Es war Samstag, 2. März gegen 16.00 Uhr, als ich vor dem Einschalten der Bundesligareportage auf Sky noch einmal kurz die letzten Facebook-Eintragungen durchzusehen begann. Das sollte sich im Rückblick als fataler Fehler erweisen, denn von diesem Moment an nahm mein Wochenende einen gegenüber meinen ursprünglichen Absichten total veränderten Verlauf. Ich stieß auf einen Post des Budni-Chefs Cord Wöhlke, der mich insofern fesselte, als ich wenige Minuten zuvor eine dazu passende Information über soziale Leistungen an Asylbewerber von einem Freund über WhatsApp erhalten hatte.
Cord Wöhlke hatte seinen Kommentar einem polemisch gestalteten Plakat mit der Überschrift „Denk mal darüber nach“ hinzugefügt, das Sabine Schmitt bereits am 9. Februar 2019 eingestellt hatte und er hatte es geteilt, wie es über 28.000 Facebook-Freunde vor ihm getan hatten. Im oberen Teil des Plakats sind die Namen einer Reihe totalitärer Staaten wie Nordkorea, Vietnam und Iran mit Hinweisen darauf aufgelistet, wie sie mit illegal zuwandernden Migranten umzugehen pflegen, aus europäischer Sicht mit durchaus Furcht einflößenden Abwehrprozeduren. Darunter ist das entsprechend der Willkommenskultur konzipierte deutsche Kontrastprogramm aufgeführt, ein umfängliches Menü sozialer Leistungen, das auf die Schnelle weder auf sachliche Richtigkeit noch auf Vollständigkeit überprüfbar war, das aber, so die offensichtliche Botschaft, an der deutschen Grenze im krassen Unterschied zu den brutalen Abwehrmaßnahmen in anderen Teilen der Welt für illegal zuwandernde Migranten wie selbstverständlich und daher auch mit einer gewissen Magnetwirkung bereitgehalten wird.
Der Kommentar von Cord Wöhlke zu diesem Bild war es, der mich ebenfalls veranlasste, es zu teilen: „Etwa ein Drittel unserer Bevölkerung kommt gerade mit ihrem Einkommen über die Runden und so entstehen solche Beiträge, auch darüber sollten die Eliten nachdenken.“
Aus der Sicht einer schleswig-holsteinischen Rentnerin, die nach Auskunft des dortigen Sozialministers Heiner Garg mit einer Durchschnittsrente von 651 Euro im Monat auskommen muss, und die möglicherweise auch Cord Wöhlke im Auge hatte, als er seinen Kommentar verfasste, muss es Unverständnis oder sogar Empörung auslösen, wenn sie von den kräftigen Zahlungen an die überwiegend kinderreichen Migrantenfamilien in ihrer Nachbarschaft hört. Hierzu hatte mir ein Freund wie oben erwähnt die Kopie eines Bewilligungsbescheids des Sozialamts der Stadt Heiligenhafen von Anfang Januar 2019 übersandt, das für eine Zuwandererfamilie mit sieben Kindern monatliche Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe von 3916,83 Euro ausweist, worin bekanntlich Mietkosten nicht enthalten sind, die im Wege einer ergänzenden Mietübernahmeregelung von den jeweils betroffenen Kommunen zu leisten sind.
Sollte die Rentnerin mit ihren monatlich 651 Euro gerade ihren Enkel zu Besuch haben, kann der ihr auf seinem iPhone im Handumdrehen ausrechnen, dass die staatlich erbrachte Versorgungsleistung für die Aslybewerberfamilie ergänzt um Mietkosten und Krankenversicherung ca. 5.000 Euro im Monat ausmacht, was einem Jahreseinkommen von 60.000 Euro entspricht, dem Geschäftsführergehalt in einem mittelständischen Unternehmen. Nehmen wir an, dass nur 100.000 Asylbewerberhaushalte einen solchen Monatsscheck regelmäßig beziehen (es ist allgemein bekannt, dass ca. ein bis zwei Millionen Migranten in den letzten drei Jahren zu uns ins Land gekommen sind), kommen wir auf stolze 6 Milliarden Euro, für die man die Rechnung weder beim lieben Gott noch bei Allah einreichen kann.
Alle diese bewusst ausführlich geschilderten Assoziationen müssen in den Hinterköpfen von Cord Wöhlke und mir, ohne dass wir uns darüber vorher oder nachher ausgetauscht hätten, in jenen Sekunden kognitiv zusammengewirkt haben, als wir beide – um einige Minuten zeitversetzt – auf das „Teilen“-Zeichen unter dem Plakatfoto von Sabine Schmitt tippten.
Was sich anschließend wie aus heiterem Himmel als eine Art digitales Gewitter über meinem Facebook-Freund und über mir auf dem zusätzlich per Querschuss eröffneten Nebenkriegsschauplatz im eher privaten Milieu auf WhatsApp entlud, muss man selbst erlebt haben, um die emotionale Urgewalt eines solchen „shit storms“ ermessen zu können.
Die Anfeindungen gingen überwiegend in die Richtung, dass wir rechtsradikales und fremdenfeindliches Gedankengut fördern würden, hartherzig gegenüber Flüchtlingen seien, Nordkorea, Vietnam und Venezuela zu politischen Vorbildern für die Behandlung von Migranten erklärten und dass wir uns mit dem Teilen des Bildes vor den Karren einer dumpfen AfD-Hetze spannen ließen. Mehrfach wurden die aufgeführten sozialen Leistungen für Migranten als Fake News bzw. als Propaganda der AfD abgetan.
Die meisten Einwürfe offenbarten ein hohes Maß an Uninformiertheit über die laufenden Migrationslasten sowohl direkter als auch indirekter Art. Ich stand unter dem Eindruck, dass die Diffamierungslust etlicher Diskutanten mit ihrem Wissensdefizit über Zusammenhänge des Migrationsproblems positiv korreliert war.
Verstörend war der Anspruch etlicher Diskutanten auf Meinungshoheit und moralische Selbstüberhöhung, indem sie sich eine Berechtigung zum „Framing“ darüber anmaßten, was man im Sinne der politischen Korrektheit zu diesem Thema noch sagen darf und was nicht.
Aus Gesprächen im Freundes- und Bekanntenkreis weiß ich, dass mein Erlebnis kein Einzelfall war, sondern dass das einseitige oder gegenseitige Diffamieren inzwischen zum Standard einer ziemlich aus dem Ruder gelaufenen gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden ist, die einen schwerwiegenden politischen Diskursdefekt in der Debattenkultur mit unabsehbaren Folgen für den inneren Frieden in diesem Land offenbart. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck nach wohl ähnlichen Erlebnissen sein Facebook-Account geschlossen hatte und dass auch in gewissen universitären Räumen der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung enge Schranken gesetzt sind.
Den Gründen dafür ist Peter Graf Kielmansegg in seinem vielbeachteten Zeitungsaufsatz „Über Migration reden“ (FAZ vom 4.2.2019) nachgegangen. Im Blick auf den zeitenwendenden Herbst 2015 prallen aus seiner Sicht Narrative, Einstellungen und Haltungen aufeinander, die einerseits darauf gerichtet sind, spontane, bedingungslose Bereitschaft zur Bekämpfung des Elends der Welt zu zeigen. Ihnen stehen Empfindungen tiefer Verstörung gegenüber, die angesichts des wachsenden demografischen Ungleichgewichts zwischen Europa und den Zuwanderungsregionen Nahost und Afrika „von einer Bedrohung des Eigenen durch ein nicht mehr kontrollierbares Hereindringen des Fremden“ getragen seien.
Stellt man beide Positionen derart pauschal gegenüber, erschließt sich nur allzu deutlich, dass massenhafte Zuwanderung, wie sie vorübergehend erlebt wurde und in Zukunft weiterhin befürchtet wird, wenig Ansatzpunkte für konsensuales Zueinanderfinden bietet. Erst wenn man differenzierte Beweggründe für das Entstehen dieser Positionen unter die Lupe nimmt, werden Perspektiven eröffnet, neben ihrer Unvermeidlichkeit Verständnis für das Warum der widerstrebenden Haltungen zu wecken, und damit die mentale Voraussetzung für das Aushalten unterschiedlicher Auffassungen geschaffen.
Ich füge den von Graf Kielmansegg aufgeführten Beweggründen für unterschiedliche Positionierungen in der Migrationsfrage eine weitere hinzu und nenne beispielhaft konkrete Fragestellungen, um den methodischen Ansatz zur leichteren Überbrückung gegensätzlicher Auffassungen deutlich zu machen:
1. Unterschiedliche normative Orientierungen
Hier stehen sich der globale Gleichheitsgrundsatz („alle Menschen der Welt haben Anspruch auf die Grundsicherung des deutschen Sozialstaates“) und das Prinzip der Solidargemeinschaft gegenüber, nachdem nur demjenigen Rechte auf Leistungen aus dem Sozialbudget zuerkannt werden, der vorher eingezahlt hat. Unter vernunftbegabten Kontrahenten sollte es in Bezug auf diese Unterfrage leichter fallen, zu einer einvernehmlichen Sichtweise zu kommen als zum pauschalen Dissenz „Weltoffenheit versus Fremdenfeindlichkeit“. Das gilt auch für die weiteren Punkte:
2. Unterschiedliche Interessen
Hier können die Befürchtungen von Geringverdienern, die mit massenhaftem Zuzug von bedürftigen Ausländern Engpässe am Wohnungsmarkt verbinden, in Gegensatz zu Immobilienbesitzern geraten, die aus der zusätzlichen Wohnraumnachfrage eine Steigerung ihres Profits mit der Wirkung genereller Mieterhöhungen anstreben.
3. Unterschiedliche Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse
Hier kommt die differenzierte Informiertheit der Menschen ins Spiel, die aus der Natur der Sache heraus zu unterschiedlichen Sichtweisen führt. Wer sich dauerhaft intensiv und aus unterschiedlichen Quellen informiert, weiß mehr über die Zusammenhänge und urteilt anders als derjenige, der allein auf die ihm per „Framing“ der öffentlich-rechtlichen Medien zugeteilten Informationen angewiesen ist; auch die Bundesregierung bedient sich in Migrationsfragen eher der Informationsverkürzung und dürfte insoweit zur Verunsicherung der Bürger und der daraus folgenden Verrohung des Debattenstils beitragen.
4. Unterschiedliche Erfahrungswelten
Hier können unendlich viele Alltagssituationen der vom Migrationsdesaster Betroffenen dem Unverständnis Nichtbetroffener gegenübergestellt werden, ob die dauerfrustrierten Nutzer des Öffentlichen Personennahverkehrs in den Ballungsräumen den wohltemperierten Limousinen der politischen Klasse im „Raumschiff Berlin“ oder die Erfahrungen Zugehöriger unterschiedlicher ethnischer bzw. religiöser Gruppen beim täglichen Aufeinandertreffen im öffentlichen Raum einschließlich der Schulen. Da kann es für das persönliche Wohlergehen nicht selten darauf ankommen, ob man der arabisch-muslimischen Minderheit angehört oder jüdischer Mitbürger ist. Wachsen arabische Muslime nicht selten in der Erfahrungswelt einer Parallelgesellschaft auf, für die der Antisemitismus noch immer identitätsstiftend ist, müssen sich nach dem Chefredakteur der „Jüdischen Rundschau“ Rafael Korenzecher „die Juden in Deutschland nicht wegen der AfD als Nichtjuden verkleiden“, das haben wegen der von ihnen „nahezu täglich ausgehenden Gewalt… die Muslime mit Duldung unserer linken Politik ganz allein und völlig ohne Hilfe der AfD fertiggebracht“.
Was folgt aus der Auffächerung dieser vielen Beweggründe, die zu unterschiedlichen Positionen in der Migrationsdebatte führen? Dass jeder einzelne aus seinen persönlichen normativen Orientierungen, Interessen, Einschätzungen der tatsächlichen Verhältnisse und seinen alltäglichen Erlebniswelten eine je eigene Sichtweise auf die Dinge der Welt entwickelt, die mit keiner Sichtweise irgendeines anderen deckungsgleich ist, es systemisch nicht sein kann. Daraus folgt weiter, dass jede je eigene Sichtweise, Auffassung oder Meinung das Prädikat der Einzigartigkeit besitzt und auch jede andere mit der auf ihren Beweggründen beruhenden Sichtweise eine eigene Einzigartigkeit für sich beanspruchen kann.
Der Erkenntnis, dass es denknotwendig keine zwei identischen Meinungen geben kann, sollte die Einsicht folgen, dass man sich darüber nicht die Köpfe einschlagen sollte. Statt dessen läge es näher, aus dem Befund der unabdingbaren Meinungsvielfalt die Chance zur Entwicklung einer neuen Debattenkultur abzuleiten, einer „Mode des neugierigen Fragens“ nach den unübersehbar vielen Unterschieden in den Beweggründen der Menschen, die sie zu ihren eigenen Sichtweisen bringen. Auf diesem Wege könnte es zu interessanten und spannenden Diskussionen zu sehr praktischen Fragestellungen kommen.
Etwa: entspricht es wirklich kluger Staatsführung, eine dauerhafte Massenzuwanderung von EU-Ausländern zuzulassen, von denen man weiß, dass der größte Teil die Kriterien geordneter Einwanderung nicht erfüllt, man sie aber dennoch duldet, mit langfristig untragbaren Folgen für die Sozialsysteme verbunden mit unzumutbarer Verengung des Wohnungsmarktes für einheimische Geringverdiener?
Oder: stellt es nicht eine missbräuchliche Ausnutzung der Religionsfreiheit dar, wenn vom Ausland geführte Islamverbände in ihren Koranschulen an tradierten antisemitischen Lehrinhalten mit der Folge festhalten, dass darunter jüdische Mitbürger zu leiden haben und dieser Missstand am Ende fälschlicherweise auch noch der einheimischen Bevölkerung angelastet wird?
Mit der Hinwendung zu derart konkreten Themen würde die unproduktive und mit hässlicher Begleitmusik geführte weltanschaulich-moralische Debatte über Weltoffenheit hie und Fremdenfeindlichkeit da auf die pragmatische Erörterung der auf den Nägel brennenden Alltagsprobleme heruntergebrochen werden nach dem Motto „Hilfsbereitschaft für das Elend der Welt soweit wie möglich, unter angemessener Wahrung eigener Interessen soweit wie nötig“.