Tichys Einblick
Befindlichkeit statt Wirklichkeit

Wie das Selbstbestimmungsgesetz die Realität neu definieren will

Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird nicht lediglich bürokratisches Prozedere verändert. Die Realität selbst wird frei modellierbar. Als Gesetz, das auf Wirklichkeit nicht reagiert, sondern sie definiert, wäre es Ausgangspunkt einer Entwicklung, die wir nicht abschätzen können: Wie weit kann Recht fragmentiert werden?

IMAGO

Über Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben, können wir nicht bestimmen. Eine Binsenweisheit, die auch für Selbstbestimmung gilt: Wohnort, Studienfach oder Ehepartner wählen wir weitgehend selbst; kein Mensch kann hingegen „bestimmen“, mit welchen Chromosomen und genetischen Anlagen er geboren wird. Für das Gesetz „über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag“, kurz SBGG, spielt dies indes keine Rolle: In Zukunft kann jeder, der eine Diskrepanz zwischen biologischem Geschlecht und eigener Wahrnehmung empfindet, durch Antrag beim Standesamt Namen und Geschlechtseintrag ändern, verbunden mit dem Anspruch, sich Urkunden neu ausstellen zu lassen.

Selbstbestimmungsgesetz
Lisa Paus und ihr Kampf gegen die Realität
Anders als in einem früheren Entwurf soll diese Änderung nach einer Frist von drei Monaten wirksam werden, sodann gilt eine Sperrfrist von einem Jahr. Diese soll leichtfertigen und auf kurzfristige Vorteile bedachten Anträgen vorbeugen. Statt, wie ursprünglich vorgesehen, alle zwölf, kann ein Bürger also alle fünfzehn Monate „entscheiden“, welchem Geschlecht er sich zugehörig fühlt. Gänzlich entfällt die Verpflichtung, psychologische oder sonstige Gutachten beizubringen; eine Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Anliegens unterbleibt. Lediglich eine Erklärung ist abzugeben, in der der Antragsteller versichert, sich der Bedeutung des Schrittes bewusst zu sein.

Damit ist das Selbstbestimmungsgesetz von grundsätzlich anderer Qualität als das Transsexuellengesetz, das die Änderung des Geschlechtseintrags bisher regelte, in Teilen aber vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft worden war. Dieses Gesetz sollte ausdrücklich „in besonderen Fällen“ greifen. Da Recht gewöhnlich objektiven Parametern verpflichtet ist, wurde der Ausnahmecharakter des TSG als Konzession an das subjektive Empfinden von Menschen mit tiefsitzender Geschlechtsidentitätsstörung klar gekennzeichnet.

Das neue Gesetz versteht sich hingegen nicht mehr als pragmatische Reaktion auf eine Ausnahmesituation, sondern als Maßnahme, um der Selbstbestimmung eines jeden gerecht zu werden. Die Ausnahme wird zur Normalität erklärt. Folgerichtig umfasst das Gesetz auch Kinder und Jugendliche. Anstatt diese zu schützen, werden sie in doppelter Weise ausgeliefert: Zwar können Jugendliche ab 14 Jahren nur mit Zustimmung der Eltern ihren Geschlechtseintrag ändern. Im Zweifel sollen jedoch Familiengerichte das Votum der Eltern aufheben können. Eine gefährliche Einschränkung elterlicher Autorität, haben Eltern doch oft kaum Zugriff auf das, was medial auf ihre Kinder einprasselt. Ein durch Peer Pressure oder Influencer beeinflusster Jugendlicher kann sich per Gerichtsentscheid dem schützenden Nein der Eltern entziehen.

Selbstbestimmungsgesetz
Die Ampel mauert, schweigt und unterdrückt kritische Stimmen
Für jüngere Kinder dagegen sieht das Gesetz vor, dass die Eltern über eine Änderung des Geschlechtseintrags befinden. Eine fatale Weichenstellung, die das Kindeswohl nachhaltig gefährdet. Durch den Transgenderhype und die damit einhergehende Stereotypisierung des Geschlechts könnten Eltern versucht sein, bereits den Griff des Kleinkinds zur Puppe statt zum Bagger als Signal zu werten. Bereits 2016 regte das Bundesfamilienministerium im Flyer „Ihr transgeschlechtliches Kind“ sogar ausdrücklich dazu an, als geschlechtsuntypisch empfundenes Verhalten entsprechend zu hinterfragen. In den USA macht der Fall von Jazz Jennings Schlagzeilen: Auf Betreiben der Mutter begann seine „Transition“, als er fünf Jahre alt war. Die spätere medikamentöse und schließlich operative Geschlechtsumwandlung wurde als Reality Show produziert und von der Familie medial ausgeschlachtet.

Sicher ein Extremfall. Dennoch: Eltern wird suggeriert, für die geschlechtliche Identität ihres Kleinkindes verantwortlich zu sein; Jugendlichen wird die Verantwortung dafür ausgerechnet während der von Unsicherheit geprägten Pubertät zugeschoben. So treibt das Gesetz einen Keil in die Familie, die sich gezwungen sehen kann, innerfamiliäre Konflikte vor Gericht austragen zu müssen. Dem Gesetzgeber scheint das Problem bewusst zu sein, beabsichtigt er doch, „in diesem Zusammenhang, die Beratungsangebote insbesondere für minderjährige Personen auszubauen und zu stärken.“, wie es im Referentenentwurf heißt. Welche Interessenverbände werden wohl für solche Beratung herangezogen werden?

Angesichts dessen erscheint der „Aufreger“, der dem Selbstbestimmungsgesetz im Frühjahr 2023 einige Aufmerksamkeit verschaffte, geradezu als Lappalie. Denn damals drehte sich alles lediglich um die Frauensauna: Es hatte die Befürchtung die Runde gemacht, dass biologische Männer durch das SBGG Zugang zu Frauen vorbehaltenen Räumen erwirken könnten. Obwohl auch der aktuelle Entwurf betont, dass das Hausrecht unberührt bleibe, ist die rechtliche Unsicherheit nicht ausgeräumt. Durchaus könnte die Anwendung des Hausrechtes einen Verstoß gegen das sogenannte Offenbarungsverbot konstituieren: Das Verbot, das biologische Geschlecht öffentlich zu machen. Zwar bezieht sich der Wortlaut des Gesetzes auf absichtliche Schädigung des Betroffenen durch die Offenlegung der früheren Identität; wann eine solche vorliegt, wird im konkreten Fall wohl Ansichtssache bzw. Sache der Gerichte sein. Gleichfalls vage bleibt der Hinweis, dass der Sport sich weiterhin eigenständig organisieren könne. Wie will man sich dort gegen etwaige Forderungen absichern?

„Selbstbestimmungsgesetz”
Schlachtfeld Frauensauna
Mit dem SBGG wird also nicht lediglich bürokratisches Prozedere verändert. Die Realität selbst wird frei modellierbar. Als Gesetz, das auf Wirklichkeit nicht reagiert, sondern sie definiert, wäre es Ausgangspunkt einer Entwicklung, die wir nicht abschätzen können: Wie weit kann Recht fragmentiert werden? Wir wissen es (noch) nicht: Warum sollte das Privileg, dass sich das Recht der eigenen Empfindung zu beugen habe, nur Menschen zustehen, die sich einem anderen als ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen?

Zu guter Letzt darf die Gefahr von Trittbrettfahrern nicht unterschätzt werden. Das ist keine Panikmache: In den USA und Großbritannien haben sich bereits mehrfach Sexualstraftäter mit Hinweis auf angebliche Transgeschlechtlichkeit in Frauengefängnisse verlegen lassen, um dort zum Teil wieder übergriffig zu werden. Regelmäßig hören wir von Sportlern, die Frauen den Rang ablaufen, nachdem sie im Männersport lediglich mittelmäßige Erfolge erzielten. Und nicht nur in Mexico gelangten Politiker nach ihrem Outing über die Frauenquote auf einen Listenplatz – dort schritten die Gerichte allerdings ein, um derart opportunes Verhalten zu unterbinden.

Praktisch privilegiert der vorliegende Gesetzentwurf also insbesondere Männer, die sich dem weiblichen Geschlecht zuordnen wollen – auf Kosten von Frauen, und von Kindern beiderlei Geschlechts. Angesichts dessen ist es legitim, zu fragen, ob man der Akzeptanz transgeschlechtlicher Menschen hier nicht einen Bärendienst erweist. Es steht zu befürchten, dass das Selbstbestimmungsgesetz den Graben zwischen Politik und Eliten einer- und der Gesamtbevölkerung andererseits vertieft, und Vorurteile und Misstrauen eher befördert denn ausräumt.

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