten vermag.“
Die Wahrheit ist nur, dass nicht der Kapitalismus Krisen erzeugt, sonst hätte es vor dem Kapitalismus keine Krisen geben dürfen, sondern das Krisen zum menschlichen Leben, zu menschlichen Gesellschaften gehören.
Sieht man einmal davon ab, dass die Klimaindustrie inzwischen ein Milliardengeschäft ist und „Erz-Kapitalisten“ wohl auch den Sozialismus einführen würden, wenn die Gewinnmarge hoch genug ist, stellt sich die Frage, was den Marxismus wieder so attraktiv macht?
Hierauf gibt ungewollt Jacques Derrida im bereits erwähnten Buch von 1993 eine einfache Antwort: die Sehnsucht nach dem Marxismus „ist vielleicht eine bestimmte Erfahrung der emanzipatorischen Verheißung; das ist vielleicht sogar die Formalität eines strukturellen Messianismus….“.
Die religiöse Struktur und der messianische Charakter des Marxismus machen ihn wieder attraktiv, befriedigen ein metaphysisches Verlangen, das aber innerweltlich befriedigt werden soll. So schreibt Mariana Mazzucato „Die Mission einer grünen Wirtschaft verlangt – und verdient – nichts Geringeres als den Griff nach dem Mond.“
So wie der japanische Philosophieprofessor Kohei Saito derzeit gefeiert wird, wird deutlich, dass die Klimaneutralität nur das trojanische Pferd für die Rückkehr des Sozialismus, freilich in grüner Folklore darstellt. Kohei Saito gelang in seinem über den grünen Klee gelobten Buch „Natur gegen Kapital. Marx´ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus“ die späte Versöhnung von Marx mit der Ökologie, die Ersetzung der Idee des Klassenkampfes durch den Kampf gegen das C0-2. Kommt da wieder zusammen, was zusammen gehört?
Für Saito besteht der „Knotenpunkt des „roten“ und des „grünen“ Projektes im 21. Jahrhundert, über das uns Marx noch viel zu sagen hat“ in „der Beschränkung der versachlichten Macht des Kapitals“, um das Mensch-Natur-Verhältnis in eine nachhaltige Gestalt transformieren zu können.“ Damit formuliert er von marxistischer Seite und in marxistischen Termini das gleiche, was Habeck und Mazzucato auch vorhaben. Allerdings weist Saitos Darstellung drei fundamentale Mängel auf, erstens setzt er nicht nur den Begriff des Stoffs mit den der Natur gleich, sondern verwendet beide Begriffe zudem nicht im Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern im Sinne des beginnenden 21. Jahrhunderts, was anachronistisch zu einer ökologistischen Überformung des Marx´schen Denkens führt. Damit setzt er in einem Zirkelschluss voraus, was er erst begründen will. Zweitens werden die zumindest fragwürdigen Theorien über den Mehrwert und über den tendenziellen Fall der Profitrate als Dogma betrachtet, um drittens Natur und Arbeiter gleichzusetzen, die deshalb beide vom Kapital ausgebeutet werden. Der hochgelobte und gefeierte Star, der in Berlin an der Humboldt Universität promoviert wurde und der in Berlin eine Zeit lang an der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) mitgearbeitet hatte, hat ein theoretisch und philologisch erstaunlich schwaches Buch geschrieben, dennoch ist es überaus erfolgreich, weil es eine Lücke schließt, die zwischen Klimaideologie und marxistischem Messianismus.
Timon Dzienus hat einmal verkündet, dass coole Kids kein Vaterland hätten, das hatte Karl Marx vor nicht ganz zweihundert Jahren einmal so ausgedrückt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Auch der proletarische Internationalismus ist als ökologistischer Internationalismus zurückgehrt. Doch wie Marx bereits einmal bemerkte: alle historischen Ereignisse finden zweimal statt, das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.